Noch ein wenig Erinnern an eine "Verwehte Zeit"

Wer nicht aus dem Schatz der Erinnerungen an seine Kinderzeit schöpfen kann, der kann von diesem Schatz auch nie etwas an seine Kinder weitergeben. Was sind es nur für betrogenen Menschen. Mir geht es Gott sei Dank ein wenig anders – auch wenn meine Kinderzeit nicht unbedingt und durchgängig süß wie eine gedrehte Kirmes-Zuckerstange war. Ich brauche bloß an irgendein Ereignis zu denken, und – als wenn ich mit dem Denken einen simplen Schalter betätigt habe – ist mir der Zeitraum um dieses Erleben herum wieder gegenwärtig. Ganz so, als wäre es alles erst gestern geschehen.
„Ich habe an meinen Vater keine gute Erinnerung.“ Wenn ich das im engeren Freundeskreis schon einmal sage, dann heißt es gleich, na ja, du warst ja auch noch klein, als er seiner Krankheit, der Tuberkulose, erlegen ist.
Ich versuche meine Freunde dann stets zu korrigieren. Ich kann mich an meinen Vater sehr gut erinnern – nur habe ich an ihn keine ‚gute’ Erinnerung.
Ich habe es nicht erleben dürfen, dass er mir nur einmal in meinem kleinen Leben mit der Hand über den Kopf gestrichen hat – ich kann mich weder an eine einzige zärtliche Berührung noch ein einziges liebes Wort von ihm erinnern.
Meine Mutter hat diese Ablehnung durch ihren Mann an mir immer wieder gutzumachen versucht. Bis auf so einiges gründlich danebengegangene Geschehen ist es ihr auch wohl gelungen.
Ich habe sie einmal vor Jahren gefragt: Mama, du hattest schon 5 Kinder – dann kam 6 Jahre nach dem fünften noch ein sechstes in deine Welt – noch dazu von einem ungeliebten Mann gezeugt – hast du dir in vielen Situationen nicht manches mal gewünscht, du wärest nicht schwanger? Ihre Antwort darauf hat mich auf’s Neue dazu gebracht zu sagen, der liebe Gott richtet’s schon.
Meine Mutter sagte mir: Ach, weißt du - sie sagt oft einfach, ach weißt du, und dann weiß ich, sie teilt mir wieder etwas mit aus ihrem unerschöpflichen Reichtum an Erfahrung und Lebensweisheit. Und das nicht, um mich zu belehren, sondern um mir etwas zu schenken.
Ach weißt Du – als ich in 44 schwanger mit dir war, und ich durch die Schwangerschaft soviel schwere Krankheit hab’ durchleiden müssen, dass ich oft gefragt habe, lieber Gott – warum ich? Ich hab doch mein Soll erfüllt. Aber als du dann da warst, da habe ich bald begriffen, warum. Der Schöpfer hatte dich mir zum Trost geschenkt.
Du wurdest etwas mehr als 24 Stunden geboren, bevor der heilige Abend anbrach. Du warst wie alle Kaiserschnittkinder faltenlos und schier – dazu hattest du schon lange lockige schwarze Haare. Auf die Welt gekommen bist du in einem schrecklichen Krieg, von dem niemand zu der Zeit wusste, wie lange es noch dauern würde mit dem Schlamassel. Die Nonnen im katholischen St. Willehad haben dich wohl als Zeichen des Himmels betrachtet – jedenfalls lagst du in der Christnacht in ihrer Krippe, als sie damit von Bett zu Bett durch den Bunker zogen. Dann warst du in den schweren Jahren nach dem Kriege der einzige Mensch, dem ich alles erzählen konnte, der mir immer still zuhörte.
Mama musste ja auch nach dem Krieg weiterhin für alle sorgen – und der Kreis war ja nicht kleiner und das „Sorgen“ nicht leichter geworden. Jetzt waren es 6 Kinder UND der Ehemann. Der ach so stolze Seemann kam krank von Bord und aus dem Krieg und nach Deutschland zurück. Tuberkulose brachte er in seinem Körper mit – die damalige Volkskrankheit Nummer eins.
Grosse Teile der Besatzung ‚seines’ Schiffes waren davon betroffen. Seine Kameraden haben zumeist noch lange, zum Teil sehr lange damit und danach gelebt – nur der Stiesel von meinem Vater machte immer genau das Gegenteil von dem, was ihm in seiner Situation gut getan hätte. Er war einfach keinem Rat zugänglich, gleich von welcher Seite auch er ihn erreichte. So hat er z.B. bis zu seiner letzten Stunde am 29. Februar 1952 geraucht. Und zwar geraucht wie ein Schlot, trotz fast keiner Lunge mehr. Ein viertel Pfund Tabak – Steinbömer Gelb, der schwärzeste und krauseste Schwarze Krause den es zu der Zeit gab – ging durch sein Schmöken täglich in blauen Dunst auf.
Die schwerste Zeit für meine Mutter war immer die, wenn ihr Ehemann einmal wieder für eine Weile im Wilhelmshavener Marine-Lazarett lag.
Sie arbeitete seit der Währungsreform vorwiegend in Peines Bekleidungswerken, wechselweise im Textilhof an der Ulmenstrasse oder in den ehemaligen Kommandatur-Kasernen zwischen Rhein- und Ebertstrasse als Näherin.
Sie machte zeitweise täglich 2 Schichten an zwei ‚Schiebebändern’ gleichzeitig.
Alle 45 Sekunden, musste sie, sich auf dem Stuhl drehend, die Nähmaschine wechseln. An der einen Maschine die Passĕ und auf der anderen die Knopflöcher nähen. ‚Schiebebänder’ als ‚Vorfließbänder’ waren zu der Zeit DAS produktionssteigernde Mittel in den Peineschen Uniformschneidereien Bawi und Seriös.
Fließbänder als die perfekten Folterinstrumente waren zu der Zeit in den Peineschen Nähsälen noch nicht installiert
Statt ‚Uniformschneidereien’ drängt es mich, einfach ‚Frauenschindereien’ zu schreiben, denn die Vorgehensweisen der Peineschen Bandleiter zur Steigerung der Produktionszahlen waren alles andere als menschenwürdig. Die Herren verstanden ihr Handwerk, das sie ja nicht selten in der Hitlerschen SS gelernt hatten. Wenn meine Mutter von den Widerwärtigkeiten der Bandleiter wie etwa eines Kubitza erzählte, dann habe ich mich als kleiner Steppke schon immer gefragt, warum so grundböse Menschen in einer Fabrik mit einem erzkatholischen Besitzer so viel ‚Gutes’ tun durften.
Zwischen den Schichten in der Näherei schwang meine Mutter sich dann aufs Fahrrad und peeste zum Krankenhaus, um dort den Ehemann zu beköstigen.
In den Kliniken der Jadestadt gab es damals nur die jeweils mögliche (nicht nötige) medizinische Versorgung. Wenn Angehörige der Patienten am Ort wohnten, dann oblag denen die Versorgung mit Essen und Trinken.
Meiner Mutters „dritte Schicht“ beschränkte sich aber ja nicht auf den Lazarettpart. Im Stadtnorden – in Voslapp – da gab es ja noch sechs Kinder, die darauf warteten, von der Mutter versorgt zu werden. Also hieß es nach der Klinik das Zuhause ansteuern, um da nach dem Rechten zu schauen – zu schauen, ob diejenigen Kinder die schon tatkräftig mithalfen, auch nicht überfordert waren.
Die (relativ) leichteste Zeit war für meine Mutter jedes Mal dann, wenn sich ihr Mann entweder in Wildeshausen oder in Blankenburg in den dortigen sog. ‚Lungenheilstätten’ aufhielt. Dann konnte meine Mutter unbeschwerter ihren vielen Pflichten und ihren vielen, vielen schlecht entlohnten Beschäftigungsverhältnissen nachgehen.
Über die Hungerlohnarbeiten bei einigen jeverländischen Bauern werde ich später noch ausführlicher berichten.
Ich hatte immer das Gefühl, Arbeit, noch mehr Arbeit würde meine Mutter zu noch mehr Tun anspornen. Sie war bei aller Arbeit, die auf ihr lastete, stets fröhlich (zumindest haben wir Kinder sie meist so erlebt) – sie hatte immer ein offenes Ohr für die Belange der Kinder (und da beileibe nicht nur für uns, für ihre eigenen Kinder – auch unsere Freunde und Schulkameraden genossen ihr „zuhörenkönnen“, dem dann in der Regel gleich das „helfenkönnen“ folgte.
Bei Tant’ Eden war allgemein Treffpunkt vor, aber zumeist nach jeder Aktion, wenn dabei etwas „schiefgelaufen“ war.
Ob es zerrissene oder vom Schlötegubbel (Grabendreck) versaute oder durchnässte Klamotten waren, ob es war, daß wir in des Nachbarn Garten erwischt worden waren, oder irgendwo bei einem Nachbarn eine zerdepperte Scheibe ersetzt werden musste. Bei Eden’s gab es kein Tabuthema. Bei Eden’s war es immer warm – bei Eden’s gab es immer Hilfe – bei Eden’s gab es immer zu essen und trinken – bei Eden lag ständig Nadel und Faden parat, um Löcher in den Strümpfen zu stopfen – und vor allem anderen, bei Eden’s gab es wegen solcher Kindermalöre keine Dresche, sowie es in so vielen anderen Zuhausen gang und gäbe war.
Oftmals gab es obendrein noch Heizmaterial, etwas vom letzten Schlachten oder Früchte aus dem Eden Garten mit nach Hause.
So hat meine Mutter mit ihrer Art viele Kindergesichter zum Strahlen und viele Kinderpopos vor schmerzhaften Schlägen bewahrt. Die Kinder konnten doch gar nichts dafür, dass sie in diesem schrecklich armen Nachkriegsdeutschland nur eine Hose oder ein Paar Strümpfe zum anziehen hatten. (Obschon es auch nach dem grandios verlorenen Weltkriegsgetümmel auch in Deutschland noch viele Menschen gab, die sich in Sattheit und im Überfluß tummelten. Da soll mir niemand etwas anderes erzählen wollen.)

Bürgerreporter:in:

Ewald Eden aus Wilhelmshaven

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