Ein Anlaß für ....
… ja, wofür eigentlich?
Marianne war im Dorf einkaufen gewesen. In fünf Minuten hieß es ‘Teezeit’, und sie stand, noch mit dem Hut auf dem Kopf und dem Mantel an, in der Diele. Reent Saathoff, der Krämer, hatte nämlich beim Klönen wieder einmal kein Ende finden können. Nee man, er hatte aber auch soviel Neues zu berichten gehabt. Durch die Schnackerei hatte sie das, was sie wirklich besorgen wollte, gar nicht in den Einkaufswagen gelegt.
Salz und Fliegenfänger – die beiden Produkte fand sie dagegen gleich doppelt in ihrem Korb.
Salz benötigte sie eigentlich nur, um bei Glätte die Treppenstufen vor der Haustür zu entschärfen. Bei ihr in der Küche spielten die weißen Kristalle nur noch eine ganz kleine Rolle - Gerd und sie mußten wegen der angegriffenen Nieren nämlich schon länger salzarm leben – und Fliegenfänger hatte ihr Enkelsohn erst vorgestern im Dutzendpack von der Genossenschaft mitgebracht.
„Verdeckselt nochmal – jetzt hab ich die Trauerkarten vergessen.“ Wegen der Trauerkarten war sie doch überhaupt bloß in den Kramladen gegangen.
Nachdem sie den Mantel gegen die Kittelschürze getauscht hat, knüttert sie in der Küche aal wat vor sich hin. Wenn jetzt jemand hereinkommen würde, er würde sofort merken, daß die Frau des Hauses ziemlich franterig gestimmt ist.
Angefangen hatte ja alles ganz anders. Als sie heute morgen nach dem Aufstehen wie immer zuerst die Rückseite der Zeitung studierte, um zu wissen zu kriegen, wer in Zukunft nicht mehr im Konsum einkaufen würde, war ihr sogleich Tekla Büschers Name entgegen gesprungen.
Marianne war richtig zusammengeschreckt. Tekla Büscher war im Alter doch noch gar nicht soweit hin wie sie selber.
Na ja, ein bißchen stökelig war sie in den letzten Jahren schon gewesen, die gute Tekla – aber fünfundachtzig – das ist doch noch kein Alter. Sie stand mit ihren siebenundachtzig noch dreimal die Woche auf dem Markt in der Kreisstadt hinter dem Sauerkrautfaß um Kundenbegehren zu erfüllen.
Marianne saust ziemlich ziellos, mit dem Salztopf in der Hand, in der Küche hin und her. Was sie mit dem Pott wollte, daß wußte sie im Moment selbst nicht.
Gerd kam durch die Hinterküche jüstemang aus dem Schweinestall. Er mußte noch ins Nachbardorf zu einem Termin beim Kusenklempner. In seinem Oberkiefer tat sich offenbar schon seit Tagen etwas Ungutes.
Bevor er nun für die Tour ins Nachbardorf seinen alten Lanz mit der Lötlampe anheizte, wollte er mit Marianne noch erst gemütlich Teetrinken. Wer wußte denn, was der Zahndoktor alles mit ihm anstellen würde, und wann er danach das nächste mal essen und trinken durfte.
Aber was war das – es war Teezeit in der Zeit, und kein Tee stand auf dem Tisch.
So etwas hatte er seit Ewig und drei Tagen nicht mehr erlebt. Die Frage, warum das heute so war, konnte er aber gar nicht erst bei seiner Frau loswerden.
Marianne macht ihm gleich klar, wie ihr das bei Saathoff ergangen ist. „Ich kann mich über mich selbst ärgern – ich merk nun doch, daß ich älter werde. Jetzt muß ich mich wegen meiner Vergesslichkeit nochmal wieder antakeln.“
Sie ist vor Aufregung reinweg am pusten.
„Der Postbote muß unbedingt morgen früh den Brief mitnehmen – sonst kriegt Tekla den doch erst, wenn sie schon unter der Erde liegt. Was soll sie denn bloß von mir denken.“
Gerd kann ihr förmlich ansehen, daß sie wütend auf sich selber ist.
„Deern – nu wääs doch nich so biesterk. Deine Freundin Tekla kann den Brief doch sowieso selber nicht mehr lesen.“
„Das ist mir ganz schietegal – mir soll, wenn ich gestorben bin, auch ja keiner sowas antun. Mit dem red ich dann nie wieder.“
Was gibt es dagegen zu sagen?
Ein Leuchten streicht über Gerds Gesicht. „Weißt du was, Marianne? Ich muß doch glieks up d’ Siel, zum Kusendoktor. Ich geh dann eben auf die andere Seite rüber – in Joosten sein Klüterladen werd’ ich doch bestimmt ’ne Trauerkarte finden.“
Irgendwie haben seine Worte irgendetwas bewirkt, denn Marianne ist plötzlich gar nicht mehr gnadderich, und unversehens steht auch das Teegeschirr auf dem Tisch.
Beim Kusendoktor ist es denn doch nicht so schaurig, wie Gerd es befürchtet hat. Der alte Doktor ‚Knieptang’ braucht mit seinen blanken Spachteln nur ein wenig in seinem Mund herumzurühren – und schon ist der Schaden behoben. Gerd fragt sich, warum er eigentlich soviel Schiß inne Bükse gehabt hat. Als er denn endlich die Tür nach draußen hinter sich zumacht, schießt ihm plötzlich ein alter Werbespruch durch den Kopf: „Mama, Mama – er hat überhaupt nicht gebohrt.“
Schmüstern muß er über sich selber. Mit diesem Schmüstern in den Augen segelt er über die Strasse – direktemang in Joostens alten Laden rein.
Junge, Junge – hat sich das hier drinnen verändert, seitdem ein junger Chef das Regiment über die Schubladen und Regale führt.
‚Papeterie’ steht in goldenen Buchstaben draussen an der Hauswand geschrieben, genau an der Stelle, an der bis vor kurzem auf weissem Grund in schwarzer Schrift noch einfach ‚Papier- und Schreibwaren’ stand.
Gerd bleibt ein Momentchen im Eingang stehen, und läßt die neuen Eindrücke auf sich wirken, bevor er anfängt zwischen den Verkaufsgondeln im Ladeninneren hin- und herzugondeln.
Er rutscht von einem Staunen in das andere. Wat hier nich allens to finn’n is, und zu welchen Begebenheiten man alles Karten verschicken kann: zur Hochzeit, zum Geburtstag, zum neuen Auto, zur bestandenen Prüfung, zum Namenstag, zur Konfirmation …, sogar ‚Glücklich geschieden’ liest er.
Was er aber nicht findet, das ist eine Karte oder ein Brief mit schwarzem Rand drumherum. In seinem Kopf fängt es an zu kreiseln.
Es hilft alles nichts, er muß den Verkäufer danach fragen – denn, ohne Trauerkarte wieder nach Hause zu kommen – das Theater, was er denn erleben würde – das mag er sich beim besten Willen nicht ausmalen. Während seiner Irrfahrt durch die ‚Kartenwelt’ hat er schon mitbekommen, daß der Verkäufer wohl kein Plattdeutsch versteht, und so fragt er den jungen Mann hinter dem Tresen in seinem besten Schulhochdeutsch: „Haben sie vielleicht Kondolenzbriefe im Sortiment?“ Der junge Bengel schaut ihn mit dem gleichen glubschen Blick an, mit dem ihn vor vierzehn Tagen auch sein Ochse angesehen hat, als der vor dem neuen Scheunentor stand.
„Kondolenzbriefe – Kondolenzbriefe …“ hört Gerd ihn nur wiederholt vor sich hinmurmeln. Nach zwei Minuten Augenverdrehen saust das Nichtwissen dann, wie eine zu weite Hose über einen zu dünnen Hintern nach unten, aus dem Gesicht des Verkäufers: „Ach – sie meinen die Karten, mit denen man gratulieren tut, wenn einer gestorben ist.“
ewaldeden
Schreib' aber um Himmels willen jetzt nicht (aus Versehen) "Herzlichen Glückwunsch" liebe Roswitha