Anekdote oder Wahrheit: "Ein schlichter Held aus Hessen"?

Der folgende Text stammt aus dem "Althessischen Volkskalender" des Jahres 1896. Trotz intensiver Recherchen von Wilhelm Engel und mir, konnte bis heute nicht geklärt werden, ob es sich hierbei um einen Tatsachenbericht oder um eine Anekdote handelt. Auf jeden Fall ist er sehr unterhaltsam und auch lesenswert.

Einige Jahre nach dem zweiten Feldzuge gegen die Franzosen im Jahre 1815 kam aus London nach Hessen ein Packet, das eine ziemlich ansehnliche Geldsumme enthielt. Dasselbe war adressiert: „An den Kanonier Schmeck, ehemaligen Freiwilligen bei der englischen Fremdenlegion.“. Dieses Paket wanderte, da der Adressat nicht zu ermitteln war, von einem Postamte zum anderen und wurde endlich erbrochen, wobei sich dann ergab, dass außer dem Gelde auch noch eine große goldene Medaille in dem Packet enthalten war.

Nachdem dieses wertvolle Packet bereits längere Zeit aufbewahrt worden war, aber alle Bemühungen, den Adressaten aufzufinden, sich erfolglos erwiesen hatten, führte die Spur endlich im Jahre 1863 auf einen Wegearbeiter Schmeck zu Halsdorf in Oberhessen, und es ergab sich dann auch wirklich, dass derselbe seiner Zeit in den Reihen der englischen Fremdenlegion gestanden hatte. Er wurde also vor das Amt zu Rauschenberg beschieden und nach seinen Erlebnissen in jenem Feldzuge befragt. Er erzählte auch Manches; endlich wurde ihm angedeutet, er müsse eine ganz besonders hervorragende Tat ausgeführt haben, sonst würde er doch nicht die goldene Verdienstmedaille und außerdem eine so namhafte Summe erhalten haben, welch’ letztere als der Betrag einer Pension an den Inhaber jener Medaille ausgezahlt werden solle, wobei zugleich die Nachzahlungen für die schon verflossenen Jahre berechnet waren. Der gute Mann konnte sich jedoch auf keine besonders glänzende Tat, die er ausgeführt, besinnen. Zuletzt fällt ihm ein, es könne am Ende die „Geschichte mit dene Kanone“ sein und aufgefordert, sich darüber zu äußern, erzählte er folgende Begebenheit aus seinem Leben:

Als der Herzog von Wellington in der Schlacht bei Waterloo vor Ankunft der Preußen den Andrang des ganzen französischen Heeres auszuhalten hatte, war es unserm Kanonier Schmeck bei seiner Batterie in Folge allzu starken Kanonendonners etwas unbehaglich geworden. So kam ihm die Idee, sich ein bisschen Kurasche aus seiner Feldflasche zu trinken. Bei diesem Geschäfte war es ihm aber begegnet, dass er trotz des furchtbaren Kanonendonners, welcher ihn umtobte, bei seiner Kanone die er schließlich noch allein bediente, zusammengesunken und eingeschlummert war. Plötzlich schreckt er jedoch wieder aus seinem Schlummer auf, noch nicht ganz nüchtern von seinem Kuraschetrinken und nicht wissend, wie lange er geschlummert hatte. Allein der Anblick, der sich ihm jetzt darbot, war ganz dazu geeignet, ihn völlig zu ernüchtern. Die sämtliche Mannschaft der Batterie, bei welcher er stand, war gefallen und zwar so rasch – vermutlich von französischen Scharfschützen niedergestreckt – dass keins der geladenen Geschütze hatte losgebrannt werden können. Außerdem brauste soeben ein französisches Reiterregiment heran, um die Geschütze zu nehmen; dasselbe befand sich gerade in der rechten Schussweite den Geschützen gegenüber. Da galt es allerdings, sich nicht lange zu besinnen. Schmeck springt auf, ergreift die Lunte, brennt das nächste Geschütz los, läuft dann von Geschütz zu Geschütz der ganzen Batterie und brennt schnell eins nach dem andern ab. Der Erfolg war ein furchtbarer; der Kartätschenhagel hatte in kurzer Zeit das französische Regiment zur Umkehr gezwungen. „Und“ – setzte der ehemalige Kanonier seiner Erzählung hinzu – „weiter war’s nix!“

Und weiter wars ja auch wirklich nichts gewesen, doch aber die Tat eines unverzagten Mannes. Prahler sind die rechten Hessen nie gewesen, aber ihre Schuldigkeit haben sie stets getan und dann ebenso wenig wie der Kanonier Schmeck aus Halsdorf es recht begriffen, wenn hinterher von Andern viel Aufhebens davon gemacht wurde. Und so solls, wills Gott, auch ferner bei uns bleiben.

Bürgerreporter:in:

Horst Becker aus Wohratal

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