Es geht um die Wurst! Mit Vollbart und auf Pömps nach Armageddon
Wurst ist wieder in. Zum Leidwesen der Veggies und der anderen Vertreter der Salat- und Gemüsefraktion. Wurst mit Vollbart. Das Fleisch verarbeitende Gewerbe jubelt. Siehe unten. Conchita auf allen Kanälen, Conchita im Web, auf Youtube und Twitter, Conchita als mächtiges Rauschen im kontinentalen Blätterwald. Die Internetseite der Drag-Queen brach ob der Flut der Zugriffe kurzfristig zusammen. Der Travestie-Star aus dem Land der Nusser, der für Austerlitsch den Eurovision Song-Contest gewonnen hat, ist in diesen Tagen die personifizierte Headline. Aber der Hype legt sich sicher auch bald wieder.
Noch ist er aber in vollem Gange. Und inzwischen liegt, vom cholerischen fränkischen Fleischermeister Bembers eigens kreiert und kurzfristig in Sortiment aufgenommen, sogar Conchita Wurst-Wurst in der Kühltheke. Sieh aus wie Mortadella, schmeckt wie eingeschlafene Ohrläppchen mit Piercing und kostet 1,49 Euro je 100 Gramm. Darauf abgebildet: ein stilisiertes Porträt des geschlechtsvermischenden Männchenweibs aus Gmunden. Zutaten: Kalbfleisch, Schweinefleisch, Nitritpökelsalz und die üblichen, der Geschmacksverstärkung und Konservierung dienenden exotischen Pülverchen, von denen wir lieber nicht wissen wollen, was genau sich dahinter bzw. darin verbirgt. Wenn das Produkt weiter die Runde macht, bleibt Conchita in aller Munde – oder zumindest in vielen.
Doch das Ganze ist natürlich ein Gag, als virtueller Merchandise-Artikel erdacht und umgesetzt von einem anarchischen Witzbold und bekennenden Metal-Fan aus dem nördlichen Bayern, der seit einiger Zeit unter dem Pseudonym „Bembers“ (Hochdeutsch: Pampers) im Netz für Furore sorgt: „Ey des wor doch bloß a Schbass“. Die Youtube-Videos (www.youtube.com/user/BembersDE) des gelernten Grafikers, der seine wahre Identität nicht preisgeben mag, entwickelten sich zum Renner, mittlerweile hat der Mann sogar Fanclubs nicht nur in seiner Heimat, sondern auch in Berlin und in der Schweiz.
Es gibt die unterschiedlichsten Deutungen, warum jene Figur, die für die Mortadella Modell stand, den europäischen Musikantenstadl dominiert hat. Manche sehen darin sogar einen Triumpf der Toleranz gegenüber dem Andersein. Gott bewahre, sagen die homophoben Iwans und sehen das Ende des Kontinents gekommen, christliches Abendland inklusive. Armageddon ist nahe. Schrille Töne auch aus der Türkei und Weißrussland. Das ESC-Ergebnis illustriere „den vollständigen Kollaps der moralischen Werte in der Europäischen Union".
Europa sei offener, als viele glaubten, halten andere dagegen und schließen sich selbst da natürlich mit ein. Ob der, die oder das Wurst sei doch Wurst, also wurst-egal bzw. worschd- wuàschd. Aber wirkliche Toleranz zeigt sich wohl eher im realen Leben, tagtäglich im Umgang miteinander und nicht durch telefonische Stimmabgabe bei einem Wettstreit nach und ohne Noten.
Vielleicht war es aber doch lediglich ein Sieg der Show, und nicht der einer bestimmten Geisteshaltung. Das Bond-affine „Rise Like a Phoenix“ kam nun mal als bester und am perfektesten inszenierte Beitrag in dem von Mittelmäßigkeit beherrschten Liedchenreigen rüber. Gut, über Geschmack lässt sich halt immer streiten. Anteil am Erfolg gehabt haben dürften aber durchaus auch das clevere Marketing und die PR der Wurstfabrikanten. Aber: Tom Neuwirths mutiger und durchaus provokanter Streich war ja kein Novum. Bereits 1998 hatte beim ESC mit der israelischen Sängerin Dana ein Transsexueller die meisten Punkte einfahren können, und zwar ohne ihr Gender-Crossing so demonstrativ in den Vordergrund zu stellen.
Und wesentlich aufgeschlossener gegenüber vermeintlichen Außenseitern sowie Menschen, die den mehrheitlichen Vorstellungen von Normalität nicht entsprechen, ist unsere Welt seitdem ja wohl kaum geworden. Seit Kopenhagen erst Recht nicht. Den Lackmustest kann jeder selbst machen. Mal mit angemaltem Bart, Perücke und im Paillettenkleidchen auf High Heels ins Büro gehen oder durch die Fußgängerzone flanieren. Das kommt Freude auf. Wer traut sich?