Warum ich ganz gewöhnliche Leute mag
Immer wieder höre ich einen Satz wie ‚Ich könnte Dir Geschichten erzählen’ oder ‚Ich könnte ein Buch darüber schreiben. Eines, nein, viele.’
In der Regeln kommen auf eine konkrete Anfrage hin die Antwort: ‚Das glaubst Du eh nicht’.
Die redeselige Natur äußert sich differenzierter, um sich gleich in die richtige Ebene zu rücken. Komischerweise wird dabei immer ein Film zitiert. Der Rosenkrieg, Kevin allein zu Haus oder Cap der Angst seien nichts dagegen, höre ich dann als Antwort.
Je nachdem, ob es sich um die gerade aktuell stattfindende Scheidung, um einen Krankenhausaufenthalt oder um einen neu zugezogenen Nachbarn handelt (dessen Sohn Schlagzeuger werden will). Beendet werden diese Bekenntnisse aber grundsätzlich immer mit ‚Na, und? Was meinst Du?’.
Dann sitze ich da und muss mich in der Form des höflichen Interesses üben und manchmal auch etwas Erstaunen beimischen und denke mir, ob diese drei oder fünf Sätze wirklich für ein Buch reichen würden. Als Antwort begnüge ich mich mit einem leicht verwegenen ‚Das ist ja nicht zu glauben.’
Ein einziges Mal habe ich unverschämter weise nachgefragt, ob das alles sei. Die Entrüstung, die mir entgegenschlug, war aufrichtig. Ich habe ihn dann folgerichtig auch nie wieder getroffen.
So bleibt es mir überlassen, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Menschen manche Erfahrungen in ihrer Vorstellungswelt gerne zu Edelsteinen verdichten. So wie aus gewöhnlichem Kohlenstoff Diamanten werden. Wobei der Prozess hierbei jedoch von einer gewissen Intensität gekennzeichnet ist, die ich bei den genannten Vergleichen schon vermisse. Und warum die Marotte nicht verschwindet, mit Dreizeilern ganze Bücher anzukündigen, die ungeschrieben und ungelesen in der kollektiven Erinnerung der menschlichen Bestimmung ein Schattendasein führen müssen?
Ich glaube allmählich, dass es an der allgemeinen Verwegenheit liegt, neues zu wagen. Ja, das unvoreingenomme Entdeckertum oder die Selbstfindungshysterie greifen um sich. Das ist seit Daniel Kübelböck nicht mehr peinlich und gemessen an der Brillanz eines Theodor Guttenberg fast schon notwendig.
Jeder heutzutage, den ich treffe, ist jemand der gegen den Strom schwimmt oder etwas ganz besonderes entdeckt hat, macht oder vorhat.
Erst letztens musste ich feststellen, als ich wieder einmal meine Tochter von der Schule abholen durfte, dass wir nur noch von Hochbegabten umgeben sind. Die Mütter dieser Schüler stehen in kleinen Gruppen herum und zerpflücken, je nach Gruppe, den Mathematiklehrer, den Sportlehrer oder, für diejenigen Mütter, denen das Überspringen einer Klasse zu wenig ist und gleich zwei fordern: den Direktor und das Ministerium. Sie haben alle etwas besonderes, sie wissen nämlich über jeden Bescheid und wissen genau, was eigentlich zu tun wäre. Wie Eunuchen.
Und sie haben mächtige Probleme. Probleme, die ihre Kinder auch haben, denn sie müssen ja ständig gegen den Strom schwimmen. Gegen die Langeweile und gegen die angepassten Streber. Gegen die Abschaffung der Biomilch und für eine doppelwandige Sicherung der Augen gegen das PC-Flimmern. Kampf ohne Ende. In der Tat schaffen es die Kinder auch, alle Figuren von Hannah Montana aufzusagen und in Tausendern zu rechnen.
Und die Mütter kämpfen gegen die allgemeine Verständnislosigkeit, das Gewicht und gegen Falten. Also gegen alles, was sie bei etwas Nachdenken darüber tatsächlich weiterbringen müsste.
„Was haben die alle bloß?“ fragte meine Tochter an diesem Tag.
„Keine Ahnung. Früher gab’ s das nicht. Hochbegabte.“....
„Bei uns sind alle Hochbegabt. Vor allem Marc-Kevin.“
„Komisch. Früher gab‘ s nur die, die abgeschrieben haben und die, von denen man abschreibt. Wie ist das heute?“
„Keine Ahnung, aber Marc-Kevin schreibt immer von mir ab.“
„Wo ist er denn.“
„Der ist heute nicht da. Den hat ein Hängebauchschwein gebissen.“
Damit wurde mir der tiefere Sinn der Hochbegabung deutlich. Ich bin froh, dass ich nie dazugehört habe und dass auch von mir immer abgeschrieben wurde. Eines Tages werde ich ein Buch schreiben, über ganz gewöhnliche Leute. Über die, die nicht die Zeit dazu haben, gegen den Strom zu schwimmen, weil wir am Ende ohnehin alle ins Meer gespült werden. Ein Hängebauchschwein als zentrale Figur, das hat einen gewissen Reiz. Eines, das vor lauter Hochbegabung nur in Tausendern, nein: in Milliarden, rechnet. Dass es am Ende Plus und Minus nicht auseinaderhalten kann, hat dann auch keine Bedeutung mehr. Vielleicht mache ich es zu einem Bänker.
Bürgerreporter:in:Dario Chissono aus Augsburg |
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