Christian-Rauch-Schule, Bad Arolsen: Projektwoche 2009 - Bau eines "Umiak"

Foto: A. Erdmann

Von der Eiche bis zum Segelschiff
Es begann mit einem lauten Splittern und Krachen. Die gut 15 m hohe Eiche im Wald hinter dem Viehmarktgelände stürzte fast wie in Zeitlupe, wippte nochmals von einer benachbarten Kiefer im Sturz abgefangen zurück, als hätte sie sich die Sache anders überlegt, um endlich doch, krachend und splitternd, unter der Tonnenlast ihres eigenen Gewichtes im Unterholz aufzuschlagen.
Was folgte glich beinahe der Zerlegung einer Jagdbeute, denn als Schiffsbauer wollten die Schüler keine Riesenäste, sondern nur ein paar besondere Aststücke: Sie suchten stabile und genau im richtigen Winkel stehende Holzabschnitte, um später daraus den Steven zu zimmern, das sind die Bug und die Heckstücke eines Schiffes, die den Kiel verlängern.
Und so stürzten sich die Schüler auf das noch immer hoch aufragende Astwerk der am Boden liegenden Baumriesin, kletterten durchs Gezweig und schrien triumphierend, wenn sie ein passendes Stück entdeckt hatten. Die Säge kreischte, Späne flogen einem um die Ohren und im sicheren Abstand stand das Fernsehteam: die Drehbuch-Autorin der Jugendsendung „Fortsetzung folgt“ (KiKa), ein Kameramann mit der schweren Kamera in breitbeiniger Pose und ein Tontechniker mit dem Mikrofon am Stil.
Aber eigentlich hatte alles schon viel früher begonnen. Denn vor der Eiche war die Idee und vor der Idee war der Zweifel über die Realisierbarkeit dieser Idee.

Wenn mir vor drei Jahren jemand gesagt hätte, dass man mit Schülern ein Segelschiff bauen könnte, so ein echtes, großes, mit dem man dann eine Seereise unternimmt, dann hätte ich ihn traurig lächelnd angesehen und langsam, ganz langsam, beinahe behutsam nachgefragt?
An einer normalen staatlichen Schule? in Deutschland? mit gewöhnlichen Schülern? im Rahmen des Unterrichts?
Um dann noch sanfter weiterzusprechen, wie zu einem, der bedauerlicherweise zu lange in der Sonne gelegen hat. Ich hätte dem armen jedes Wort vorsichtig, gewissermaßen löffelweise, wie eine bittere Medizin, ins Bewusstsein gebracht: Lieber Freund, das System… der Leistungsdruck… die Lehrpläne… die Kosten… die Schulleitung… versicherungstechnisch….
Dann hätte ich ihm eine Tasse Kaffee eingegossen (mit drei Stück Zucker), hätte für ihn umgerührt und im Ton eines freundlichen aber unerbittlichen Aufklärers weitergesprochen: …die Kollegen … konservativ…starr…engstirnig…deutsche Beamte …stofforientiert…die Eltern…ängstlich… stammtischklüngelnd… telefontollwütig…Anwälte…
Zuletzt hätte ich dem seltsamen Menschen fürsorglich mein halbes Pausenbrot zugesteckt und ihm die letzten Illusionen genommen (gegen pädagogischen Pegasus hilft eben nur rationale Rosskur). …Wunschdenken… Schwärmerei…Kuschelpädagogik… utopisch… Luftschloss- Projekt.......
Der Boden der Tatsachen wäre nach diesem Bombardement wieder sichtbar geworden. In den Bombentrichtern der Banalität hätten die Flammen noch gelodert und den Schatten der Segelschiff-Idee ins Gespenstische verzerrt.
Vor dem Café stehend hätte ich ihm zum Abschied freundschaftlich die eine Hand auf die Schulter gelegt, mit der andern in den grauen Himmel gezeigt und gesagt: Schau hin. Das ist die Wirklichkeit. Der Himmel über unseren Schulen und in unseren Köpfen ist klein, grau und eng.

Mittlerweile bin ich zu dem Schluss gekommen, dass der Himmel über unserer Schule ziemlich weit ist und die Köpfe und Herzen der Schüler, Eltern und Lehrer relativ offen sind. Wer das Gegenteil behauptet, der sollte ganz sicher gehen, ob er gegen echten Widerstand anrennt oder nur gegen das Brett vorm eigenen Kopf.
Niemand holte mich als idealistischen Projektleiter auf diesen Boden der Tatsachen zurück, wenngleich die Schulleitung einige Rahmenrichtlinien beachtet wissen wollte, und niemand machte mir Schwierigkeiten. Allerdings war da eine gewisse, zwar wohlwollende aber doch spürbare Skepsis, nachdem das letzte Projekt (Kon Twiki) etwas viel “Tiefgang” hatte. “Nu, baun Sie schon wieder ein Wasserfahrzeug…? Wenn ich diese Worte mit dem leicht ironischen Tonfall dechiffrierte, so bedeuteten sie soviel wie: Da haben wir nun ihre Marotte, ihren netten Spleen, Bootchen bauen und Kapitän spielen. Tja, auch Studienräte haben als Kind gebadet und der ein oder andere will nie aus der Badewanne aussteigen… Ich holte dann innerlich jedes Mal weit aus, um zu erklären, dass es mir gar nicht um Nautik oder Wassersport gehe, sondern um die echte Herausforderung. Dass es egal sei, was man baue oder leiste, wenn es nur von Schülern und Lehrern verlangt, dass sie über sich hinaus wachsen, unter der Käseglocke hervor. Dass ich es als unwürdig empfände, wie man pubertierende Jugendliche dazu zwingt stundenlang, tagelang, jahrelang stillzusitzen und Lernstoff zu bemeistern und zuzusehen wie sie naturgemäß kaum Sinn noch Orientierung oder wirkliche Freude empfinden. Wie sich stattdessen die innere Unzufriedenheit in Konflikten und Mobbing entlädt und oft in einer totalen Anti-Haltung (Lernen nur unter Zwang) oder in einer unreflektierten Anpassung (Lernen für den Lehrer) endet. Und wie wir Lehrer dann nicht selten schulterzuckend den Hormonen die Schuld für störendes Verhalten geben. Die Hormoncocktails sind natürlich, unsere Lernfabrik ist es nicht.
Dazu holte ich innerlich aus und – schluckte es herunter.

Das Segelschiff-Projekt war nicht mehr und nicht weniger als der Versuch einer für viele Schüler relativ sinnfreien Lernwelt etwas entgegenzusetzen. Hierzu bedarf es eines kleinen Einschubs: Fragen Sie einmal eine Gruppe von Gymnasiasten, warum sie lernen und sich anstrengen. Die Mehrzahl erklärt ihnen, dass sie das wegen der besseren Jobs tun, die man mit dem Abitur bekommt. Kurz: Die Schule ist ein Sprungbrett für später. Und ein Sprungbrett, tja, das ist demnach nur dazu da, um schnell davon wegzukommen. Eine absurde Einstellung für einen Ort, an dem man folgerichtig acht Jahre auf der Stelle tritt, weil man keine echten Ziele und Wünsche darin verwirklicht sieht.

Hier hieß es: Schülern ein anderes Lernen aufzeigen, indem sie ihrem Alter entsprechend nicht nur Wissen konsumierten und reproduzierten, sondern ihr Wissen praktisch nutzten und anwenden konnten. Wo sie ihrem Alter entsprechend eigenverantwortlich Aufgaben erfüllen mussten, nicht für die Klassenarbeit, sondern für ein konkretes Ziel, ein handfestes Ergebnis, in diesem Fall: ein eigenes Schiff. Wo sie (jedem Alter entsprechend) eine Chance auf ein Erfolgserlebnis, eine Chance auf ein sich Beweisen hatten und sich nicht künstlich produzieren und aufblähen mussten. Wo noch dazu schnell klar wurde, dass dieses Ziel nicht erreicht würde, wenn jeder nur als Einzelkämpfer stur vor sich hin werkelte, nach dem Motto: Mein Ruder ist fertig, kann ich jetzt Pause machen? Wo stattdessen allmählich auch dem Letzten klar wurde, dass hier gemeinsam gearbeitet, geschwitzt, gegessen, gelacht und (notfalls) geflucht wurde. Mancher, der in der Schule vielleicht als “schwacher” Schüler eingestuft wird, bewies besondere Talente, z. B. im Austüfteln von Strategien, um ein Problem mit “Köpfchen” zu lösen oder als Organisationstalent. Einige Schüler, die ich als still oder schüchtern in Erinnerung hatte, zeigten in der veränderten Lernumgebung viel mehr Selbstbewusstsein oder Konzentrationsfähigkeit. Natürlich kam es auch hier zu Unfug oder Streit, aber die gemeinsame Sache motivierte dermaßen, dass niemand “aussteigen” wollte. Zwei ausgeprägte Individualisten beispielsweise, die meinten “niemals mit dem zusammen arbeiten zu können, niemals, nie!” schafften es erst zähneknirschend und dann Schritt für Schritt nur noch Zähne bleckend eine hervorragende Arbeit zu erbringen, nachdem man ihnen klar gemacht hatte, dass sie beide an dieser Stelle wirklich gebraucht werden, dass da kein Weg vorbeiführt und dass sie ihren Streit ernsthaft und nicht kindisch führen sollen. Irgendwann sah ich sie (ausversehen?) zusammen lachen, wobei man ja glücklicherweise auch (beim Lachen) die Zähne zeigen kann.
In den ersten Treffen vor der Projektwoche (ab dem 9. 9. 2009 wöchentlich) gab es einen durchaus normalen Frontalunterricht vom Bootsbauer. Mithilfe großer Wandpläne hörten die Schüler so seltsame Begriffe wie Steven, Spanten, Senten, Dollen, Riemen… Vokabeln, die sie lernen und sich einprägen mussten, um mit diesem Bootsbau-Latein jede später zu leistende Arbeit auch ausdrücken zu können. Dann überlegten die Schüler selbst, wie dieses Projekt zu organisieren sei. Auf der Suche nach Sponsoren lief im Gegensatz zum letzten Projekt nicht der Lehrer durch Bad Arolsen, von einer Firma zur nächsten, von einer Bank zur andern, sondern die Schüler trugen ihre Sache selbst vor. In kleinen Gruppen übten sie, ihr Anliegen zu formulieren, machten selbst Termine aus und zogen zu unseren potenziellen “Mäzenen”: der Waldecker Bank, Essex, Hewi, dem Lions Club und dem Förderverein der Schule. Geld fällt nicht vom Himmel, das war die Botschaft, die sie wenigstens annähern begreifen sollten. Und dazu kam vielleicht auch die Einsicht, dass sie als Bad Arolser Schüler von ehemaligen (Bad Arolser)-Schülern unter die Arme gegriffen bekommen. Dass also unsere Schule keine geschlossene Anstalt ist, sondern ein Lernort, der - wenn er sich mit einem ernsthaften Projekt nach außen öffnet, dort auch Unterstützung und Ermutigung findet.

Am Ende unterstützten uns so viele Leute, dass die Liste unübersichtlich geworden ist: Dienstleistungen wurden unentgeltlich erbracht, Materialspenden kamen hinzu oder das Material wurde uns vielfach vergünstigt überlassen, Fahrzeuge wurden umsonst geliehen, die gefällte Eiche wurde gespendet, der Abtransport geschah umsonst usw. (siehe detaillierte Liste am Ende des Artikels). Hierfür sei im Namen aller Bootsbauer ein herzlicher Dank ausgesprochen, sowohl für das Budget als auch für den Vorschuss an Vertrauen.
Von nun an trafen wir uns in Volkmarsen, wo Herr Dippel, Förster und Bootsbauer, seine Werkstatt hat. Dort begannen die Schüler mit dem Bau von 14 Riemen (Rudern) ihre handwerklichen Fähigkeiten zu erweitern. Japan-Säge, Stichsäge, Hobel, Schäleisen, Pinsel und Leim, Schleifpapier und stellenweise Elektrohobel, das war das Arsenal, mit dem gearbeitet wurde. Und obwohl die Hobelspäne nur so flogen: Es dauerte seine Zeit, bis die Gestalt des Ruders sichtbar wurde. Man konnte nichts hinschludern oder abschauen: Jeder musste konzentriert arbeiten und jede Unachtsamkeit konnte die völlige Untauglichkeit des mühsam Angefertigten bedeuten. Zudem waren alle Werkzeuge höllisch scharf geschliffen, was noch mehr Ernsthaftigkeit und Verantwortungsgefühl verlangte. Mathematisches Denken war bei den vorzunehmenden Abmessungen unverzichtbar.
Man konnte in vielen Gesichtern der Siebt- und Achtklässler ein besonderes Strahlen aufleuchten sehen, wenn die Schüler das durch eigene Kraft und Geschicklichkeit bearbeitete Ruder vorzeigten. Wenn einer nach vielen Stunden Arbeit das feine Schmirgelpapier bei Seite legte, die Sägespäne wegpustete, mit dem Auge prüfte, nochmals mit der Handfläche den nun schmeichelglatten runden Stiel umfasste und mit den Fingerkuppen über die beinahe scharfe Schneide des Ruderblattes fuhr, da spürte der ein oder andere, dass er mehr gemacht hatte, als eine kopflose Schufterei. Er hatte etwas Schönes und Elegantes geschaffen. Und wenn er hundert Jahre alt wird: Ein Ruder wird ein Schüler dieses Projekts immer mit einem verständigen Blick ansehen.
Nun begann der Bau des Bootskörpers: Was beim Menschen das Rückrad ist, das ist bei einem Umiak der Kiel. Er stabilisiert und richtet aus. Und von ihm gehen, wie beim menschlichen Brustkorb auch, die relativ dünnen und deshalb flexiblen Rippen aus. Anders als ein gewöhnliches Ruderboot, das aus aneinandergefügten Planken besteht, wirkt der Bootskörper deshalb beinahe zerbrechlich, filigran. Und in der Tat schafft erst die Einheit von Kiel, Rippen und Spanten ein hochseetaugliches Schiff. (Die Spanten verlaufen parallel zum Kiel.) Zu beiden Seiten hockten nun die Schüler und schnürten die Spanten mit den Rippen an den vielen hundert Schnittstellen zusammen. Wer keine Handschuhe hatte oder nicht geschickt genug mit dem Partner arbeitete, der bekam die ein oder andere Blase vom Festzurren und stramm halten. Kein einziger Nagel? Zapfen statt Schrauben? (Schrauben nur vorläufig.) Und dann diese Schnürungen? - Dahinter verbirgt sich das uralte Prinzip: Was starr ist, muss brechen. Was biegsam ist, kann nachgeben. Ein Boot das nachgibt? Das klingt philosophisch aber nicht vertrauenerweckend, wenn man die Kraft großer Wellen kennt und dazu die Tiefe und Kälte mancher Gewässer nimmt. Philosophie, Biologie und Physik sind hier keine „Fächer“, sondern greifbar: Ein mächtiger Aufprall (z. B. von einem Felsen) würde nicht an einem Punkt durchschlagen. Stattdessen würde die Energie abgeleitet, weitergeleitet, der gesamte Körper würde sich für wenige Augenblicke verbiegen, an hundert Bindungen minimal verrutschen und nachgeben, um dann wieder in seine Form zurückzugleiten.

Liste der am Projekt beteiligten Schüler:
7. Klasse: Kira Weißenfeld, Nicole Kräger, Jens Vering, Rouven Bracht, Hannah Sadler, Pia Schmidt, Hanna Gerhold, Patrick Mähl, Pascal Teppe, Julian Diele, Moritz Raude, Fabian Unnewehr, Sven Rohleder, Nils Hofmann, Julian Diele, Stipe Lokas, Jan-Phillip Ottmar, Thomas Meesters, Patrick Keil, Lennard Schmidt.
8. Klasse: Thomas Kräger, Sabrina Wende, Ann-Sophie Beyers.
9. Klasse: Larissa Flamme, Florian Eckert, Björn Westphal, Dominik Vollbracht

Liste der Sponsoren, Unterstützer und Helfer:
Zuerst seien die Mütter genannt, die mitten in der Baustelle leckeres Essen gezaubert haben. Überhaupt sei den Eltern für unzählige Shuttle-Dienste und eigenes Anpacken gedankt.

Sponsoren: Den Löwenanteil der Spendensumme trug die Waldecker Bank, großes Dankeschön.

Weitere großzügige Spenden erhielten wir von: HEWI, ESSEX, dem Lions Club, der Waldeckischen Dominial-verwaltung und (ganz wichtig) vom Förderverein unserer Schule.

Dazu kam weitere Unterstützung von: der Stadt Bad Arolsen: eine Eiche, der Waldeckischen Domanialverwaltung: 4 Forstwirtstunden zum Fällen der Eiche, Fa. Stracke: Holztransport ins Sägewerk, Fa. Landau in Mengeringhausen: kostenloser Einschnitt der Eiche in Bretter, Fa. Gelberg + Hesse in Volkmarsen: Kostenfreie Benutzung der Maschinen zum Einschnitt in Leisten, Fa. Sadema, Volkmarsen: stark reduzierte Werkstattmiete (statt 650 € nur 100 €), Fa. Güde, Wolfhagen: Transportanhänger kostenfrei zur Verfügung gestellt, Fa. Raulf, Külte: Zugfahrzeug mit Fahrer kostenfrei zur Verfügung gestellt, Wassersportverein Wetterburg: kostenfreie Einlagerung des Schiffes über den Winter…

Besonderer Dank gilt der ganzen Familie Dippel: Für die tatkräftige Unterstützung vor allem durch Claudia und Andreas.

A. Erdmann

Fortsetzung folgt: „Logbuch“, das von vier der Bootbauer regelmäßig geführt wurde und in einem gesonderten Artikel – leicht gekürzt – nachzulesen ist.

Weitere Informationen zum Förderverein der Christian-Rauch-Schule findest Du hier

Bürgerreporter:in:

Heidrun Preiß aus Bad Arolsen

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