Das rabenschwarze Gewand
Welch ein Auflauf! Die Leute sind ganz außer sich. Sie laufen zusammen, so als gäbe es etwas um- sonst. Da kommt ein Mensch auf einem Esel in die Stadt geritten, begleitet von seinen Freunden. Das ist doch nichts Besonderes. Nichts was diesen Auflauf rechtfertigt. Und doch – selbst die Vögel des Himmels, die Blumen am Weg und die stolzen, starken Bäume haben sich anstecken lassen. Die Vögel begleiten den Zug. In riesigen Schwärmen eskortieren sie die kleine Schar. Die Blumen leuchten und strahlen heute besonders, so, als wollten sie den Weg illuminieren. Ja und die Bäume, sie recken ihre Äste in den Himmel, als wollten sie die Sterne herunterholen. Bei näherem Hinsehen glaubst du, sie würden mit ihren Ästen hoch und runter wippen, als wären es Arme. Alles ist heute anders in Jerusalem. Die Menschen breiten in Ekstase ihre Kleider aus. Die Palmen werfen die untersten Wedel ab und die Leute legen daraus und aus ihren Kleidern einen Teppich auf die Straße, auf den Kinder Blumen streuen. Das alles geschieht, damit der Schmutz der Straße nicht einmal an den Hufen des Esels haften bleibt. So bewegt sich dieser seltsame Zug in die Stadt. Vor einem Haus mit einem Großen Saal hält er an. Die Männer gehen hinein. Nur langsam zerstreuen sich die Menschen, und die Vögel lassen sich in einem nahen Ölgarten auf den Olivenbäumen nieder.
Im Saal halten die Männer Mahl. Es ist ein Abschiedsmahl. Denn der, welcher auf dem Esel in die Stadt ritt, verabschiedet sich von seinen Freunden. Als es dunkel wird, geht er mit ihnen hinaus in den Garten. In leise Gespräche vertieft wandeln sie durch den Garten. Dann zieht sich ihr Anführer in eine stille Ecke zurück. Er möchte allein sein. Denn er muss sich auf einen bitteren Gang vorbereiten. Viel Zeit ist ihm nicht mehr gegönnt. Denn schon nahen die Großen der Stadt mit einer Schar Soldaten und nehmen ihn fest. Sie schleppen ihn vor den Richter. Er wird verurteilt.
Der Schein der Fackeln und der Lärm der Soldaten haben die Vögel geweckt. Verstört fliegen sie auf, verteilen sich über das Land und berichten was in der Stadt vorgegangen ist. Dann fliegen sie wieder zurück. Sie lassen sich auf dem Dach des Gerichtsgebäudes nieder und verfolgen alles was unten im Hof geschieht. Als die Soldaten den Verurteilten hinaus zur Richtstätte führen, wird der Zug von den Vögeln in schwarzer Trauerkleidung eskortiert. Der Verurteilte wird gekreuzigt und stirbt. Als der Himmel sich dunkel färbt, als die Blitze zucken und der Donner rollt, fliegen die Vögel davon. Sie tragen diese schlimme Nachricht hinaus ins Land. Da verblasst das leuchtende Angesicht der Blumen und die Bäume lassen ihre Äste und Zweige vor Trauer schlaff herunterhängen. Trostlos liegt das Land da – trostlos an einem trostlosen Tag.
Doch die Vögel versammeln sich in einem Garten vor dem Höhlengrab, in welches der Leichnam gelegt wurde. Dieses wurde mit einem Rollstein fest verschlossen. Mitten in der Nacht wird der Platz vor dem Grab in ein helles Licht getaucht. Es ist so hell wie der Tag. Eine lichte Gestalt wälzt den Rollstein hinweg. Der Totgeglaubte aber erscheint in der Öffnung, licht wie der beginnende Morgen und kaum in dem strahlenden Glanz vor dem Grab zu erkennen. Kaum begreifen die Vögel, was sich da ereignet, da werfen sie eilends ihre Festtagsrobe über. Sie fliegen auf, verteilen sich in alle Richtungen, um dem ganzen Land die freudige Botschaft zu überbringen. Da erstrahlten die Blumen wieder in ihren leuchtendsten Farben. Die Bäume reckten ihre Äste wieder wie Arme lobpreisend in den strahlend blauen Himmel - alle Bäume, außer den Weiden am Jordan. Denn die Rabenvögel und die Amseln, welche ihnen die Botschaft überbringen sollten, hatten alles verschlafen. Gerade als das Licht verlöschte, erwachten die Elstern. Sie schafften es noch, ihren Bauch in ein strahlendes Weiß zu tauchen. Doch als die Amseln, die Krähen und Raben zur gewohnten Zeit erwachten, hörten sie zwar von den anderen Vögeln was geschehen war. Doch es gelang ihnen nicht, ihr Freudengewand überzustreifen. So flogen sie, in ihre schwarzen Trauerkutten gehüllt hinab zum Jordan, um den Weiden die frohe Botschaft zu überbringen. Als diese die Nachricht vernahmen, wollten sie ebenso wie die anderen Bäume, ihre Arme wieder freudig in den Himmel recken. Doch so sehr sie sich auch mühten, es gelang ihnen nicht. So tragen Amseln, Krähen und Raben bis auf den heutigen Tag ein tiefschwarzes Gewand und die Weiden vom Jordan und ihre Nachkommen sind zu Trauerweiden geworden.
Bürgerreporter:in:Ullrich Rockahr aus Wunstorf |
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