Achterbahn des Lebens (7)

Wie der Zufall – oder das Schicksal – es fügte, traf ich Peter eines Tages in einem Kaufhaus wieder. Als wenn die Zeit dazwischen gar nicht über uns hinweggezogen war, nahm er mich sofort mit in sein neues Heim. Der Raubritter hatte eine neue Burg gefunden – in einem pleite gegangenen Bäckereibetrieb residierte er jetzt mit seiner Familie. Im Verkaufsraum, der den vorderen Teil der Residenz ausmachte, präsentierte er Bilder, durch die großen Schaufenster gut zu betrachten. Bilder, die unter den Händen seiner Frau entstanden – Hinterglasmalerei. Den künstlerischen Wert konnte ich nicht beurteilen – es entsprach nicht meiner Kultur. Aber Peters Wesen hielt mich immer noch gefangen. In regelmäßigen Abständen zog es mich zu ihm hin. Er hatte mir einen Floh ins Ohr gesetzt – er hatte mir eine Frage gestellt, deren Beantwortung mich schon nicht mehr schlafen ließ. Der Verkauf – das an den Mann bringen dieser Objekte.
Ich wäre nicht meiner Großmutter Enkel, hätte ich nicht die Lösung gefunden. Eine Handelsgesellschaft für den Im- und Export von Waren. Peter war begeistert von meiner Idee – und mir schmeichelte seine Begeisterung. Sie schmeichelte mir halbgewachsenen Türkenjungen so sehr, das ich nicht bemerkte, wie luftig und bodenlos das Ganze wieder einmal war.
Peter suchte neues Geld – und ich Hammelkopf investierte meine mühsam angehäuften Ersparnisse –
5 000 Mark lagen bei mir auf der hohen Kante. Ich gab für diese „Idee“ nicht nur meinen Profit aus den Freibiergeschäften hin, nein – ich nahm auch noch einen Kredit über die gleiche Summe auf. Das waren zehntausend harte, blitzende, klingende Münzen, von denen ich bis heute nicht eine wiedergesehen habe.
Seine, Peters, Begeisterung über meine Pläne, billige westliche Produkte mit Profit in der Türkei zu verkaufen, um dann im Umkehrschluß das gleiche mit preiswerten türkischen Erzeugnissen in Deutschland zu machen, sorgte wohl für meine Blindheit – sie machte meinen ansonsten doch recht nüchternen Verstand regelrecht besoffen.
Plötzlich waren wir Geschäftspartner. Ich war der nichtsahnende, freudestrahlende Nachfolger seiner anderen Opfer. Bevor ich mir aber dessen bewußt wurde, mußte noch einiges Donauwasser den Weg zum Schwarzen Meer nehmen.
Wir nahmen jedenfalls gleich darauf die Umsetzung meiner Idee in Angriff. Als erstes mußte ein Gewerbeschein her. Bei Peter gab es da so einige unüberwindliche Hürden, die verhinderten, daß er an so ein Papierchen gelangte. Für mich war es leicht. Auf dem zuständigen Amt ein paar Fragen, ein paar Stempel, ein paar Mark an Gebühren – und ich war frischgebackener Chef einer Im- und Exportfirma.
In Goldbach – ich empfand den Namen als eine Verheißung – residierte ein Jeanshersteller. Wir kauften gleich am nächsten Tag soviel Jeanshosen, wie wir im Kofferraum meines Opel-Rekords verstauen konnten – und dann ab – nein, nicht nach Kassel, sondern in die Türkei, um dort die Baumwollpflückerhosen zu versilbern. Ein Kasten Heyland-Bier und drei Nullsiebenliterflaschen Jägermeister leisteten den Exporthosen in der Dunkelheit der Gepäckabteilung Gesellschaft, aber nur für die ersten zwanzig Stunden der Reise.
So lange dauerte es nämlich, bis wir in Bulgarien waren, und mehr Zeit benötigte mein Freund und Teilhaber Peter auch nicht, um unseren gesamten Alkoholvorrat durch seine Kehle fließen zu lassen.
In Bulgarien bunkerte ich für den Kampftrinker Peter erstmal wieder neue Munition. Sonst wäre er mir bis zum Ziel unserer Reise ausgetrocknet, und hätte an den Grenzkontrollen vor lauter Zittern seinen Paß nicht in den Händen halten können. Gottseidank dauerte es nach der letzten Kontrolle an der türkischen Grenze nur noch knapp eine halbe Stunde bis zu einem mir bekannten Lokal in Edirne.
Edirne – diese wunderschöne, grenznahe Stadt empfing uns Handelsreisenden mit offenen Armen und ihrer echt türkischen Seele. So ein bißchen erschien sie mir wie ein Zuhause, das den verlorenen geglaubten Sohn mit Freuden empfängt. Ich hatte mich schon seit Stunden auf die leckere Kuttelsuppe gefreut, die es in der Raststätte gab. Meinem Beifahrer war augenscheinlich der Raki wichtiger und willkommener.
Bevor wir weiterfuhren, tankte ich erneut die Schnapsreserven nach, denn bis Izmir war noch ein langer Weg. Freund Peter verbrauchte nämlich mehr Alkohol auf hundert Kilometer, als mein Opel an Benzin benötigte. Izmir stand in weiter Ferne am Horizont geschrieben – ich konnte es siebenhundert Kilometer weit leuchten sehen, denn soweit war es noch bis dahin. Eceabat, Keschan, Gelibolu, Cannakale, Edremit hießen die Meilensteine an diesem langen Weg, an dessen Ende wir endlich Izmir greifen konnten. 3 000 Kilometer lagen hinter uns – 3 000 Kilometer Strasse, die meinen Opel mehr ermüdet hatten als mich. Ich war so frisch wie bei unserer Abreise in Aschaffenburg.
Izmir – mein vertrautes Izmir gab mir eine innige, wohlige Heimatwärme, die mich irgendwo ein wenig traurig stimmte. Das letzte Stück Weg bis zu dem Haus, in dem ich meinen ersten Schrei getan hatte, konnte ich gar nicht schnell genug hinter mich bringen. Die Freude, meine Eltern und Geschwister wiederzusehen, ließ meinen Körper zittern, wie die türkische Erde bei einem Beben.
Meine Eltern waren nämlich anfangs der achtziger Jahre wieder in die Türkei gewechselt – vor allem meine Mutter war dem gesellschaftlichen Klima in Deutschland nicht mehr gewachsen gewesen. Bei jedem neuen Anschlag rechtsgerichteter Fuzzis starb sie bald vor Angst um ihre Familie. Väter bestimmen in türkischen Familien zwar die Richtung, dies geschieht in bestimmten Dingen aber selten gegen den Willen ihrer Frauen. In westlichen Vorurteilen wird es meist anders dargestellt. Für mich ist das auch ein Minus bei der Völkerverständigung. Mich hatten meine Eltern schweren Herzens in Deutschland zurückgelassen – sie hatten meine eigene Entscheidung akzeptiert, obwohl mein Vater einen schweren Gang gehen mußte. Er hatte nach alter Tradition in der Heimat schon eine Braut für mich ausgesucht, und ich denke, daß meine Entscheidung für ihn ein Stück Ehrverlust bedeutete. Wichtiger als seine eigene Ehre war ihm aber die Ehre des jungen Mädchens, mit dem ich in Deutschland verlobt war. Wie schwer es für ihn gewesen sein muß, habe ich erst viel später so richtig begriffen.
Danke, Papa.
Vor meinem Geburtshaus – das ja nun wieder mein Elternhaus war – erwartete uns mein Vater mit soviel Glück in den Augen, wie ich es bei ihm nie zuvor gesehen hatte. Er hatte sich genau ausgerechnet, wann wir ankommen würden – war praktisch jeden Kilometer auf der Landkarte in Gedanken mit uns gefahren. Er kannte die Strecke von seinen vielen eigenen Fahrten ja aus dem Effeff. Den Moment des Wiedersehens, und den Dank an Allah, daß seinem Sohn auf der langen Reise nichts passiert war, wollte er wohl alleine hinter sich bringen, denn meine Mutter und meine Schwester kamen erst eine Weile nach ihm aus dem Haus. Ihre Wiedersehensfreude war deswegen aber nicht weniger herzlich. Ein guter Tee und schmackhaftes Essen warteten schon auf uns, über das wir sogleich wie hungrige Wölfe herfielen. Mein Vater machte sich währenddessen ans auspacken. Für mich bedeutete es eine völlig neue Erfahrung – meinen Vater für mich das Gepäck tragen zu sehen. Wie groß muß seine Freude gewesen sein, mich wieder bei sich zu haben – und sei es auch nur für eine kurze Zeit. Abends saßen auch meine jüngeren Brüder mit im Kreise – es wurde eine lange Nacht, in der wir uns wohl mehrmals von Pontius nach Pilatus und wieder zurück redeten. Peter hatte sich gleich den türkischen Cognac zum Freund gemacht – Jägermeister war in der Türkei noch unbekannt. Unmengen Tuborg Beer schickte Peter dem Cognac hinterher, damit der sich in seinem Inneren nicht so alleine fühlte. Das gute Frühstück, das meine Mutter am nächsten Morgen für uns zubereitete, ebnete den Weg in den neuen Tag. Peter hat mir später am Tage anvertraut, so gut habe er noch nie gefrühstückt. Stadtkennenlernen stand auf dem Programm – nein, nicht für mich – ich kannte Izmir ja wie meine Westentasche. Meinem Freund Peter mußte ich die Stadt nahe bringen. Der orientalische Bazar, mit seinen Bildern und Gerüchen wie aus Tausendundeiner Nacht, war unsere erste Station. Für Peter schien ein Märchen wahr zu werden – er hatte mein Berichten davon immer so ein wenig für Kindheitsträumereien gehalten – für eine Fata Morgana in der kulturellen Öde des Abendlandes.
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Fortsetzung folgt

Bürgerreporter:in:

Ewald Eden aus Wilhelmshaven

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