Siebzehn auf einen Streich ...
Feuilleton
Erinnerungen an schöne Tage …
Es war die Zeit der Herbstzeitlosen - das wäre eine schöne Überschrift. Das fiel mir so spontan ein, als mir – ebenso spontan während eines Gesprächs - der Anlaß für diese kleine Geschichte einfiel. Es war aber nicht die Zeit der Herbstzeitlosen – man könnte wohl eher sagen, es war die Zeit der Vaterlosen.
Die Zeit der vaterlosen Kinder, weil die Väter entweder im Krieg gefallen waren, oder sich noch irgendwo in den sibirischen Weiten in irgendeinem Kriegsgefangenlager befanden. Die westlichen Siegermächte des zweiten Weltenbrandes hatten ihre Kriegsgefangenen zu dieser Zeit schon längst wieder in die Heimat – in eine zerstörte Heimat entlassen. Aber das war nur eine Minderzahl der Väter, die im Kriege an den Fronten gekämpft hatten.
Es war die Zeit der Mittellosen – und es war auch die Zeit der Arbeitslosen. Konjunktur hatten nur die Gasthöfe und Kneipen, die in der Nähe einer Stempelstelle angesiedelt waren. Stempeln gehen mag heute in den Ohren vieler junger Menschen unbekannt und exotisch klingen, für die Generation nach dem Kriege – eigentlich nach beiden Weltkriegen – war es ganz sicher eines der schrecklichsten Wörter im Sprachgebrauch. Es wurde in seinem Negativwert nur noch übertroffen von dem Wort Schwindsucht.
In eben diesen Kneipen blieb häufig schon ein erklecklicher Teil des wenigen Geldes, das vom Sinn her für den Lebensunterhalt der Familie bestimmt war. Die Wirtinnen und Wirte freute es, die Mütter und Kinder daheim wohl weniger.
In unserer Siedlung hatten eine Handvoll umsichtiger Männer einen Verein gegründet. Ich höre jetzt garantiert aus einer Ecke den bekannten Spruch: Wenn drei Deutsche zusammenkommen, gründen sie einen Verein.
Das mag so sein.
Doch in diesem Fall lagen die Dinge ein wenig anders. Eine handvoll Männer rief einen Verein ins Leben, um den Kindern in unserer Siedlung – den Kindern an unserer Schule – ein wenig den kargen Nachkriegsalltag erträglicher zu gestalten. Mögen die Gründe dafür auch vielfältig gewesen sein.
Ein, als Lehrlingsheim ausgedientes, Gebäude der ehemaligen Kriegsmarinewerft wurde angemietet, und in mühsamer, aber liebevoller Eigenarbeit so hergerichtet, dass wir Schulkinder einmal im Jahr, während der regulären Schulzeit, eine Woche verreisen konnten.
Alle Kinder – ohne Ausnahme !
Nach meiner Erinnerung ist es nicht vorgekommen, dass auch nur einmal ein Kind zu Hause bleiben mußte, weil die Eltern kein Geld hatten, um die Reise zu bezahlen.
Die monatlichen Beiträge waren niedrig angesetzt – so niedrig, dass auch den Familien mit geringstem Einkommen die Mitgliedschaft möglich war. Eine Mark musste jede Familie an jedem Monatsersten in die Vereinskasse einzahlen.
Unabhängig von der Zahl der Kinderköpfe im Hause. Es wurde kein Unterschied gemacht, zwischen kinderreich und kinderarm. Nicht selten wurde sogar Familien, in denen kein Vater, dafür aber noch größere Not zuhause war, der Beitrag ganz erlassen. Heute denke ich so manches Mal, irgendwie war trotz häufig fehlender Feuerung damals die Welt um einiges wärmer.
Mag sein, ich täusche mich.
Wenn es dann endlich Montagmorgen hieß: „Leinen los“ und der altersschwache Omnibus röhrte und stampfte mit röhrender Maschine Kurs Schweinebrück – dann fuhren wir mit Hurra und Gejuchze sieben Tagen Glück entgegen. Allein die Fahrt dahin – durch die wunderschöne friesische Wehde und längs des Neuenburger Urwaldes – trieb unseren Adrenalinspiegel – wenn wir denn so was schon hatten – in himmelhohe Höhen. Es war aber auch zu schön, in einem Omnibus durch die Lande kutschiert zu werden, der nicht nur röchelte und keuchte, wie der altersschwache Gaul von Kohlenhändler Pieper, wenn er einmal die Woche durch die Siedlung zog, um den Leuten, die es sich leisten konnten Kohlen zu kaufen, Kohlen zu verkaufen. Die Bezeichnung Kohlen war bei dem, was die meisten ins Haus gebracht bekamen, wohl nur der Deckname.
Die Zeit der Tarnbezeichnungen war ja noch nicht allzulange Vergangenheit. Die meisten konnten sich nämlich nur Schlammkohle leisten. Das war angefeuchteter Kohlenstaub. Heute würde man wohl sagen, igittigitt – wat’n Schietkram. Wie gesagt heute. Damals war es schwarzes Gold. Bloß Goldstaub eben.
Für den Kohlenhändler war es, trotz des niedrigen Preises, sicherlich noch ein gutes Geschäft.
Nur bei uns, in unserem Hause, konnte er kein Geschäft damit machen. Wir waren Königs – wir brannten Torf. Wir brannten Torf aus dem eigenen Moor. Wer konnte das schon in unserer Armeleutesiedlung von sich sagen.
Für uns Kinder hatte sich auf jeden Fall plötzlich das Paradies aufgetan. Für die allermeisten von uns jedenfalls. Schulferien hatten wir natürlich, wie heute auch – aber verreisen? Und gar irgendwohin in fremde Lande – das gab es noch nicht.
Wir verbrachten die schulfreien Wochen zu Hause – in den Weiten des Groden vor dem Deich und in den Trümmerbergen der nach dem Kriege zerstörten Seeschleusen. Wir angelten auf Abessinien, und wühlten uns durch den Schlick des alten Voslapper Hafen.
Das weiteste Ferienziel war unser alter Leuchtturm. Unser Leuchtturm war es, weil er einmalig war in seiner Bauweise. Er stand wie ein unerschrockener einsamer Zinnsoldat mitten im Wattenmeer – anderthalb Kilometer vom Deich entfernt, am Rande des tiefen Fahrwassers. Manchmal schien er mir wie auf verlorenem Posten zu stehen – der einsame Wächter da im Watt.
Und jetzt so etwas - während der regulären Schulzeit verreisen.
Wir fühlten uns, als wenn wir in einen Feldzug fuhren – na ja, das sollte ich wohl nicht sagen – aber die überlieferten Bilder waren uns noch zu nah. Auch die von freudigem Auszug der Truppen in Feindesland. Wir sangen laut und fröhlich im Chor – und ebenso wie auf den noch zu frischen Erinnerungsbildern, wurden die Lieder von knattern und knallen begleitet.
Wenn der Motor unter der langen Kühlerhaube nämlich nicht röchelte und keuchte, dann knallte und knatterte und furzte er lustig in die Gegend. Es machte ihm wahrscheinlich riesigen Spaß, mit seinen lauten Spätzündungen die Menschen auf den Strassen zu erschrecken.
Das Schullandheim in Fuhrenkamp war wohl keine Weltreise von unserem Ort entfernt, eine gutgenährte Stunde brauchte der alte Veteran, über den gewaltigen Gummirädern, bis er unser Ziel erreichte - aber es lag direkt am Waldrand.
Die meisten von uns wussten zwar schon, wie Wald geschrieben wurde, und was in einem Wald alles so herumstand. Aber einen Wald in natura gesehen – oder gar angefasst – nee, das Glück war den meisten von uns noch nicht vergönnt gewesen.
Auf alle Fälle waren wir glücklich – wir, die wir anreisten. Empfangen wurden wir regelmäßig von den geschäftigen Heimeltern – lange Jahre waren es Mutter und Vater Kalmuszak. Freudig begrüßten uns die Bewohner des benachbarten Altenheims – und weniger freudig die Kinder aus der Abreiseklasse. Für sie war die Glückswoche zu Ende.
Während wir Ankommenden übermütig aus dem Ungetüm von Omnibus herauspolterten, nahmen sie anschließend auffallend schweigsam die, von unseren aufgeregt hin- und herrutschenden Hintern, noch warmen Plätze ein.
Unser Abenteuerglück nahm nun Gestalt an. Waren wir in der letzten Stunde nur erwartungsvoll darauf zugeflogen, befanden wir uns jetzt am Ziel – inmitten des Reiches von Feen, Elfen und Schlaraffia.
Wir wurden sogleich „lehrerschonend“ auf die Zimmer verteilt, wie unser weiser, alter Schulmeister es nannte. Er kannte ja seine Rasselbande aus den Schulalltagen zur Genüge. Als ehemaliger Offizier des Afrikacorps setzte er für Rasselbande allerdings stets die Bezeichnung Pappenheimer. Das lag ihm wohl mehr. Wir wussten aber alle, was er damit meinte.
Alles, was zum pinkeln nicht die Hosen runterziehen musste, wurde zwei Treppen hoch, im Dachjuchhee, einquartiert. Die erste Etage war den Röcken vorbehalten. Das war seine Referenz an die Weiblichkeit, so nannte es Papa Hopf .
Auf jeden Fall lag seine Wohnstube, wie ein unüberwindliches Bollwerk, zwischen Mädchen und Jungenrevier. Direkt am Fuße der knarrenden Treppe ins Obergeschoß. Warum das wohl?
Die älteren unter uns haben gewiß nächtens hin- und wieder versucht, dass Gebiet jenseits der Frontlinie zu erkunden.
Dagegen hatte der alte Stratege in seinem Bunker aber noch eine zusätzliche Sicherung eingebaut – die Wachstube. Das erste Zimmer, das - zum Mädchentrakt hin - an seines grenzte, wurde stets mit sechs von uns Jungens belegt, von denen es ein jeder als Auszeichnung empfand, zum Wachpersonal zu gehören.
Papa Hopf konnte sich beruhigt aufs Ohr legen, und schlafen – zwölf andere Ohren hörten für ihn jedes noch so feine Geräusch, dass über die imaginäre Grenze schlich. Der alte Haudegen kannte wirklich seine Pappenheimer.
Er hielt die streunenden Hunde mit anderen Hunden vom Gehege der ihm anvertrauten Hühner fern.
Immer hat das ganz sicher nicht vollkommen funktioniert – aber nie hat ein gackerndes Hühnchen den nächtlichen Frieden im Hause gestört, und die Federkleider waren morgens auch alle in Ordnung.
So war er – unser alter Papa Hopf.
Der erste Tag war immer viel zu schnell zum Abend geworden. Wir hatten ja nicht die Menge zum einräumen – unser Besitz an Kleidern war in der Zeit noch äußerst beschränkt. Aber wir hatten jede Menge zu erkunden, um unsere Neugier zufrieden zu stellen.
Was hatte sich nicht alles in dem Jahr seit unserem letzten Aufenthalt verändert. Jede Kleinigkeit war uns wichtig – erschien uns riesengroß, und wenn es nur der länger gewordene rotweiss geringelte Schwanz von Nelly, der Hauskatze war.
Nach dem Bettenbauen, und der ersten Vesper, zog es uns stets in die Nachbarschaft – der einzigen übrigens in weitem Umkreis. Wir mussten unsere Omas und Opas im hundert Meter weiter im Wald liegenden Altersheim besuchen.
Jedes von uns Kindern hatte nämlich ‚seine’ Oma, oder ‚seinen’ Opa da gefunden – zumindest für die sieben Tage Aufenthalt.
Für die alten Menschen in dem Gemäuer war der Tag der ersten Kindereinquartierung im lange verwaisten Lehrlingsheim so etwas wie ein Lotteriegewinn gewesen.
Und sie ließen uns an ihrem Glück teilhaben.
Obwohl sie selber wahrlich nicht mit irdischen Gütern gesegnet waren, ging doch niemand von uns bei der Begrüßung leer aus.
Kleine, selbst gebastelte Geschenke, mit Leckereien, wenn auch meist nur winzigen, versüßt, landeten in unseren – nein, nein, nicht in den Hosentaschen - sie landeten gleich in unseren Mündern.
Es kam ja nicht so häufig vor, dass Schlickersachen auf uns niederfielen, wo doch zu Hause bei vielen noch das Brot fehlte.
Am ersten Abend unseres Aufenthaltes hatten wir stets rechtschaffen müde zu sein. So sagte man es uns zumindest immer schon vorher. Die aufregende Erwartung des bevorstehenden Ereignisses, die ungewohnte ferne Fahrt mit dem großen Omnibus, die neue Umgebung, die andere Luft – Luftveränderung macht müde, davon waren alle Großen, die zu Hause zurückblieben überzeugt - unsere Sachen ordentlich einrichten, und, und, und …!
Das traf augenscheinlich auf uns alles nicht zu. Nie waren wir so munter und aufgekratzt wie am ersten Abend im Landschulheim.
Wir waren wohl etwas Besonderes.
Es gab doch auch soviel zu bedenken. Was sollten wir an diesen sieben Tagen ohne einen gut ausgeklügelten Schlachtplan tun. Wie sollten wir uns unseren Klassenkameraden gegenüber verhalten, wenn sie im Schutze der Nacht den Versuch unternahmen, die Front zu den Mädchen zu durchbrechen? Und wie sollten wir, umgekehrt, den Angriffen der Versucherinnen standhalten, zu deren Schutz wir aufgeboten waren?
Es war schon ein Kreuz – denn, mich hatte es wieder einmal in die Wachstube verschlagen - mit fünf meiner Schulkameraden. Papa Hopf hatte Wochen zuvor – noch lange vor der Zeit – schon festgelegt, wer wann, wohin und wieso. Seine Witwe, die wir noch lange nach seinem plötzlichen Tode regelmäßig besuchten, hat es uns irgendwann erzählt.
Und irgendwann in der Nacht erwischte uns doch der Schlaf, und es war Ruhe im Schiff.
Der folgende – also der erste ‚richtige’ Tag in der Glücksfreiheit war für jede Schulklasse oder Gruppe Arbeitstag.
Arbeitstag hört sich schlimm an, war es aber nicht. Arbeitstag – dass hieß, alle Mann raus in den Wald – raus in den Wald, und Kienäppel sammeln. Wer nicht weiß was Kienäppel sind – Kienäppel sind Kiefernzapfen. Wir sammelten natürlich nicht nur Kiefernzapfen.
Die Fruchtstände aller Nadelbäume waren uns willkommen – oder besser gesagt, sie waren unserem Herbergsvater hochwill-kommen.
Ihm waren sie Brennmaterial für den großen Kessel, der dafür sorgte, dass wir warmes Wasser und in kühlen Nächten ebenso warme Hintern hatten. Das große Haus wurde schlicht und einfach mit Kiefern- und Tannenzapfen beheizt. Auf diese Weise schonte man die Vereinskasse in löblicher Manier.
Auch dadurch konnte allen Kindern unserer Schule der alljährliche Aufenthalt ermöglicht werden. Es war aber nicht allein das preiswerte Kesselfutter, das dazu beitrug. Wir Kinder trugen auch sonst noch einen gehörigen Teil dazu bei.
Innerhalb unseres Schulgrundes befand sich ein riesiger Garten. Nicht etwa in der Art der öffentlichen botanischen Gärten, wie sie in vielen Städten zu finden sind. Auch nicht dem englischen Garten in München, oder gar den Gärten von Versailles nachempfunden – iwo, unser Schulgarten war ein profaner und sehr ertragreicher Essgarten, in dem alles wuchs und gedieh, was Mensch verzehren konnte. In dem alles wuchs und gedieh, was wir Kinder unter fach- und sachkundiger Anleitung unserer Lehrer in ihm säten und pflanzten. Wir gruben die Äcker, wir arbeiteten fuhrenweise den Mist ein, den Fuhrmann Janssen aus dem sieben Kilometer entfernten Hooksiel mit seinem alten Dieselross von Fendt regelmäßig im Herbst für geringen Lohn herantuckerte.
Es wohnten ein paar vornehme Leute im Umfeld der Schule – zumindest hielten sie sich dafür – die sagten wohl Stalldung, wenn sie von der bevorstehenden Düngeraktion sprachen. Ihre Vornehmheit war aber nicht sehr standhaft, denn kaum waren die Treckeranhänger entladen, und der warme Haufen duftete stillzufrieden vor sich hin, hörte man ganz unvornehm von diesen vornehmen Leuten: „Hier stinkt es aber gewaltig nach Mist.“ Solche Aussprüche berührten uns aber nicht im Mindesten – wir hatten doch sonst genügend reine Luft zur Verfügung. Und die auch noch kostenlos.
All das, was in unserem Schulgarten geerntet wurde, ging den Weg nach Schweinebrück. Es wurde in die Küche und den Keller unseres Schullandheimes verfrachtet. Und es war nicht gerade wenig, was wir Freizeitgärtner so produzierten.
Und das alles beschickten wir außerhalb unserer Unterrichtszeit. Es war schon ein beeindruckendes Bild, wenn wir nachmittags aus allen Richtungen kommend, als Miniackerbauern mit Spaten und Hacken ausgerüstet, den Schulgarten ansteuerten.
Saatgut und Pflanzen brachten wir Kinder von zu Hause mit. Das eine mehr – das andere weniger. Wie es die häuslichen Umstände gerade zuließen. Es wurde niemand gering geachtet, nur weil er weniger beisteuerte, als die anderen. Papa Hopf war es sehr wichtig, Solidarität in uns zu wecken. Er war nicht nur bei den Pflanzen im Garten ein hervorragender Gärtner – er verstand es auch meisterlich, die Pflänzchen in unserem Bewusstsein heranwachsen zu lassen.
Zu allen Siedlungen gehörten Gemüsegärten zur Selbst-verpflegung – und in jedem Garten wurde ein wenig Saatgut abgezweigt. Auf diese Art war unser Schulgarten wohl der sortenreichste Garten in der ganzen Umgebung. Es gab kein heimisches Obst oder Gemüse, dass nicht in unserem Garten zu finden war. Sogar Blumen waren auf kleinen Rabatten überall zwischen den Äckern zu entdecken. Papa Hopf legte sehr großen Wert auf Tischkultur. Und dazu gehörten für ihn unumstößlich Blumen. Auf diese Weise pflanzte er Verhaltensweisen in unsere kleinen Köpfe, die unser ganzes Leben prägen sollten.
Den zweiten Tag unserer Glückswoche durften wir in der Regel selber gestalten. Nur die Tischzeiten mussten wir einhalten. Ich kann mich nicht erinnern, dass mal eines von uns Kindern zu spät an der Tafel erschienen wäre – obwohl nicht einer von uns eine Uhr besaß. Kaum waren die letzten Töne der großen alten Schiffsglocke zwischen den Baumwipfeln verschwunden, saßen wir auch schon alle in langer Reihe an den Tischen. Mit sauberen Händen – das muß ich betonen. Darauf richtete Papa Hopf stets sein besonderes Augenmerk. Tadel in dieser Richtung war aber nur anfangs unserer gemeinsamen Aufenthalte aus seinem Munde zu hören gewesen.. Für uns waren reinliche Hände bei den Mahlzeiten schnell zur Selbstverständlichkeit geworden. Im ersten Jahr hatte er hier und da schon mal mit leichten Maßnahmen nachhelfen müssen – besonders bei Jonny, Heini und Herbert. Die drei nahmen innerhalb unserer kleinen verschworenen Gemeinschaft aufgrund ihres höheren Alters eine Art Sonder-stellung ein. Natürlich nur auf der Schülerseite. Mit der Lehrer-seite taten sie sich des Öfteren schon etwas schwerer. Die drei Spezies waren nämlich dreimal „backen“ geblieben. Herbert, der Anführer, tat immer lauthals kund, ihre Nichtversetzung hätten sie schließlich nur ihrer Beliebtheit bei den Lehrern zu verdanken.
Papa Hopf nickte nur immer verständnisvoll, wenn einer der drei diesen Spruch mal wieder zum Besten gab.
Während einer unserer ersten Busfahrten ins Paradies erzählte Papa Hopf mal wieder eine seiner Afrikageschichten. Er gehörte im Kriege zu Feldmarschall Rommels Wüstenfüchsen, und wusste faszinierend davon zu berichten. Es drehte sich hauptsächlich darum, wie sie sich in bestimmten Lebens-situationen mit gegenseitigen kleinen Gefälligkeiten durch die Zeit geschlagen hatten. Hier ging es im Besonderen um das Verhältnis zwischen deutschen Soldaten und einheimischen Nordafrikanern.
Jonny, Heini und Herbert hatten gut aufgepasst – sie hatten wieder etwas dazugelernt. Und sie brachten ihr neues Wissen am Abend desselben Tages auch noch an den Mann.
Am Abendbrottisch erschienen die drei mit einer blitzsauberen rechten, und mit einer ziemlich scheddrigen linken Hand.
Papa Hopfs fragend hochgezogene Augenbrauen wussten sie elegant zu parieren: „Sie haben uns heute im Bus erzählt, in bestimmten Situationen wäscht eine Hand die andere.“ So schlaue Kerlchen muß doch jeder Lehrer lieben.
Um acht Uhr abends - ein mittelalter Vertretungslehrer wollte uns einmal partout beibringen 20 Uhr zu sagen, vergeblich allerdings – also um acht Uhr hieß es allgemein. „Bettklar machen.“ Dagegen gab es auch kein Aufmucken – in unserer Klasse zumindest nicht. Wussten wir doch allesamt Papa Hopfs Bücherkiste zu schätzen. Er schleppte in unser Siebentageglück jedesmal einen riesigen Überseekoffer mit. Zum bersten gefüllt mit Lesestoff. Nur für uns. Wir durften stets über die obligatorische Zehnuhrlichtausschlafenszeit hinaus unsere Nasen in Bücher und Heftchen stecken. Um Himmelswillen – nein, keine Pflichtlektüre. Auf Schulbücher wären wir auch wohl schwerlich angesprungen.
Micky Maus, Jimmy das Gummipferd, Nick Knatterton, Tarzan, Tom Prox, Zorro, Billy Jenkins --- und wie unsere Helden alle hießen. Die bezopften zarten Geschöpfe in unserer Klasse bevorzugten in der Regel natürlich andere Titel und Geschichten – da ging es dann mehr um Heidi, um das doppelte Lottchen, oder um Ferien auf Immenhof. Jeder durfte nach Lust und Laune schmökern. Vielen von uns hat Papa Hopf dadurch den Weg in die Welt der Bücher geöffnet – denn wer hatte von uns zu Hause schon mal in einem Buch gelesen, das kein trockenes Schulbuch war. Einmal ganz davon abgesehen, dass in den meisten Zuhausen gar keine anderen Bücher vorhanden waren.
Das war aber immer erst nach dem gemeinschaftlichen Abräumen der Abendbrottische. Nach den Mahlzeiten die Tische ordentlich abräumen war stets unser gemeinsames Werk - genauso wie das schälen der Kartoffeln. Der größte Berg Kartoffeln musste immer Mittwochs von der Schale befreit werden. Mittwochs gab es zu Mittag Kartoffelpuffer – oder sollte ich Reibeplätzchen sagen?
Stapelweise Kartoffelpuffer – mit Apfelmus, mit Marmelade, mit Sirup oder Zucker .… grad so wie es jeder mochte. Unser Paule – Paul Schroeder – der schoß bei den Kartoffelpuffern regelmäßig den Vogel ab. Nicht nur, daß er am meisten davon verdrückte – nicht nur das - er bestrich sie sich auch noch alle mit scharfem Mostrich. Naja – er hatte auch wohl schon einen Erwachsen-engeschmack. War er doch vier Jahre älter als die meisten von uns. Nach viermal sitzen bleiben durfte er das auch sein. Es nahm ihm keiner übel – im Gegenteil, hatte er uns allen doch manches voraus. Zum Beispiel schon richtige Haare an seinem Schniedel-wurz.
Paule war obendrein auch ein richtiges kluges Bürschchen. Turnen stand noch auf unserem Stundenplan – nicht Sport, so wie heute. Schwarze Turnhose, weißes Achselhemd – das war allgemein unser Sportdress.
Paule wusste seine natürliche körperliche Voraushaftigkeit in bare Münze umzusetzen. Er ließ uns, die wir noch nicht soweit gediehen waren, während der Turnstunden einen Blick in seine Turnhose werfen. Gegen eine Gebühr von fünf Pfennig.
Auf diese Art sahen wir Jungen, wie auch wir demnächst aussehen würden. Er war für uns oft das Guckloch in eine noch fremde Halberwachsenenwelt. Waren doch für uns Fernsehen, und so wie heute die zahlreichen freizügig illustrierten Magazine noch unbekannte Größen. Heute prangen auf den Titelseiten der Illustrierten die freizügigsten Nixen im Evakostüm – wir bekamen in der Werbung in den Jahren unserer Kinderzeit immer nur züchtig verpackte Frauenkörper zu Gesicht. Heute kullern von jeder Plakatwand die tollsten Brüste – und die jungen Leute schauen gar nicht mehr hin. Wenn ich da an die Werbephotos für die Korsagen unserer Mütter und Großmütter denke, die wir zu sehen kriegten. Nachträglich graust es mich. Die Schnürkorsetts mit den Fischbeinstangen besaßen mehr Ähnlichkeit mit den Panzerspähwagen der Wehrmacht, als mit der modischen Unter-kleidung von heute.
Jedenfalls war unser Kartoffelpuffertag immer ein Festtag. Wir durften nach Herzenslust schlemmen. An diesem Tag ersetzten unsere Finger Messer und Gabel, bis unsere Bäuche zu platzen drohten – und Papa Hopf schaute vergnügt lächelnd zu. Er bereitete uns diese Freude auch wohl zu seiner eigenen Freude. Er durfte nämlich keine Riefplätzker essen – seine Galle, die mit einem gehörigen Stückchen seines Magens in Ägypten, in der Wüste geblieben war, nahm ihm solche einfachen Feste einfach übel. Ich hab manchmal gedacht, Gallen können ganz schön gallig sein – selbst wenn sie gar nicht mehr da sind.
Oft sind sie auch noch nachtragend bis hintengegen.
Papa Hopf saß während des Essens immer mitten unter uns. Immer mit in der Reihe an den blankgescheuerten Tischen, über die nur des Sonntags wunderschöne Tischdecken gebreitet wurden. Das war dann schon äußerlich ein Festtag. Auch die anderen Lehrer, die uns begleiteten, saßen mit an den großen Tischen. Papa Hopf hätte es nicht anders geduldet. Sicher – es gab einen kleinen Extratisch für das ‚Lehrpersonal’ – so hatte es einmal irgendein Begleitlehrer bezeichnet, als er sich daran niederließ, und seine Mahlzeit standesgemäß und unbehelligt von den Blagen, wie er sich ausdrückte, einnehmen wollte. Er mußte ganz was anderes einnehmen. Er bekam zwar sein Menü an den Extratisch serviert, an dem er übrigens ganz alleine saß. Er hätte sich in punkto Tischsitten und -gebräuche besser am Verhalten seiner Kollegen orientieren sollen, denn während der sich anschließenden Mittagsruhe verpasste Papa Hopf dem jungen Kollegen in seinem Bunker als Nachtisch einen Einlauf, der ihm wohl, nach seinem Gesicht zu urteilen, sehr schwer im Magen lag.
Oh Gott, was tat es uns gut – und wir hatten nicht einmal ein schlechtes Gewissen, weil wir mit dem Ohr an der Wand gelauscht hatten. Der Vertretungslehrer hat sich nie wieder an den Tisch für das Lehrpersonal gesetzt.
So einen Papa Hopf - den hatte ich mir einige Jahre zuvor sehnlichst gewünscht. Einige Jahre zuvor war mir nämlich ein scheinbares Glück widerfahren. Es war noch die Zeit der Care – Pakete. Die Zeit der Hilfsgütersendungen aus den USA für die darbende deutsche Bevölkerung. Landepunkte dieser Paket-transporte waren in der Regel die gemeindlichen Pfarrämter, oder hier bei uns im Norden verständlicher die Pastoreien – weil hier im plattdüütschen Norden reformiert dominiert. Der Pastor in unserer Gemeinde war an sich schon eine Marke für sich. Im Umgang mit jungen Menschen war er eine Null mit drei Nullen vor dem Komma. Wenn man die Gemeindegröße an der Verteilung der Wohltaten maß, dann zählte sie nicht mehr wie ein paar Dutzend Häupter. Aus einem unerfindlichen Grund war dem guten Gottesmann plötzlich eingefallen, dass unsere Familie ja auch dazugehörte. Es wäre ihm besser nicht eingefallen, habe ich wenig später gedacht. Mein Name stand auf seiner Liste der erholungsbedürftigen Kinder, die auf Kosten, und im Namen der Kirche, in ein Heim verschickt wurden. Sie sollten auf diese Weise ein wenig aufgepäppelt werden.
Die Größe meiner Freude, als ich davon erfuhr, war unermeßlich klein. An mir fehlte kein Pfund – mich konnte man schon eher als Musterbeispiel dafür betrachten, wie gutgenährte Kinder auszusehen hatten. Mama meinte aber, wenn der Pastor mich schon mal ausgeguckt hätte …, und sowieso wäre die Gegend, in der das Heim läge, sehr schön. An einem großen See gelegen, mit vielen Fischen darin - und das auch noch mitten im Wald. Und wir müssten uns dem Pastor doch dankbar zeigen, wenn er schon so großzügig …!
Genau das hat der Pastor auch wohl gedacht, als er meiner Mutter die freudige Botschaft überbrachte. Ich hatte nämlich genau gesehen, wie er mit anderthalb Augen verzehrend zu den Speckseiten und den Mettwürsten an der Küchendecke schielte. Von denen er denn auch gleich eine gehörige Portion mit auf den Weg nach Hause nahm. Er wollte im nächsten Gottesdienst für uns beten, sagte er zum Abschied. Was er denn auch getan hat. Ich habe genau mitgezählt – drei Worte pro Mettwurst und Schinkenstück. Verdammt teuer, so ein Gebet, fiel mir in meinem kleinen Kinderverstand nur dazu ein.
Mir war das ganze sowieso nicht recht verständlich. Was sollte ich in diesem ‚Erholungsheim’? Bäume standen bei uns im Garten – und Wasser mit Fischen drin hatten wir doch vor dem Deich reichlich genug. Naja – es blieben fruchtlose Kinderargumente. Das kennt man ja zur Genüge.
Und dann war ich da. Nach drei Stunden Fahrt im Bummelzug, der unterwegs auch noch an jeder Milchkanne anhielt – und fünf Kilometer Gänsemarsch, taten sich für uns die Türen des Paradieses auf. Mein erster Gedanke angesichts der niedrigen, braunroten Überbleibsel aus tausendjähriger Geschichte, war: Ich bin doch nicht lungenkrank.
Denn das Bild kannte ich zur Genüge – hatte ich doch schon einige male mit meiner Mutter unseren an TBC dahinsiechenden Vater in der Lungenheilstätte im benachbarten Wildeshausen besucht. Hier sah es nun genauso einladend aus. Und gemustert wurden wir von den draussen wartenden Kindertanten auf die gleiche Weise. Ich fühlte deutlich, dass unser Anblick ihnen riesige Freude bereitete.
Bevor wir eingelassen wurden, inspizierte und instruierte eine handvoll weißer, steifgestärkter Schürzen die Schar der Neuan-kömmlinge gründlich. Ich wartete eigentlich nur noch darauf, dass wir in eine Desinfektionskammer gesteckt wurden. Das Prozedere kannte ich auch. Auf diese Idee war hier aber allem Anschein noch niemand gekommen.
Etwas übten wir aber, bevor wir im Inneren des Erholungsheimes verstaut wurden. Gegenüber der Hauptbaracke, in der sich der Speisesaal befand, stand am Seeufer über dem Wasser ein überdachter dreiseitiger Windschutz. Mein kleiner Kinderver-stand, der ja bei uns im alten Seglerhafen zu Hause war, vermutete Boote unter dem Wetterdach. Diese Vorstellung weckte in mir die Hoffnung auf rudern und angeln. Mit dieser Hoffnung lag ich aber soweit daneben, wie Grönland von Dänemark entfernt ist. Und das ist ganz schön viel weit – und ganz schön viel naß. Dieses Gebilde aus der Zeit der Straflagerfunktion diente einem völlig anderen Zweck. Es war die Latrine – unsere Toilette für die Tage unseres Aufenthalts im Kindererholungsheim Ahlhorner Heide.
„Das ist euer Abtritt“ – richtig schön melodisch sang die Oberschürze es in den Nachmittagshimmel. Sie klang wie die Vorsängerin bei uns zu Hause im Kirchenchor.
„Jetzt wollen wir gemeinsam üben, wie wir uns zu verhalten haben, wenn wir zur Toilette gehen müssen. Alles in Zweierreihe antreten.“ Das klang schon nicht mehr so kirchenchormäßig.
Links und rechts führte ein Brettersteg auf die Plattform des Pfahlbaues.
Unter dem Dach waren in langer Reihe, nach vorne offene Nischen abgeteilt. In den Nischen mußten wir uns auf ein Brett setzen, das in der Mitte mit einem Loch versehen war. Es war gerade so groß, wie unsere Kinderpopos rund waren. Jedesmal wenn etwas aus unseren Hintern ins Wasser plumpste, streichelten die Spritzer unsere Sitzflächen. Irgendwie war das doch schon ganz modern. Als Toilettenpapier dienten auf Größe geschnittene Zeitungsseiten. Ganz praktisch – und preiswert. Nur einen Nachteil hatte diese Art der Altpapierverwertung – unsere vom Seewasser besprenkelten Pobacken waren oft anschließend kohlrabenschwarz von den gedruckten Nachrichten der Weltpresse.
Und dann geschah etwas, bei dem ich mir ganz bestimmt einen Papa Hopf gewünscht hätte – aber ich kannte ihn ja noch nicht.
Der Speisesaal, und das was uns in den nächsten Wochen in ihm erwartete. An langen, schlichten Holzbänken saßen wir auf ebensolchen Bänken ohne Rückenlehne. Soweit war es überhaupt kein Beinbruch – wir waren ja jung. Porzellan oder Steingut schien in den Speisesaal noch keinen Einzug gehalten zu haben. Alles war aus Metall. Messer, Gabeln, Löffel, Teller, Becher und Kannen – alles war aus Blech. Richtig schön laut und verbeult. Wie dachte ich an den mit Liebe gedeckten Tisch bei uns zu Hause. Besonders, wenn ich in die gegenüberliegende Ecke schaute - von meinem Platz aus ging mein Blick immer wieder dahin. Ich brauchte nur den Kopf zu heben, und schon sah ich es wieder. Meine Augen landeten jedes Mal auf einen wunderschön gedeckten Tisch, auf dem es an nichts fehlte. Goldgelbe Butter, leuchtender Käse, Wurst und Schinken, feinste Konfitüre und Brot in mehreren Sorten – und das alles auf blendend weißem Tischtuch, inmitten bunten Porzellans. Es war der Tisch der weißgestärkten Schürzen. Das Wort Kirche hat damals in der Ahlhorner Heide in meiner Kinderseele eine ganz dicke Beule abbekommen. Heute, nach so langen Jahren, kann ich sie noch deutlich fühlen.
Während unserer Aufenthalte in Fuhrenkamp hat sich meine – und auch die der anderen Kinder Seele – keine Beulen und blauen Flecken gestoßen. Selbst an den Donnerstagen nicht, denn donnerstags war Unterrichtstag. Unterrichtstag war eigentlich jeden Tag, denn wir lernten ja ständig dazu. Nur donnerstags ging es im großen Speisesaal richtig mit Tafel und Kreide zur Sache. Nicht das kleine oder das große 1x1 – auch nicht um Brüche, oder Teiler und Nenner – nein, es ging um die Tiere und Pflanzen des Waldes in unserer Umgebung. ‚Lernen dort, wo die Tiere und Pflanzen zu Hause sind. Wasser ist immer am reinsten an der Quelle’ – das war einer der Lieblingssprüche unseres weisen Lehrers. Alles das, was er uns lehrte, betrachtete er als ein Wasser, das unseren Wissensdurst stillte.
Donnerstagabend wurde Theater gemacht. Kein Krach und Klamauk mit streiten und hauen und stechen. Rüpeleien und Zank waren uns seltsamerweise fremd. Wir spielten donnerstags Theater. Richtig mit Rollen für jeden, und üben. Was wir spielten, war immer uns selbst überlassen. Papa Hopf ließ sich jedes Mal überraschen. Dankbares Publikum war uns immer gewiß. Unsere Aufzeitomas und unsere Aufzeitopas aus dem Altenheim bildeten unser Stammpublikum. Sie alle waren darüber genauso glücklich wie wir, denn Besuch aus ihrem Leben vor der Altenheimzeit war selten – allzu selten in ihrem Alltag. Sie hatten uns – und wir hatten sie. Das war doch auch was.
Eine meiner Rollen sehe ich heute noch so wirklich vor mir, als wenn es gestern war. Es war eigentlich nur eine Rolle am Rande – ohne wirkliche Funktion, aber ohne sie schien nichts zu funktionieren.
Ich spielte in einem königlichen Stück den Oberhofzere-monienmeister Frettsack van Wölterbuuk. Wirklich eine tragende Rolle – ich musste nämlich nahezu alle Kissen, die es im Heim gab, unter meinem weiten Umhang mit mir herumtragen. Und das eine ganze Stunde lang. Ich durfte alles anstellen – ein Oberhof-zeremonienmeister hat ja am Hof das Sagen – nur stolpern und umfallen durfte ich nicht. Dann mussten mich nämlich zwei andere Jungs erst wieder mühsam auf die Beine stellen. Ich weiß gar nicht, wie oft ich umgefallen wurde. Denn jedes Mal, wenn ein Schauspieler mit seinem Text hängen blieb, war mein ‚Umfaller’ dran. Die Dielen in unserem Speisesaal brauchten am nächsten Morgen nicht gebohnert zu werden.
Der nächste Morgen. Am nächsten Morgen hieß es in aller Herrgottsfrühe raus aus den Federn. Der Freitag war unser Wandertag. Per Pedes waren wir ja sowieso ständig unterwegs, aber nur immer in der näheren Umgebung. Es gab soviel zu erkunden.
Nur freitags – Freitags war alles anders. Die Küchenfeen waren seit Sonnenaufgang damit beschäftigt, unsere Marschverpflegung transportfertig zu verpacken. Ein zweites Frühstück, Mittagessen, Vesperbrot – alles wurde in Pergament eingetütet. Zu Mittag hieß es auf unserer Wanderung kalte Küche. Wir litten aber keinen Hunger, und mußten nichts entbehren. Alles war reichlich und schmackhaft vorhanden. Bis wir wieder glücklich, aber todmüde in Fuhrenkamp eintrudelten waren viele Stunden vergangen, viele Kilometer unter unseren Füßen dahin gelaufen, und viel neues Erleben hatte sich in unsere Köpfe eingenistet. Im Schullandheim war dann nur noch umfallen angesagt. Die folgende Nacht brauchte niemand auf leise schleichende Sohlen zu horchen.
Samstags war der Tag des Sports. Die große Sandkuhle zwischen unserem Domizil und dem benachbarten Altenheim war die Sportarena. Herrgottnochmal – ich bin nie ein Vorzeige-sportler gewesen, aber in unserer Sandkuhle war Sport etwas Wunderbares.
Ohne Druck von oben leisteten wir manchmal erstaunliches. Regelmäßig durch unsere ‚Sportskanonen’ angestachelt, kam oftmals schon was Sehenswertes dabei heraus.
Wenn das Wetter es einmal nicht zuließ, unter freiem Himmel zu ‚sporten’, dann kam unsere Boxbude zu ihrem Recht. Unsere Boxbude war eine reetgedeckte Halle mit Naturfußboden - gleich hinter dem Altenheim gelegen. Für uns waren diese Tage mit nichts zu vergleichen, denn Turnunterricht, zu Hause in der Schule, hieß mit Schlacke bedeckter Schulhof und draußen. In unserer Siedlung gab es noch keine Turnhalle.
Der Sporttag war der zweite Tag, der uns während unseres Aufenthaltes immer ein wenig abschlaffte. Das heißt, der Wander- und der Sporttag machten uns rechtschaffen bettmüde. Es gab nach dem Lichtaus keine Streifzüge in verbotenen Revieren. Eine wirkungsvolle Taktik der Erwachsenen, denn freitagabends war der Lehrer- und Heimelternabend. Es war ein privater Abend der Betreuer mit Gesprächen, mit Erfahrungen austauschen, und wohl auch mit einem Gläschen Wein.
Samstagmorgen hieß es vor den sportlichen Aktivitäten für uns alle erst einmal Reinschiff machen – aufklaren – unsere Spuren beseitigen, damit die nachfolgende Gruppe alles pikobello vorfand. Am Spätnachmittag – nachdem wir uns körperlich ertüchtigt hatten (körperliche Ertüchtigung war die offizielle Bezeichnung für Sport, in Wirklichkeit hatten wir uns ausgetobt) - hieß es dann schreiben. Furchtbar hört es sich an – ich weiß, aber das hört sich auch nur so an. Wir mußten die Erlebnisse der hinter uns liegenden Tage zu Papier bringen. Wir mußten einen Aufsatz schreiben. Nicht das er benotet wurde, aber einen guten Eindruck sollte er doch schon hinterlassen. Der frühe Abend stand uns dafür zur Verfügung. Es gab kein Limit – und wann, und wie, und mit was wir den Aufsatz zu Papier brachten, das spielte auch keine Rolle. Er mußte nur leserlich geschrieben sein, und Sonntag-morgen vor dem Frühstück abgegeben werden. Papa Hopf ließ uns sozusagen gewisse künstlerische Freiheiten. Ich hatte meinen Erlebnisbericht gleich nach der Vesper eilig auf dem Balkon zurechtgeschustert. Wofür hatten wir schließlich dieses Ding vor unserem Zimmer außen an der Wand hängen.
Der Nachtkasten an meinem Bett mußte mein schriftstellerisches Werk bis zum nächsten Morgen für mich verwahren. Ich hatte nachmittags geschrieben, weil ich mich noch vor dem Abendessen bei meiner Aufzeitoma sehen lassen wollte.
Normalerweise ging es am Samstagabend immer etwas bewegter im Hause zu. Und es dauerte wohl auch länger, bis Ruhe im Schiff herrschte. An diesem Samstagabend herrschte eine ungewöhnliche Ruhe. Na ja - alle waren wohl etwas kaputt nach den anstrengenden Tagen. Die Jungs aus dem Dachjuhee ließen sich schon früh nicht mehr blicken. In unserer Wachstube würde es auch eine ruhige Nacht werden. Wurde es auch.
Sonntagmorgen – runter zum Frühstück – den Aufsatz nicht vergessen. Mein Aufsatz lag seltsamerweise nicht in der Schublade, sondern oben auf dem Nachtschrank. Egal – ich hatte ihn wohl selbst dahingelegt. Nach dem Frühstück nahm Papa Hopf den Stapel Aufsätze mit in seinen Bunker – das kannten wir nicht anders.
Nachmittags bei Kakao und Kuchen bekam jeder sein Kunstwerk, mit ein paar passenden Bemerkungen versehen, zurück. An diesem Sonntagvormittag hörten wir unseren Lehrer in seiner Studierstube ein paar mal schallend lachen. Da mußte ihm jemand herrliche Witze erzählt haben. Die Zeit bis zum Nachmittag flog in Windeseile durch den Sonntag – als wenn der Abschied am Montagmorgen nach Kräften daran zog. Es war vier Uhr. Der große Speisesaal füllte sich mit gespannten Gesichtern. Aus hohen Kannen duftete Kakao – verlockender Kuchen lag auf den Tellern – und wir warteten, wer gleich das Sternchen für den besten Aufsatz bekommen würde. Einige waren hoffnungsvoller als andere, weil man ja schon mal – und es könnte ja wieder so sein …
Ein kräftiges Papahopfräuspern ließ auf einen Schlag alle schnatternden Geräusche aus dem Speisesaal flüchten. In die anschließende Stille fiel statt eines Sternchens ein Sternenregen. Papa Hopf verteilte ihn mit seinem kräftigen Bass.
Siebzehn Aufsätze hatten ein Sternchen für Fleißarbeit verdient – als Belohnung kam abends für alle noch einmal Kakao und Kuchen auf den Tisch. Darüber, dass die siebzehn Aufsätze alle gleich lauteten - darüber hat der alte Fuchs nicht ein Sterbenswörtchen verloren. Hatten doch sechzehn meiner Klassenkameraden aus dem Dachjuche meinen Aufsatz wortwörtlich abgeschrieben.
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Bürgerreporter:in:Ewald Eden aus Wilhelmshaven |
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