Im Auf und Ab der Zeitgeschichte: Hans Jürgen Philipps schrieb die Biografie einer betrogenen Generation
Greifenstein-Beilstein - Der Beilsteiner Kurt Otto Philipps kann inzwischen auf 87 bewegte Lebensjahre zurück blicken und hat angesichts der Tatsache, dass sich, wie er selbst darlegt, der Kreis des Lebens zu schließen beginne, „meine innere Ruhe und meinen Frieden“ gefunden. Den Beruf, den er vor langer, langer Zeit einmal gelernt und ausgeübt hat, gibt es so längst nicht mehr: Schuster. Das mit den „bei seinen Leisten bleiben“ hat sich also damit erledigt. Philipps stand, wie viele seiner Generation, im Auf und Ab der Zeitgeschichte nicht selten mit dem Rücken zur Wand. Die Lebensverläufe dieser Jahrgänge waren geprägt durch Armut, Naziterror, Krieg, Gefangenschaft und Wiederaufbau. Insofern unterscheidet sich die Vita des Ortsteil-Greifensteiners nicht von der vieler anderer seiner Alterskohorte, ist in ihrem Verlauf auch nicht exzessiver oder außergewöhnlicher. Allerdings sind nicht mehr viele jener Zeitzeugen übrig, um gegebenenfalls berichten zu können.
Das hat ein Jüngerer übernommen. Auch ein Philipps, der Sohn. Er hat die Biografie seines „alten Herrn“ zu Papier ge- und damit zugleich den Beweis erbracht, dass Memoiren kein Themenfeld sind, das den Großkopferten vorbehalten sein muss, und bei denen das Pathos nicht selten über die Fakten obsiegt.
Weltgeschichte und Lokalkolorit
Nein, es sind gerade die oft bemühten „kleinen Leute“, an deren Lebenslinien sich Geschichte und gesellschaftliche Entwicklungsprozesse festmachen und verstehen lassen. Leute wie Philipps, in deren eigenem Lebenskosmos sich das große, ja mitunter auch globale Geschehen widerspiegelt.
Es sind die Erinnerungen einer betrogenen Generation, die der Sohnemann aufgeschrieben und in Form gebracht hat. Einer Generation, der man die Zukunft, die Illusionen und die Perspektiven genommen, die man auf den Schlachtfeldern geopfert und der man vieles verbaut hat. All das ist ja sattsam bekannt. Aber in Kontext des hiesigen, in diesem Fall Beilsteiner Lokalkolorits entwickeln diese weltgeschichtlichen Meilensteine eine besondere Eigendynamik. Herunter gebrochen auf die Örtlichkeit, fokussiert auf das Umfeld vor der eigenen Haustüre, erscheinen Ereignisse und historische Wegmarken wie unter einem Brennglas.
Pralles Sittengemälde
Und das ist die Stärke dieses Buchs. Geschichte wird erfahrbar, indem sie individuell aufbereitet wird, festgemacht am Empfinden einer realen Person, die zumindest in Beilstein selbst viele persönlich kennen, betrachtet aus deren eigenen, subjektiven Blickwinkel. Daraus entwickelt sich rein pralles Sittengemälde einer Zeit, die vielfach dunkel war, in der aber der Lichtschimmer der Hoffnung niemals ganz erlöschen konnte. Auch wenn es beispielsweise während der „Schlacht um Beilstein“ am 15. Juni 1933 ganz danach aussah, als der Nazi-Terror hier früh schon auf einen grausigen Höhepunkt zusteuerte, Menschen und vermeintliche Regimegegner verhaftet, misshandelt und eingesperrt wurden.
Das war die Zeit, in die Kurt Otto Philipps hinein geboren wurde, in der er aufwuchs, die ihn prägte, aber die auch sein Urteilsvermögen schärfte, zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse zu unterscheiden. Das Kind, der Bub, der Teenager, der Soldat, der Kriegsgefangene, der Heimkehrer, der Existenzgründer, der Bauherr, der Familienvater – all diese Stationen werden beschrieben, erläutert und analysiert. Das Leben besteht ja aus lauter Unvorhersehbarkeiten. Und die gab es auch im Hause Philipps zu Hauf. Die Kunst besteht ja gerade im Meistern des Unerwarteten. „Im Leben geht es nicht darum zu warten, dass das Unwetter vorbei zieht, sondern zu lernen, im Regen zu tanzen“, hat ein schlaues Kerlchen mal formuliert. Tanzen schon, aber dann mit den richtigen Leuten - und sich eben nicht, vielleicht aus Opportunismus, ins falsche Glied einreihen. Das hat Philipps auch nie getan, womit er sich nicht wenige Probleme einhandelte. Allein die Tatsache, dass er sich weigerte, in die NSDAP einzutreten, bescherte dem Mann und seiner Familie viel Ärger - durchaus auch von den lieben Mitmenschen ausgehend.
Zwischen Zeitgeist und Tradition
In leicht verständlichen, klar strukturierten Worten und Sätzen schildert Philipps Junior (61) linear die Lebensstory des Seniors. Und es geht nur vordergründig und nicht ausschließlich um eben diese Person, seinen Vater. Die geschilderten Verhältnisse sind für die Region allgemeingültig und geografisch durchaus übertragbar. Traditionen, Ansichten, Zeitgeist-Strömungen, Schul- und Arbeitsalltag, Feste, Feiern, Liebe, Freude und Trauer herrschten so oder zumindest ganz ähnlich auch in anderen Dörfern vor. Insofern ist es ein Lehrstück, das von und aus einer Zeit zeugt, die längst vorbei ist. Die Beschreibung einer dörflichen Kultur, die als solche heute nur noch in rudimentären Ansätzen existiert. Aber man kann ermessen und versteht, warum die Generation der Väter so tickt, wie sie tickt, was sie geprägt und beeinflusst hat. Das trägt wesentlich zum Verständnis von Positionen, Überzeugungen und Einstellungen bei und macht sie nachvollziehbar.
Das reichlich bebilderte Buch mit dem Titel „Harte Jahre, schwere Zeit“ ist ein Zeitdokument, interessant, spannend, kurzweilig. Drüber stehen könnte das Motto des hiesigen Heimat- und Geschichtsvereins: Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen um die Zukunft zu meistern. Die Lektüre ist im Eigenverlag erschienen und kostet 8,50 EUR. Die wären alles andere als eine Fehlinvestition. Zu beziehen ist das Buch direkt beim Autor (Auf der Wiese 10, 35753 Greifenstein-Beilstein) sowie im hiesigen Teeladen. Der größte Teil der Einnahmen ist für die Kriegsgräberfürsorge bestimmt.