Was hat ein 'Bürgerreporter' aus Schlicktau denn mit dem bergischen Solingen zu schaffen ...?

Feuilleton

Der Titel mag auf das erste lesen verwirrend anmuten - lest aber ruhig den Anfang einer langen Geschichte.

Gibt es das Solingen der ‚aulen Soliger’ eigentlich noch?

Ich bin ein Flachlandtiroler – ein ‚norddeutscher Butscher’ hieß es in meinen Kinderjahren – und liebe mein Land am Meer über alles. Natürlich komme ich hier mit den Menschen klar, weil ich ihre Eigenheiten, ihre Ab- und Besonderheiten kenne und respektiere.

Damit meine ich in meinem Denken die urwüchsigen und eingeborenen Ostfriesen. Sie sind eine ‚schwere Kost’ würde ich sagen, wenn ich ein ‚Charakterfeinschmecker’ wäre. Der Hunger wird durch sie gestillt, der Magen wird gefüllt und trotzdem sind sie eher etwas für kalte Tage, an denen man nicht sehr viel spricht, sondern lieber die Wärme des Feuers und das ‚miteinander Schweigen’ genießt.

In der Not- und Drangzeit nach dem 2. Weltkrieg hatte es Teile meiner Familie ins Bergische Land nach Solingen verschlagen. Dadurch bedingt, war die Klingenstadt auch zeitweise mein Zuhause.

Die Erinnerung an die Menschen aus dieser Zeit habe ich bis Heute als etwas sehr Kostbares bewahrt. Im Haus meiner Empfindungen haben sie einen besonderen Platz, sowie man altes und wertvolles Kristall und Porzellan in einer gläsernen Vitrine verwahrt. Ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich auch genauso damit umgehe – sie hin und wieder in die Hand nehme und poliere – genauso wie meine Großmutter es Herbstens mit ihrem alten Silber zu tun pflegte, wenn die Zeit der großen Feste bevorstand.

Dann strahlt sie wieder, die Erinnerung an den ‚3 Städte-Express’ – die alte Straßenbahn Linie 3 – wenn sie nach der Wende auf der ‚Burger Drehscheibe` wieder in Richtung Solingen losratterte und nach schier endloser Rauf- und Runterfahrt durchs Solinger Stadtgebiet am Vohwinkeler Schwebebahnhof haltmachte.
Wieviel mehr Charme besaß die alte Dame doch gegenüber der surrenden Eilfertigkeit der ihr nachfolgenden schmucklosen Blechkisten von O-Bussen. Wenn sie sich die Steigungen der Burger Landstraße hochmühte, dann konnte man auch schon mal während der Fahrt Blumen pflücken, obwohl das angeblich strengstens verboten war.

Während meines ersten Besuches in der Stadt der Messer und Gabeln stand ich als kleiner Steppke an der Hand eines alten Schwertfegers in Müngsten staunend am Ufer der Wupper unter einer eisernen ‚Riesenbrücke’, über die hoch im Himmel gerade eine rauchende Dampflokomotive eine Schlange von Eisenbahnwaggons zog. Die Eisenbahnbrücke über das Tal der Wupper hinweg hatte für mich plötzlich etwas mit der Heimat verbindendes. Auf den Namen Kaiser Wilhelms war sie nach ihrer Fertigstellung getauft worden – genauso wie die große eiserne Drehbrücke bei uns über den Hafen.

Dieser Anblick war für mich etwa so wie bei uns zuhause der Blick übers Meer vor den Deichen, in seiner unendlichen Weite mit den qualmenden Schiffsschornsteinen über der Kimm am Horizont. Ich war tief beeindruckt. Dagegen verblasste das Staunen, dass mich einige Tage zuvor in Wuppertal erfasst hatte, als ich mit Onkel Eugen – dem Schwertfeger – unter einer Straßenbahn stand die mit den Rädern nach oben über die Wupper schaukelte. Dieses Werk menschlicher Technik war doch gar nichts gegenüber dem Himmelsflug der Eisenbahn hoch über dem Müngstener Märchenpark.

Wie im Märchen fühlte ich mich auch auf den Wanderungen längs der Wupper, an deren Ufer bei den Schleiferkotten die Wasserräder klapperten, um im Inneren die Wellen mit den Schleifsteinen und Polierbürsten anzutreiben, vor denen die Schlieper und Pliester auf kleinen Schemeln hockten. Vom Tagesanbruch bis in die Dunkelheit hinein gaben sie hier den Solinger Markenprodukten die Schärfe und den Glanz, den alle Welt so sehr an ihnen schätzte. Immer wieder zog es mich in diese schummrigen Werkstätten mit den kleinen Lichtinseln über den surrenden Scheiben und den Männern mit den gebeugten Rücken davor, die so wunderbar Geschichten erzählen konnten - auch wenn sie mit Worten nichts sagten.

Wer weiß heute noch um die zahlreichen kleinen Tante Emma Läden in den abgelegenen Hofschaften, die sich in den oftmals mit Schieferplatten verkleideten Fachwerkhäusern verbargen, in deren Fenstern hinter den Butzenscheiben höchstens mal ein Schild mit Persil als Aufschrift, oder eine Reklametafel mit einer Empfehlung für die Erzeugnisse aus Bruchhausens Kornbrennerei oder Beckmanns Bierbrauerei zu sehen war.

So wie zum Beispiel bei Else Rüttgers in ihrer Wunderwelt auf der Höhe des Mittelhöhscheider Häuserrund. Tante Else – oder ‚et Elsken’ wie die Erwachsenen sagten – regierte mit einer Drehung ihres gedrungenen Körpers die ganze Welt ihrer kleinen Faktorei, in der man in Schubladen und Regalen all das vorfand, was Mensch für den Alltag benötigte. Et Elsken, deren weiteste Reise in ihrem Leben ein Ausflug zum Kloster auf der Krahenhöhe war, und die trotzdem ihren Kunden über alle Vorgänge in der Welt oftmals besser Bescheid tun konnte als der alte Conny in seiner Rosenlaube da überm Rhöndorfer Rheinufer es je vermocht hätte.

So tat sie auch ihrem Walther des Öfteren kräftig Bescheid, wenn sie gespitzt hatte, dass er mal wieder einem gut gebauten Mädchenhintern über langen schlanken Beinen hinterherspürte. Auch wenn sie von Jugend an ‚leidend’ war, wegen einer verwachsenen Hüfte – so leidend war sie denn doch nicht, dass sie es leiden konnte, ihren Walther von fremden Tellern naschen zu sehen.
Walther war nämlich Forstaufseher in den umliegenden Jagdrevieren.
Er gab schon was her, wenn er in seiner grünen Uniform mit geschulterter Flinte und zwei Münsterländern an der Seite durch die Wälder streifte. Dass er einen eleganten Silberblick hatte war ja von weitem nicht zu sehen. Ich habe mich oft gefragt, ob er es wohl schaffen würde ein Stück Wild zu treffen – erlebt habe ich es allerdings nie. Wahrscheinlich zielte er immer auf die Jagdbeute, die in seinem Doppelblick nicht real war.

Real war dagegen Joostens Karl, der schon mehr als fünfzig Jahre in seiner Frisörstube am Kohlsberg als uneingeschränkter Herrscher über Kamm und Schere thronte, und jedem männlichen Wesen aus der näheren Umgebung zu kleinem Tarif als unveränderliches Kennzeichen den persönlichen Haarschnitt verpaßte.
Karls ‚Salon’ war die Nachrichtenbörse der Abseitswohnenden, in der morgens schon die Nachrichten gehandelt wurden, die dann erst nachmittags in ‚Boll’s Blättchen’ standen.
Karl schien immer nach einer für seine Kunden unhörbaren Musik zu tänzeln, wenn er mit erhobenen Händen auf seinen verschieden langen Beinen die Köpfe der Stuhlaspiranten umkreiste.

Der ‚Schlieper’ vom Kotten nebenan – der im Blaumann zwischen dem Pliestscheibenwechsel mal eben zum Haareschneiden kam – wurde übrigens nicht anders behandelt wie der ‚Fabrikant’ als Besitzer der am Eselsweg gelegenen Rasierklingenfabrik, wenn er in elegantes bergisches Tuch gekleidet in dem alten Ledersessel Platz nahm.

Überhaupt – bergisches Tuch, die ‚aulen Soliger’ waren stolz auf ihre Lodenanzüge, Joppen und Mäntel die sie trugen, wenn man sie nicht im Blaumann sah.
Wenn ich jetzt allerdings so an den Jahren von damals vorbeischaue – bei den jüngeren ‚aulen Soligern’ gab es eine Riege, die mit ihrem Modegebaren ein wenig aus der Reihe tanzte. Mir kleinem Steppke schienen damals diese halbfertigen Alten immer ein wenig geckenhaft, wenn sie in Kniebundhosen gekleidet ihre vermeintlich jugendliche Sportlichkeit zur Schau trugen, selbst wenn ihr Bauch ihnen schon den Blick auf ihren Pittermann verwehrte – sowie der Wirt der Kohlsberger Höhe – der alte Fischers Wilm es einmal in Nachkirchslaune am Stammtisch seiner Sangesbrüder bezeichnete.

Am Stammtisch in der ‚Kohlsberger Höhe’ kam es auch schon mal vor, dass in den Apfelsaftgläsern plötzlich Cognac funkelte, weil der alte Wilhelm im dunklen Gewölbekeller beim Flaschen nachfüllen zum falschen Demion gegriffen hatte. Dann standen die Karossen der Sangesbrüder auch am nächsten Morgen noch dicht gedrängt auf dem Parkplatz der Wirtschaft gegenüber der kleinen Klosterkirche, weil sie alle notgedrungen in einer Droschke den Heimweg antreten mußten.

Eine Droschke benutzen zu können hätte Leinewebers August sich auch sicher so manches Mal gerne gewünscht, wenn er per Pedes mit seinem Koffer auf dem Rücken die Haushalte in den abgelegenen Hofschaften und Außenbezirken abklapperte und seine Waren feilbot.
Kurz gesagt war August ein ambulanter Kurzwarenhändler – lang gesagt war er viel mehr. Für die Menschen in den einsam liegenden Kotten und Höfen war er häufig die einzig regelmäßige Verbindung zur Außenwelt.

Die Männer betrafen seine Besuche weniger direkt. Da war es eine gemeinsam gerauchte Zigarette, vielleicht hier und da ‚een Upjesatten’ mit ein paar Bemerkungen über die alte oder neue Politik im Lande.

Bei den Frauen war es da schon anders, wenn er in den Wohnküchen oder Stuben seinen Koffer öffnete.
Einen leichten Hauch von Paris oder Mailand meinte man dann durchs Zimmer huschen zu sehen – zumindest signalisierten die Augen der Frauen dieses Empfinden angesichts der modischen Knöpfe, der Strümpfe und Strumpfbänder oder auch Schals der neuesten Kreationen der letzten oder vorletzten Modemesse.
Auf jeden Fall – wenn Leinewebers August mit seinen Kostbarkeiten erschien, fühlten sich die Menschen mit der Welt draußen verbunden.
Selbst wenn ich August Jahre später – als er sich schon im hohen Alter befand – hin und wieder noch einmal zu Gesicht bekam, sah ich immer noch den Koffer auf seinem Rücken, obwohl der schon längst den Weg alles Irdischen gegangen war.

Den Weg allen Irdischen ist auch Luchtenbergs Ernst längst gegangen, und besieht sich seitdem von hoher Warte seinen ‚Schulweg’ der ihn jeden Tag von der Lacher Straße in Widdert durchs Tal auf die jenseitige Höhscheider Höhe in die Schule an der Wienerstraße führte.

Wieviel Paar Schuhe mag er wohl auf diesem Weg in den Jahren seines ‚Lehrerseins’ an der Wienerstraße verschlissen haben? Der Luchtenbergs Ernst, der nach der Tradition der Familie eigentlich Gärtner werden sollte.
Irgendwie ist er es ja auch geworden, als er sich stattdessen für den Lehrerberuf entschied, und vielen kleinen menschlichen Pflänzchen – die alle noch grün hinter den Ohren waren, wenn sie in seine Obhut kamen – zu geistigem Wachstum und Ansehen verhalf.
Wir liebten ihn einfach, diesen urwüchsigen Pädagogen in seinem alten Tweedjackett und den Kniebundhosen, in denen er, trotz seiner gebeugten Gestalt, nie geckenhaft wirkte.

ee

Bürgerreporter:in:

Ewald Eden aus Wilhelmshaven

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