Von verschlüsselten Nachrichten und missverständlichen Botschaften
Schon mal in letzter Zeit einen Brief geschrieben? So mit der Hand, meine ich, mit Füllfederhalter, Briefpapier und vielleicht sogar einem Siegel? Nein? Wissen Sie überhaupt denn noch, was ein Brief ist? Und damit meine ich nicht die täglichen Rechnungen und Mahnungen, die es in den Briefkasten hagelt, und die man am liebsten ungelesen zerreißen möchte. Ich denke da eher an duftendes Papier, das mit Wasserzeichen und Rosen geschmückt jene unvergleichliche Zeilen trägt, die Ihr Herz in Aufruhe stürzen, wie es nur ein Liebesbrief zu tun vermag. Doch die Magie des Briefes ist nahezu so unbeachtet aus unserem Leben verschwunden, wie es die Liebe tat: leise und ohne zu klagen.
Heute schreibt sich kein Mensch mehr Briefe. Wir alle telefonieren wahnsinnig gern – vor allem die Frauen und die Japaner – und verschicken SMS, E-Mails und E-Karten. Wir hacken Widersprüche und Bewerbungen beharrlich in die Tastatur unserer Laptops und reproduzieren Firmenlogos im 4-farb-off-set-Druck – früher hätte man wohl eher einen Maler dafür bezahlt, um ein Familienwappen zu entwerfen. Und selbst ich, die ich für mein Leben gern schreibe, selbst wenn es nur die wöchentliche Einkaufsliste ist, habe neulich bei einer Prüfung mit Erschrecken feststellen müssen, dass ich nicht nur ohne Word rechtschreibtechnisch hin und wieder in Schwierigkeiten gerate, sondern sogar meine eigene Schrift nicht mehr lesen kann. Dabei hatte ich ja mal Schönschrift als Unterrichtsfach an der Schule – Gott, ist das lange her!
Fast so lange, wie der letzte Liebesbrief, den ich bekommen habe.
Heutzutage kann man nicht nur Abo-Kündigungen und Steuererklärungen per mail erledigen, man kann auch vom Handy aus Wetten abschließen und an Gewinnspielen teilnehmen. Es gibt nur noch wenige Existenznischen für gute alte Handarbeit – und das scheinbar nicht nur wenn es darum geht, Schuhe zu reparieren oder Madonnenfiguren zu schnitzen. Reporter machen sich keine Notizen mehr – sie halten dem Promi gleich den Recorder unter die Nase, statt Pergament gibt es Touchscreen und statt Feder – einen LCD-Pen. Und selbst wenn man dann per Digi-Daten-Strom die ersehnte Botschaft endlich bekommt, muss es noch lange nicht heißen, dass man sie auch versteht. Und ich spreche nicht davon, dass in den meisten Kurznachrichten nicht mal die Spur von Grammatik überlebt hat, sondern dass ganze Wörter scheinbar neu erfunden und manch alte dafür bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt werden. Die SMS, die ich erst gestern bekommen habe, hatte beispielsweise folgenden Text für mich parat: "abend cool, morgen futter? see & miss u".
??? Was heißt das??? "Draußen ist es kalt, ich habe Hunger und weiß nicht, wo all die anderen Buchstaben verloren gegangen sind"? Was muss ich noch alles erleben? Muss ich jetzt Morse-Alphabet lernen, um mit meinem Nachbarn zu kommunizieren?
Also, ich weiß nicht… Vielleicht bin ich einfach nur altmodisch, aber ich möchte nach wie vor auf die handgeschriebenen Zeilen nicht verzichten, auch wenn es nur ein "geklautes" Gedicht von Heinrich Heine ist, weil der Absender beim letzten Date kein Wort rausgebracht hat. Ich weiß nicht warum, aber ich erinnere mich kaum an die genaue Zahl dieser "unsere Lebensvorstellungen sind leider nicht dieselben…"-SMS, aber ich kann mich noch sehr genau an einen Brief voller zerlaufener Tintenzeilen erinnern, als der Junge – in den ich damals mit 16 unsterblich verliebt war – mit mir darin Schluss gemacht hat. Ich habe den Brief sogar aufgehoben und seit vielen Jahren ruht dieses Beweisstück der ersten ernsthaften Enttäuschung in einem Schuhkarton auf dem Dachboden zwischen all den anderen Erinnerungen, vergilbten Fotos und schlechten Schulzeugnissen. Und jedes Mal, wenn an verschneiten, kalten Winterabenden mich die Nostalgie mal wieder überfällt, sitze ich gern zwischen all diesen Teilen meines Lebens, halte die knisternden Seiten in den Händen und es ist alles wieder genauso wie damals: frisch, lebendig und echt. Wenn ich noch Rachegelüste nähren würde, könnte ich immer noch vom Umschlag seine Fingerabdrücke nehmen und irgendeine Gemeinheit damit veranstalten. Das geht mit einer SMS natürlich nicht – und das ist sehr, sehr enttäuschend, möchte ich anmerken!
Aber auch wenn man sich nicht nur an schmerzhafte Abschiede, sondern vor allem an wunderschöne Momente im Leben erinnern möchte, kann ein Brief das Andenken am besten behalten – und es lebt dann genauso wie das Papier selbst.
Manchmal, aber selten, schafft es ein Mann, eine wortgewaltige elektronische Botschaft zu versenden, die das Herz einer Frau zum Schmelzen bringt. Schön. Und dann? Soll ich nun mit meinem Laptop ins Bett gehen, ihn unter das Kissen stopfen und daran schnuppern, damit ich schöner träumen kann oder den Text in den nächsten drei Wochen auswendig lernen, bevor mein Handyvertrag ausläuft, die SIM-Karte gesperrt und der Speicher gelöscht wird? Lächerlich! Aber genau das würde jede normale Frau tun, wenn sie einen romantischen Liebesbrief bekommen würde: sie würde es nicht mehr weglegen, es mehrmals am Tag lesen, unter ihrer Matratze verstecken und die ganze Nacht davon träumen, dass es seine Hände waren, die dieselben Seiten nur Stunden zuvor hielten, um an sie eine einzigartige, unverwechselbare Botschaft der Liebe zu schicken. Und das alles ganz ohne Würmer und Trojaner.
Aber so wie es jetzt aussieht … Die Arbeitslosenquote in Deutschland ist in Wirklichkeit doppelt so hoch, wenn man auch die pensionierten Brieftauben mitzählt, "Montblanc" plant seine Produktionsanlagen nach China zu verlegen, weil dort die Kunst der Kaligraphie wenigstens noch als Zeichen des gesellschaftlichen Status interpretiert wird und nicht als erstes Anzeichen für geistige Vergreisung, wie es mittlerweile in Europa der Fall ist. Und das Problem betrifft keineswegs nur die deutsche Kultur – es ist in der Tat ein die Grenzen und Sprachen ganz und gar übergreifendes Problem.
Neulich auf dem Weg zur Arbeit saß ich im Bus und las. Mich auf "Das Erbe der Geisha" zu konzentrieren, fiel mir allerdings recht schwer: hinter mir führten zwei Mädels und drei Jungs, die noch vor wenigen Jahren ihre Windeln voll machten – sie müssten so zwischen 14 und 16 gewesen sein, heutzutage weiß man es aber nie so genau –, eine sehr heiße Diskussion um eine Nachricht, die die Freundin der einen der Schwester von dem Typen der anderen gegeben hatte, damit diese wiederum die Nachricht per mail in die Bretagne schicken kann, an einen Franzosen Namens Jean, weil das Mädel, also die Freundin und Autorin, Computerverbot von ihren Eltern bekam – sie ist am Wochenende mal wieder im "Peaches" "abgestürzt" und ist deswegen erst morgens um drei daheim aufgetaucht. Nein, ich werde jetzt keine Moralpredigt halten – ich werde beim Thema bleiben, denn es kommt noch besser!
Die Nachricht (man beachte: ein grünes Postet, auf den hastig mit stumpfem Bleistift einige Zeilen gekritzelt wurden!) war auf Französisch (klar, Jean wohnt ja auch dort!) und doch offensichtlich nicht in der Sprache von Balzac und Hugo: denn die Clique diskutierte bereits seit einer halben Stunde über Rechtschreibung, Grammatik und vor allem über Semantik dieser Pseudo-Erklärung – ja, es ging um Liebe, denn was sollte ein deutsches Mädchen denn sonst an einen Franzosen schreiben? Doch was genau? Bis eines der Mädchen trocken die Debatte mit einem Satz beendete, der mir ein gar teuflisches Grinsen ins Gesicht trieb: "Egal, er ist schon seit drei Monaten mit ihr zusammen. Er wird ihre Dummheit schon verstehen."
Ich möchte an dieser Stelle noch zwei Sachen anfügen: erstens, ich habe in diesem Moment nur schwer der Versuchung widerstehen können, aufzuspringen und die Kleine abzuknutschen. Und zweitens: lieber Benedict, bitte, lerne Briefe schreiben!
Sonst wird es nie was mit uns beiden.
Herzlich,
Ihre Sophia Sommer
Bürgerreporter:in:Sophia Sommer aus Augsburg |
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