2te Kostprobe aus "Verwehte Zeit"
Auszug aus "Verwehte Zeit"
In meinen Erinnerungen blitzt immer wieder das Bild meiner Kusine (Base) Martha aus dem holländischen Hoogeveen auf, die für sich auch einen Berg an Erlebniswissen bewahrt hat. Wir haben uns schon oft in unserem Erzählen ergänzt.
Marthas Vergangenheitskenntnisse würden nieder-geschrieben auch eigene Bände füllen. Allein die über ihre Mutter, meiner Tante Hanni aus Pfalzdorf, als meiner Mutter ältester Schwester. Johanne, Hanni wie sie genannt wurde, war meiner Mutter Lieblingsschwester. Ich muß sagen, sie war auch meine Lieblingstante – und Tanten hatte ich wahrlich genug vorzuzeigen. Alle Schwestern und Brüder meiner Eltern und deren angeheiratete Ehehälften habe ich ja nicht kennengelernt, da ich zu der „Nachschlagsgeneration“ zählte – und von denen die ich kennengelernt habe, da hätte ich zu einem Teil auch gut und gerne drauf verzichten können. Verträgliche Menschenexemplare waren nämlich nicht viele unter den vielen zu finden.
Tante Hanni war als blutjunges Mädchen in die Ehe geführt worden – sie war fast noch ein Kind, als sie Schuster Hinrich angetraut wurde. Ganze fünfzehn Jahre zählte sie, als sie mit Martin, ihrem ersten Sohn, schwanger ging. Auch unter „Kaisers“ waren Kinderehen schon möglich – die Eltern mussten nur die „richtigen“ Leute kennen. Und DIE kannte ihre Mutter, meine Großmutter. Tante Hannis Leben war ein einziger Kampf – ein Kampf ums Überleben, ein Kampf ums tägliche Brot für ihre Kinder und ihren Mann. Als Flickschuster brachte ihr Angetrauter nicht die Welt an Geld nach Hause. Unter dem zu wenigem Verdienst haben Männer schon zu allen Zeiten gelitten, und die dadurch in ihnen entstehende Wut in der Regel und zuvorderst an den Ehefrauen und in Fällen auch wohl an den Kindern ausgelassen.
So war es für meine Tante Hanni auch ein Kampf gegen die täglichen Erniedrigungen durch den Vater ihrer Kinder. Ein Einzelfall war sie ganz gewiß nicht, und trotz der eigenen Not war sie unablässig bereit und bemüht anderen zu geben, anderen Gutes zu tun. Jedes ihrer Kinder wird diesem, meinem Sagen bestimmt nicht rückhaltlos zustimmen, weil sie ganz sicher auch von einer anderen Seite ihrer Mutter zu berichten wüssten – ganz so, wie ich es auch mit meiner Mutter erleben musste. Hier sage ich „erleben musste“, denn das Wörtchen „durfte“ würde den Gegebenheiten nicht gerecht werden. Kinder hatten nämlich überhaupt keine Wahl. Aber wie es von der Schöpfung her so ist, es gibt niemals ein Licht ohne Schatten.
Ein Vorkommen, das vielleicht das ursächliche ein wenig erklärt, verdient es, denke ich festgehalten zu werden.
Der „Christian’sche Fischwagen“ war wie immer des Freitags unterwegs, um die Kunden im Lande zufriedenzustellen. Opas Refugium war der Kutschbock, und während meine Mutter die Ver-bindung per Fahrrad zu den Kunden auf den oftmals weit abseits des Fahrweges gelegenen Hof-stellen war, war Oma die unumschränkte Herr-scherin über Verkaufswagen und Ware. Natürlich auch über Geld und Mann und Tochter – aber DAS war sie ja nicht nur während der Fischtage, sondern auch an den anderen Tagen.
Der nächste Halt war am Pfalzdorfer Moor, in Höhe des späteren Holzweges (der Weg hieß wirklich so, wahrscheinlich führte der früher namenlose Weg den Wanderer, der ihm folgte, in die Irre – man sagt ja noch heute, dass jemand sich auf dem Holzweg befindet, wenn er fehlgeht).
Oma schickte meine Mutter los, um ihre Schwester zu fragen, ob sie Fisch haben wolle. Frischen Fisch hätte Hanni für ihre Familie sicher gerne haben wollen – nur, um den zu kaufen fehlten ihr schlicht und einfach die Taler in der Schürzentasche. Und ohne die nötigen Pinunsen, das nötige Bare als Gegenleistung hatte sie von ihrer Mutter, der Großmutter ihrer Kinder, NICHTS zu erwarten. DAS wusste sie, und machte deshalb gar nicht erst den Versuch einer Bitte – es wäre nur eine erneute Demütigung dabei herausgekommen.
Stattdessen bat sie die Eltern und ihre Schwester (meine Mutter) zu Tisch. Es gab Feldbohnensuppe zu Mittag. Und die Eltern kamen – natürlich ohne auch nur das kleinste Stückchen Fisch mitzubringen – und ließen sich das Essen schmecken – DAS Essen, das eigentlich für die Kinder als aufgewärmt für den Abend sein sollte, für die ja nun nichts mehr im Topf war.
Wäre da nicht der Schellfisch gewesen, den meine Mutter, in Kenntnis der Wesenseigenschaften ihrer Mutter, vorsorglich hinter Omas Rücken aus der Eiskiste „gefischt“ hatte. Opa Ulan hatte es vom Kutschbock aus mit einem zugedrückten Auge gutgeheißen. Zügellose Prügel dafür hat Mama am Abend trotzdem von ihrer Mutter bekommen.
Das zu verhindern, dazu reichte Opas Courage denn doch nicht. Er hat es, neben vielem anderen, seiner Tochter in seinen letzten Stunden unter Tränen gestanden – als alter Mann von 94 Jahren drängte es ihn, wenigstens bei einem Opfer seiner Feigheit Abbitte zu tun..
Es war ein typisches Bild der Familie – auf der einen Seite der schon bizarre Geiz der Mutter, und dem gegenüber die sich opfernde Hilfsbereitschaft der Töchter. Meine Tante hat einfach immer auf Gott vertraut – auch wenn der sie vordergründig oft grausam scheinbar enttäuschte.
Meiner Großmutters ‚Großzügigkeit’ hatte da ihre Grenzen, wo sich erkennbar für sie keine Vorteile daraus ergaben.
Nach außen hin war das „offene Haus“ meiner Großmutter an gewährter Gastfreundschaft nicht zu überbieten. Jeder Reisende, der irgendwie des Weges kam, wurde willkommen geheißen und auf das Beste bewirtet. Ich habe es nicht erlebt, dass auf der Herdplatte in Omas Küche nicht das Wasser im Teekessel siedete. Die Flamme im Stövchen unter der Teekanne aus feinstem Chinaporzellan ging, solange der Tag währte, niemals aus.
Die Geneigtheit und die Willfährigkeit Außen-stehender „erdienerte“ sie sich im weitesten Sinne durch eine trügerische Jovialität und offenbarer Großherzigkeit – über die Arbeitskraft und die Körper der Familie, ihrer Kinder, verfügte sie einfach nach eigenem Gutdünken.
Eines Tages leistete sie sich gegenüber der Nicht-familie ein Stück Offenlegen ihres Charakters, das so bestimmt nicht von ihr gewollt war.
Der Burmeister von Neeschoo machte auf seinen regelmäßigen Fahrten in die Kreisstadt Wittmund – die zu der Zeit noch ein Flecken war – aus liebge-wordener Gewohnheit stets den Umweg über Bernuthsfeld, mit einem Halt in Omas Teeküche für einen Klönschnack bei Tee und frischgebackenem Korinthenstuten, denn der gehörte untrennbar dazu. Man kannte sich von den „Handelsgeschäften“ her. Irgendwie dauerten den Bürgermeister irgendwann die ausgelatschten Treter meiner Großmutter, und er brachte bei seiner nächsten Einkehr mehrere Paare von seiner Frau abgelegter, aber durchaus gut erhaltener Schuhe mit, die er meiner Oma schenken wollte.
Der Gute hat niemals mehr den Versuch gewagt, Meta Christians in dieser Art etwas Gutes tun zu wollen. Voller Empörung über sein Ansinnen zeigte sie ihm die Regale, in denen sich die brandneue handgefertigte Fußbekleidung stapelte. Schließlich gab es drei exzellente Schuster in der Familie, die allesamt in Ostfrieslands Promi Schuhmacherei Bockstiegel in Aurich die Schusterei gelernt hatten.
Hier ein Erleben anderer Art, aber mit der gleichen Großmutter. Mama war auf ihrer gewohnten Tee-tour durch Ostfriesland, wobei sie, wenn das Auricher Umland zu bedienen war, stets Station in ihrem Elternhaus und bei den darumherum-wohnenden Geschwistern machte. Die bekamen nämlich trotz aller Negativa regelmäßig ihre Gratisportionen an Tee, Tabak und Genever.
Mama rechtfertigte ihr positives Handeln immer mit den Worten, das sind doch meine Eltern – das ist doch meine Familie – und das obwohl ihr von diesen Eltern, von dieser Familie in ihrem Leben überwiegend nichts Gutes widerfahren war.
Bevor sie sich gleich nach Mittag aufmachte, um ihre Waren an den Mann bzw. an die Frau zu bringen, hatte sie durch einen Blick in die Sonntagswohnstube dort zehn, mit Äpfeln hoch befüllte, große Weidenkiepen stehen sehen, und sich darauf gefreut, davon am Abend für ihren todkranken Mann einige mit nach Hause nehmen zu können.
Meine Großeltern vermarkteten ja auch die Früchte aus ihrem riesigen Garten. An den Seiten der Mittelallee standen allein 40 Kirschbäume, mit in den Zwischenräumen Johannis- und Stachelbeer-sträucher, deren Früchte zu pflücken stets unsere, der kleinen Enkelkinder, Aufgabe war, während die „Großen“ in den Bäumen über unseren Köpfen mit Hilfe von Leitern die vielfältig schwarzen, roten und gelben Kirschen ernteten.
Jedes mal wenn es hieß, Omas Tuun wacht up jo – Omas Garten wartet auf euch – hegten wir jedes Mal aufs Neue die Hoffnung auf Kirschen- und Beerenessen während der Aktion – und jedes Mal war das Hoffen wieder für die Katz. Oma thronte stets mittig der Giebelseite des Wohnhauses in ihrem alten Korbstuhl, von wo aus sie die Gerade der Baumallee im Auge hatte. Selbst in der Mittagsstunde verließ sie diesen Platz nicht.
Wenn wir, in der Hoffnung unsere Großmutter würde nach dem Mittagsmahl, wie jeden Tag auch, ein Nickerchen machen – weil es so aussah, wie sie da mit den Händen unter den Brüsten verschränkt und (scheinbar) geschlossenen Augen vor sich hindöste – schnell ein paar Beeren oder eine Kirsche in den Mund steckten, ertönte sofort ihre herrische Stimme: Nu moot ji mi ok nich aal upfrääten, denn kann ikk joa niks mehr verkoopen – nun müsst ihr mir auch nicht alles auffressen (sie rief wirklich „auffressen“) – denn hab ich ja nichts mehr für den Verkauf.
Meine Mutter freute sich an dem Tage auf jeden Fall auf den Abend und auf die Freude ihrer Lieben zuhause, wenn sie mit einer Tasche voller Äpfel aus Omas Garten von der Tour durch Ostfriesland heimkam. Nach Stunden durchs Moor rund um Aurich fuhr sie der Äpfel wegen extra noch einmal einen Abstecher nach Bernuthsfeld.
Ohne die Aussicht auf die rotbackigen Früchte wäre sie in Sandhorst geradeaus nach Plaggenburg weitergefahren, anstatt bei des Landrates Schlösschen links ab noch einmal die 6 Kilometer auf der Dornumer Chaussee unter die Räder zu nehmen. Hinterher hat sie auch gedacht, wärst du man in Sandhorst geradeaus gefahren.
Wenn sie das nämlich getan hätte, dann wäre ihr eine weitere Demütigung erspart geblieben.
In der Sonntagswohnstube befanden sich nämlich keine Körbe mit Äpfeln mehr – die hatte Oma allesamt ausser Reichweite geschafft, um der „Begehrlichkeit“ ihrer Tochter vorzubeugen.
Auf die Frage meiner Mutter nach ein wenig frischem Obst für den kranken Schwiegersohn bekam sie dann von Oma eine handvoll Äpfel, bei denen sie schon das angefaulte Fruchtfleisch abgeschnitten hatte. Andere Früchte hatte sie angeblich leider nicht im Hause.
Und meine Mutter hat wieder nicht aufgemuckt und ihrer Mutter ihre Brutalität, ihre Verlogenheit und ihren Geiz ins Gesicht geschrieen – in ihrer stillen Wut hat sie die angefaulten Paradiesfrüchte aber in den nächsten Chausseegraben geschmissen.
ewaldeden
Bürgerreporter:in:Ewald Eden aus Wilhelmshaven |
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