Seewind ...
Seewind …
„Mamaaa ...“
Hell weht Gabis Stimme die Treppe vom Obergeschoß herunter.
„Wann wollten die Mannsleut denn wieder zurück sein? Papa und Opa sind doch zuhause, wenn die Kerzen angezündet werden?“
Gabriele weiß nur, aus dem letzten Telefongespräch mit ihrer Mutter, daß die kleine Flotte vor Tagen noch einmal zum Fang ausgelaufen ist.
Regine hat ihrer Tochter noch nicht gesagt, daß die anderen Kutter schon längst wieder im Hafen liegen. Bis auf die Windsbraut – deren Liegeplatz ist noch leer.
Es wird ihr schwerfallen, ihrer Tochter das zu sagen. Ihr graut, verdammt nochmal, vor den nächsten Tagen - übermorgen ist nämlich Heiligabend.
Die Männer waren vor zwei Tagen zum letzten Fangtörn im alten Jahr ausgelaufen. Das gute Wetter hatte sie dazu veranlasst. Die schwierige wirtschaftliche Lage, in der sie sich seit längerem befanden, bestärkte sie in ihrem Entschluß, es noch einmal anzugehen.
Die Fangquote, von den Bürokraten im fernen Brüssel ihnen zugeteilt, hatten sie in diesem Jahr nicht ausschöpfen können, obwohl sie viele Stunden länger als sonst die See abgegrast hatten.
Trotz der regelmäßigen Kontrollen der Küstenwacht sorgten raubfischende Kollegen aus den Nachbarländern unablässig dafür, daß die Fischbestände in den Fanggründen sich nicht wieder erholten. Die Preise für heimischen Frischfisch lagen derzeit auch platt am Boden, und außerdem konnte das bevorstehende Weihnachtsfest bei den meisten noch etwas Glanz gebrauchen.
Also hatte man die Maschinen noch einmal auf volle Fahrt voraus gebracht. Die Männer an Bord, und ihre Familien im Dorf, hofften alle miteinander auf einen guten Fang. Und wenn nicht – das Geld, das ihnen der Diesel für diese Fahrt kostete, würde ganz sicher wieder reinkommen.
Die Nordsee zeigte den Schippern beim Auslaufen ihr friedliches Gesicht. Im blassen Wintersonnenschein glänzte sie bis zum Horizont in langgezogener Dünung. Der Him-mel strahlte in wunderlichem Blau, nur ein paar muntere Schäfchenwolken tummelten sich am nordwestlichen Rand. Der Wind wehte seit ein paar Tagen beständig aus Südost. Er fühlte sich an wie kühle, flüssige Seide.
Zwischen den Männern auf den Decks flog so mancher derbe Scherz hin und her. Die Stimmung auf den Kuttern war gelöst, sie konnte eigentlich gar nicht besser sein.
Keiner von den Mannschaften war am Morgen mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden, niemandem war auf dem Weg zum Hafen eine schwarze Katze von links nach rechts über den Weg gelaufen – was sollte also schon groß passieren.
Mochte Striebus, der alte Decksmann von Harm Dunker, auch noch soviel über das Wetter orakeln, weil ihm das Reißen in den Knochen heftig plagte. Heute gab da keiner was drauf. Sie waren bloß einfach alle guter Dinge.
Der junge Ehemann habe sich in der Nacht bestimmt nicht gut genug zugedeckt, wie Dirk Krüger augenzwinkernd meinte, als Striebus einmal schmerzhaft sein Gesicht verzog. Striebus – er hieß nach seinem holländischen Opa eigentlich Striemulus Buskool, aber das wußte schon gar keiner mehr - war nämlich vor gut vier Wochen noch einmal in den Hafen der Ehe eingelaufen – und das als alter Knochen von fast dreiundsechzig Jahren. Wiebke, die junge Wittfrau von Jan Böhner hatte er geheiratet. Die stramme Deern war man gerade Mitte dreißig.
Jans Kutter war im letzten Herbst, bei blanker See und Sternenfall, des Nachts mit einem Kümo kollidiert. Beide Schiffe waren innerhalb von Minuten gesunken. Fünf Männer blieben dabei auf See – und der tote Jan wurde vom Seeamt in Emden für Alleinschuldig gesprochen. Der verdammte Alkohol war der Grund für das Seeunglück.
So hatte es wenigstens der Kammervorsitzende in seinem Spruch gesagt, und damit die rechtliche Seite geklärt. Ob es aber wirklich alles so stimmte?
Jan Böhners Versicherung war natürlich hocherfreut über diesen Ausgang der Seeamtsverhandlung.
Brauchte sie doch nach diesem Spruch den Hinterbliebenen ihres Versicherungsnehmers nicht einen Pfennig Entschä-digung zahlen.
Die Männer auf den Kuttern sahen das freilich ein wenig anders. Hautnaher. Sie erfuhren täglich in der Praxis, was los war in der Küstenfischerei. Sie wussten zumeist, welche Spielchen auf dem Rücken der Fischer im Interesse der Mächtigen gespielt wurden.
Jan war nicht der einzige Fischer auf der Insel, dessen Kutter plötzlich viel zu groß ausgelegt war, für die Fang-beschränkungen der feinen Herren – da in Brüssel.
Die Hypothekenzinsen für das neue Haus und das fast neue Schiff, zusammen mit den mageren Fängen, hatten Jan dem Genever in die Arme getrieben. Der Rausch färbte die sich auftürmenden Probleme immer so schön rosarot. Und dann stand Wiebke plötzlich mit den drei Kindern alleine da. Ohne Jan, ohne Geld, ohne Kutter und ohne Haus. Sie hatte über Nacht keinen Mann, und die Kinder keinen Vater mehr an ihrer Seite.
Die Familien der Fischersleute standen ihr im Alltag bei, so gut es ging – aber was war das für ein Leben für Mutter und Kinder.
Tja, so sah es aus bei Wiebke Böhner – bis sie nach dem Trauerjahr mit den drei Lütten zu Striebus ins Haus zog, das für ihn alleine sowieso viel zu groß, und viel zu leer war.
Seitdem seine Lissy vor zehn Jahren den Kampf gegen den Krebs aufgegeben und ihn verlassen hatte, fühlte er sich in dem Gemäuer als Fremder. Das war jetzt wieder anders geworden. Es war wieder Leben eingekehrt, in das Haus am Damenpfad.
Die Männer an Bord gönnten den Fünfen natürlich ihr Glück.
So ein paar harmlose Sticheleien mußte Striebus sich dann und wann aber schon gefallen lassen – wenn die Männer unter sich waren.
„Van wägen so’n ollen Bukk, un so een jungen Zääch“
wie Dirk lachend hinterher schickte, bevor er in der Fahrt voraus noch einen Knoten zulegte.
Die sechs Kutter hatten den ganzen Vormittag über gute Fahrt gemacht. Der Wind hatte die Maschinen kräftig unterstützt – bis er plötzlich schlapp machte. Er war einfach weggeknickt, wie es Bernd Sprit schon mal zu vorgerückter Stunde an der Theke im Hafenkrug passierte, wenn er zuviel von Jan ten Doornkaats Seelentröster verkasematuckelt hatte.
Von einem auf den anderen Augenblick verschluckte sie stattdessen ein pottendickes Nebelfeld, von dem selbst die Männer vom Seewetterdienst, trotz modernster Technik, in ihrer Vorausschau nicht den blassesten Schimmer gesehen hatten.
Das Sehen der Männer auf den Schiffen war auch wie abgeschnitten. Es waberte nur noch eine graue Suppe um sie herum. Sie konnten nicht einmal mehr die Hand vor den Augen erkennen.
De griese Katt, vor der sie alle gehörigen Bammel hatten, hatte sie ohne die geringste Vorwarnung von oben her überfallen.
Gabriele ist derweil unterm Dach in der Giebelstube in ihrem Mädchenzimmer zugange. Sie packt ihren Koffer aus. Sie muß zusehen, daß sie die Geschenke, die sie ihrer Familie zum bevorstehenden Weihnachtsfest mitgebracht hat, gut versteckt.
Klein Hinnerk hat nämlich schon um die Ecke geluurt, um zu erspähen, was sich wohl alles so im Reisegepäck seiner Schwester befindet.
„Häst Du ok all wat van d’ Winachskeerl för mi mitbrocht?“ hatte er seine große Schwester plietsch auszuhorchen versucht.
„Hinni – de Winachskeerl kummt doch eers övermörgen Oabend in d’ Huus.“
Auf diese Antwort von Gabriele kniff der Butscher nur ein Auge zu, als er sagte: „Een bietji har he Di oaber joa all för mi mitdoon kunnt.“
Hinni, Hinni – du büst joa all richtich groot, dachte sie nur im Stillen, und drückte ihren kleinen Bruder einmal fest an sich.
Mit der ersten Fähre war sie in der Frühe vom Festland aufs Eiland übergesetzt.
Wenn sie gestern Abend in Bremen nicht auf den letzten Drücker den Nachtzug noch erreicht hätte, dann säße sie jetzt bei ihrer Tante auf dem Siel, in der gemütlich warmen Wohnstube, und würde Pottlappen, oder sonst etwas Nützliches häkeln.
Handarbeiten war nämlich zu Tante Dines Lieb-lingsbeschäftigung geworden. Früher blieb ihr nie die Zeit für solche Dinge. Die Arbeit auf dem Hof stand immer an erster Stelle. Sie war deswegen aber nie unglücklich gewesen.
Das Gegenteil war wohl eher der Fall – jetzt fehlten ihr häufig die Tiere, und alles was damit zusammenhing.
Dine wäre über ihre Gesellschaft ganz sicher hocherfreut gewesen. Seit Onkel Hannes Tod wohnte sie nämlich alleine in dem großen Haus hinter dem Deich, gut zweitausend Schritte vom Dorf entfernt. Ab und zu kam es sie schon mal schofel an, wenn die Einsamkeit um sie herum gar zu einsam wurde.
Nach Hannes Tod war sie deswegen ständig von irgendjemand bedrängt worden, doch den Hof zu verkaufen, und unter Menschen zu ziehen. Am Deich würde sie doch trübsinnig werden, hieß es immer wieder. Außerdem könne man doch jeden Tag im Blatt lesen, wie oft abgelegene Höfe ausgeraubt würden – oder gar noch schlimmeres passierte.
Tante Dine wußte wohl, daß der Bürgermeister aus dem Nachbardorf auf den Marschenhof spekulierte. Er passte so schön rund in seinen Besitz.
Die rechts und links daran angrenzenden Ländereien hatte er schon klammheimlich eingeschluckt.
Gabriele hatte einmal mitbekommen, was Onkel Hannes von seinem Nachbarn gehalten hatte:
„De Schwienjakk van Burmester kann sien Halsgatt ok nich vullkriegen. Schasst sehn, de word eens Doachs noch doran ovstikken.“
Die Pläne einer großen Feriensiedlung für Touristen spukten nämlich schon länger in der Gegend herum. Es war noch nichts Offizielles, aber man mußte ja gerüstet sein, wenn die Jagd auf das Bauland losging. Die Darlehnskasse hatte dem Bürgermeister beim zusammenkaufen der Landflächen jede Unterstützung zukommen lassen. Seinem Rendanten war man sowas ja wohl schuldig.
Zumal Onkel Hannes immer etwas aufmüpfig gewesen war, und auf den alljährlichen Vertreterversammlungen häufig das rigorose Geschäftsverhalten der Bank öffentlich kritisierte.
Jetzt, wo der Grizzly tot unterm Grund lag, und nur noch die Wittfrau den Hof bewohnte, witterte man im Kontor über der Bankstube die günstige Gelegenheit, das Fell des Bären unter sich aufzuteilen.
Die Hyänen in den Nadelstreifenanzügen hatten aber die Rechnung ohne Tante Dine gemacht. War Onkel Hannes schon fest wie ein Eichenpfahl gewesen, so war sie wenigstens hart wie Granit.
Gabriele hielt sich sonst gerne bei Opas Schwester auf. Während ihrer Schulzeit, auf der Mädchenschule in der Kreisstadt, war der Hof des Deichvogtes unter der Woche ihr zweites Zuhause gewesen. Von Tante Dine und Onkel Hannes hatte sie in den Jahren ihrer Jungmädchenzeit viel gelernt.
Tante Dine war es auch gewesen, die ihr die Geheimnisse ihres Körpers zu verstehen half, als der sich allmählich überall rundete. Bevor Opas Schwester nämlich, durch ihre Heirat mit dem Deichvogt, mit Leib und Seele Burinski wurde, hatte sie als Hebamme – als Moder Griepsch – unzählige kleine Schreier in der Umgebung ans Licht der Welt geholt. Auch dem Bürgermeister aus dem Nachbar-dorf hatte sie den ersten Klaps seines Lebens auf den Hintern verpaßt.
Sie dachte jetzt manchmal bei sich, damals vielleicht nicht fest genug zugeschlagen zu haben.
Jetzt, wo Gabriele in Elsfleth die Seefahrtsschule besuchte, war sie an den Feiertagen aber doch lieber auf ihrer Insel.
So stand sie schon um sechs am menschenleeren Anleger, und wartete im trüben Licht, der im Wind schaukelnden Bogenlampen, auf die Abfahrt der ersten Fähre.
Auf dem weiten Hafenplatz wimmelte es von Möven, die sich kreischend um die Brocken von Gabrieles Reiseproviant zankten.
Wenn sie an den Wochenenden heimfuhr, schmierte ihre fürsorgliche Hausmutter, bei der sie in Elsfleth wohnte, ihr nämlich immer eine solche Menge Brote für unterwegs, eine ganze Kompanie ausgehungerter Soldaten konnte im Ernstfall wohl eine Woche damit überleben. Tante Betty, wie die Gute hieß, hatte immer Angst, ihr Pensionsmädchen würde ihr sonst auf der Reise verhungern. Die Witwe Brandt wußte selber, daß das Quatsch war – die mageren Steckrübensuppentage ihrer eigenen Jungmädchenzeit hatten sie aber so geprägt.
„Dor kanns nix tägen doon, mien Deern. Wääs man blied, dat see dat so good mit di meent“, hatte Opa achselzuckend gesagt, als sie anfangs zuhause von den Essenspaketen ihrer Wirtin berichtete.
Seitdem hatte sie bei den großen und kleinen „Emmas“ am Hafen einen Stein im Brett. Für die Möven war jedesmal Weihnachten, wenn Gabriele am Anleger auf das Fährschiff wartete.
Die anhängende Nachtmüdigkeit ließ sie trotz des dicken Tuchmantels in der Morgenkälte leicht frösteln.
Sie hätte die Zeit bis zur Abfahrt zwar in der geheizten Wartehalle zubringen können, der abgestandene Müffel da drinnen behagte ihrer Nase aber nicht. Dafür war sie dann der erste Fahrgast an Bord, und konnte sozusagen als Entschädigung, mit der Besatzung an der Back in der Messe, ordentlich frühstücken. Als Kollegin hieß man sie da jederzeit willkommen.
Gott sei dank war sie die Nacht durchgefahren, denn die Reederei stellte, wegen des scheußlichen Wetters, kurz darauf alle Fährverbindungen zu den Inseln ein.
Der Käpten auf der Brücke hatte unterwegs wohl daran gedacht umzukehren, aber die Fahrt zurück in den Festlandshafen wäre bei den herrschenden Windstärken genauso bullerig gewesen, wie das letzte Stück Wasser zur Insel hinüber. Er hatte sich nach reiflichem Überlegen entschieden, den Kurs auf den Inselhafen beizubehalten.
Ihm war es egal, wo sein Schiff vertäut wurde. Er wohnte ständig an Bord. Sein Steuermann hatte aber gemeint, wir sind dann wenigstens alle daheim bei unseren Familien, als der Alte sich mit ihm beratschlagte. Es befanden sich an diesem Morgen ausnahmslos Insulaner an Bord, die denn auch allesamt seine Entscheidung guthießen.
Allerdings konnte man bald darauf im Salon etliche grüne Gesichter ausmachen, denn längst nicht jeder der Inselbewohner war automatisch auch seefest. Eine ganze Reihe von Passagieren sah dann auch unverhofft ihr gutes Frühstück aus dem Magen wieder auftauchen. Claas, der Stuart, hatte beim Spucktüten verteilen nur trocken gemeint: „Villicht will joa een sien Äten wär mit noa Huus näämen.“
Der Dampfer schaukelte ganz schön, aber das kannte Gabi zur Genüge – ja, sie liebte es sogar, wenn der Bootsrumpf auf den Wellen tanzte, und die Schrauben wütend aufheulten, wenn sie kein Wasser um sich herum verspürten.
Nicht von ungefähr wollte sie Schipper werden, wie ihr Vater und Großvater es waren. Mama war mit diesem Berufswunsch ihrer Tochter allerdings ganz und gar nicht einverstanden gewesen. Sie mochte es sich nicht vorstellen, ihr Mädchen als Seemann irgendwo in der Welt herumschippern zu wissen.
Dabei wollte ihr Mädchen gar nicht irgendwo als Seemann in der Welt herumschippern – sie wollte mit ihrem Kutter, von ihrem Hafen aus, auf ihrer Nordsee, ganz einfach nur fischen. Wie Papa und Opa, und all die anderen es vor ihr seit Generationen getan hatten.
Papa hatten sich, bei der Vorstellung eine Frau als Steuermann im Ruderhaus zu sehen, anfangs auch die Nackenhaare gesträubt, wie er sagte. Bis Opa – von dem eigentlich niemand eine Äußerung dazu erwartet hatte – eines Abends beim Grog im Hafenkrug ruhig und bedächtig in die Tabakwolke um seinen Kopf herum sagte: „Lasst die Deern man zufrieden, die weiß schon was sie will …, und Rock und Nylons wird sie an Bord tja woll nich anzieh’n.“
Damit war das Thema ein für allemal vom Tisch. Deswegen besuchte sie auch jetzt, nach dem Abitur, die Seefahrts-schule in Elsfleth, und kam nur alle Wochen nach Hause, auf die Insel.
Nachdem sie die Großmutter vor zwei Jahren auf dem Kirchhof zur Ruhe gelegt hatten, fuhr Opa nicht mehr so oft mit raus zum fischen. Wenn die Jungen draußen die Hols in die Kutterbäuche winschten, saß er mit einigen anderen ausgedienten Fahrensleuten im alten Bootsschuppen der Genossenschaft, und flickte die Netze und das Tauwerk.
Jeden Abend vor Sonnenuntergang führte ihn sein Weg zum Friedhof. Er sprach dann zur Nacht mit seiner Talea über die Tagesereignisse – genau so, wie sie es zu ihren Lebzeiten stets gehalten hatten.
Manchmal sah man ihn auch stundenlang oben auf dem Dünenkamm bei der alten Wetterwarte sitzen, und in die Weite des Wassers und des Himmels träumen. Seine Piep ging ihm dabei nie aus.
Den Kautabak hatte er sich auf drängen seiner Schwiegertochter abgewöhnt, nachdem einer seiner Priems mal versehentlich im knappen Bikinioberteil einer vollbusigen Urlauberin gelandet war. Was hatte das neugierige Froominsch sich auch plötzlich so tief zu ihm heruntergebeugt, nur um zu sehen, was für eine große Nadel er zum Netze flicken benutzte.
Er hatte sich verlegen, und nach den passenden Worten suchend, bei der Dame entschuldigt, und ihr spontan seine Hilfe angeboten. Ein bißchen rot ist er dabei sogar noch geworden.
Seinen Priem, den wollte sie denn aber doch lieber mit ihren eigenen Händen aus der drangvollen Enge ihres Busens befreien.
Das war zum Beispiel einer der wenigen Momente im Alltag gewesen, die ihn spüren ließen, daß er doch schon etwas älter war.
Die junge Doktersche, die vor einem Jahr die Praxis vom alten Boomgarden übernommen hatte, wollte ihn danach partout auch noch dazu bewegen, den schädlichen Rauchgenuß aufzugeben, wie sie es elegant formulierte. Er solle doch an seine Gesundheit denken. Er – mit seinen 83 Jahren. Als wenn er nix anderes mehr zu bedenken hatte. Er hatte ihr nur kurz und knapp geantwortet:
„Ikk holl up to schmöken, wenn ikk dod bün.“
Die junge Hausärztin schnitt das Thema in seiner Gegenwart denn auch nie wieder an. Jetzt dachte er manchmal: Eelich is de Doktersche doch een heel patent Froominsch.
Er schaute sogar in der letzten Zeit öfter mal bei ihr in die Praxis rein, obwohl ihm gar nichts fehlte. Man konnte so wunderbar über alles mit ihr schnacken.
Sie war nämlich nicht überkandidelt und schickimicki, wie die Mannsleut es alle befürchtet hatten, als Doktor Boomgarden abends im Krug wortgewaltig een Wief als seine Nachfolgerin ankündigte.
Einen feuerspeienden Drachen, mit Haaren auf den Zähnen hatten sie nach Kuddel Boomgardens Schilderung erwartet. Der olle Pferdedoktor hatte sie alle ganz schön ins Boxhorn gejagt – die junge Doktersche entpuppte sich nämlich als verteufelt hübsch und unkompliziert. Obendrein war sie auch noch unverheiratet. Da die Kerls auf der Insel ja nicht alle so alt waren wie er, sollte sich das wohl finden. Er hatte ja das Netzeflicken und sein Piepenschmöken. Das sollte für ihn wohl reichen.
Nur wenn mal eine Hand an Bord der Windsbraut fehlte, oder ein längerer Fangtörn anstand – dann war er mit dabei. Dann war er auch plötzlich gar nicht mehr alt und müde – dann war er wieder der alte Käpten Raß. Dann war er wieder der Eichbaum, dem nie eine See zu hoch ging. So auch vor Tagen, als die Fischer gemeinsam beschlossen hatten, noch einen Törn zu wagen.
Der Nebel, der wie ein dichtes Wattegespinst seit dreißig Stunden über dem Dorf lag, hatte sich am frühen Morgen aufgelöst. Das Meer war wieder zu sehen. Es war noch da, wie stets – doch es tobte in wilder Manier, als ob die Massen der See sich für das eingesperrtsein im Nebel rächen wollten. Die gespenstische graue Stille war dem auf- und abschwellenden Brausen und Heulen des Sturmes gewichen. Aus Nordwest hatte sich der wilde Geselle klammheimlich herangemacht.
Der Sturm war hinter der undurchdringlichen Wand zu einem grimmigen Ungeheuer geworden, und hatte dann wütend die bleierne, eisige Suppe mit einem gewaltigen Atemzug in sich reingesogen.
Jetzt türmte er die Wellen haushoch aufeinander, wie klein Hinnerk es immer mit seinen Bauklötzen tat, wenn er auf dem Küchenfußboden seine Burgen baute.
Fünf Schiffe der kleinen Inselflotte waren dem Sturm rechtzeitig von der Schüppe gesprungen – sie hatten kurz vor Mitternacht, noch im Nebel, mit blinden Augen aber sonst unbeschädigt, den Hafen erreicht. Sie brachten zwar keine Ladung mit, besaßen dafür aber noch Schiff und Leben.
Nur die Windsbraut, sie war der größte von den sechs Fischkuttern die hier zuhause waren, die fehlte noch. Seit mehr als zehn Stunden war sie jetzt schon überfällig – seit mehr als zehn Stunden hatte man keinen Piepser mehr von ihr gehört, obwohl vor jeder Funkkiste im gesamten Bereich ständig jemand saß, und mit übermüdeten Ohren angestrengt in den Äther lauschte.
Wenn Regine von ihrer Arbeit aufsah, und den Kopf ein wenig in den Nacken hob, sah sie durch das Küchenfenster die Mastspitzen der Kutter über der Deichkrone sich hin- und herbewegen. Fünf Spitzen zählte sie – und alle paar Minuten wieder – das gleiche stillhalten der Hände, die gleiche Bewegung des Kopfes, der gleiche Blick nach draussen – und wieder sah sie nur fünf Mastspitzen vor den jagenden Wolken des niedrigen Winterhimmels, die ihr die heftig schaukelnden Kutter an der Mole anzeigten. Jedes Mal hoffte sie, daß sich ihr beim nächsten Blick über den Deich sechs Mastspitzen zeigen würden.
Sie hatte es Gabriele während des Teetrinkens gesagt. Die Deern hatte es aufgenommen, als wenn ihre Mutter ihr so nebenbei gesagt hätte, der Zug, mit dem Papa und Opa ankommen, verspätet sich um ein Weilchen.
In dem Augenblick erkannte Regine, daß ihre Deern, von Seele und Charakter her, für die Seefahrt bestimmt war.
Anschließend war Gabi in ihr Ölzeug gestiegen, hatte sich den Südwester auf ihrem blonden Wuschelkopf festgezurrt, und war nach draußen verschwunden. „Ikk will ähm kieken, ob ich den Mannsleuten am Hafen helfen kann“ rief sie ihrer Mutter über die Schulter, von der Tür her, noch zu. Gegen den Sturm gebeugt stapfte sie mit sicheren Schritten den Deich hinauf.
Das große, hölzerne Sieltor war fest geschlossen, und binnen und buten mit Sandsäcken abgeschottet. Oben am Deich packte der Sturm sie wutentbrannt, wie mit eisernen Fäusten, und hätte sie um ein Haar wieder die Schräge hinunterbefördert. Wie im Grund angewachsen stand Gabriele aber in ihren schweren Seestiefeln.
Einen solchen Kampf hatte sie schon oft mit dem Sturm ausgefochten. Bei diesem Spiel ließ sich vorher nie sagen, wie es am Ende ausgehen würde.
Sie wollte auf jeden Fall gewinnen – und wenn man gegen den Sturm einmal verlor, dann musste man auch das hinnehmen. Diese Einstellung war ihr Erbgut von Papa und Opa.
„Mark di dat, mien Deern“, hatte Opa stets aufmunternd zu ihr gesagt, wenn sie bei irgendeinem Tun den kürzeren gezogen hatte - um dann mit unbeweglichem Gesicht noch hinzuzufügen:
„Anners kanns d’ mit de See nich kloarkoamen!“
Die Wellen schlugen, mit weißen Kronen auf den Kämmen, über die Hafenmauer und hüllten die Decksauf-bauten der Kutter in flockigen Schaum. Die Männer aus dem Dorf hatten voll zu tun, im Hafenbereich alles zu sichern, und immer wieder zu sichern.
Nichts, was nicht niet- und nagelfest war, hielt auf Dauer den gewaltigen Orkanböen stand. Von den Pricken längs der Hafeneinfahrt war nichts mehr zu sehen, sie landeten irgendwo irgendwann als Treibgut am Flutsaum. Das weite, sonst grünbraune Deichvorland, war kein Deichvorland mehr.
Soweit das Auge reichte, hatte sich alles in eine weißgraue tobende Wildnis verwandelt, die nur von dem trutzig daliegenden Bollwerk des Deiches, und die sich ihm anschließenden Dünen, daran gehindert wurde, sich über das dahinterliegende Land, und die Häuser, herzumachen.
Gabriele dachte in diesem Moment nicht mehr an Weihnachtsbaum schmücken, und an Kerzen anzünden.
In diesen Minuten hoffte sie nur, daß die Männer mit der Windsbraut einen sicheren Hafen erreichten, und daß der Deich dem blanken Hans standhielt.
Dreißig Seemeilen nordwestlich der Insel führten zur gleichen Zeit die total erschöpften Männer an Bord der Windsbraut einen erbitterten Kampf gegen die tobenden Elemente Wasser und Wind. Es war ein Ringen ums überleben mit ungleichen Waffen. Das vor wenigen Tagen noch so stolze Schiff hatte seinen Schmuck, und fast all seine Wehrhaftigkeit, verloren. Die Maschine gab keinen Muckser mehr von sich. Die Welle im Tunnel war gebrochen, als ein enormer Wasserberg das Schiff, wie mit einer Riesenfaust, in den Himmel gehoben, und wie einen Ball auf der Nase eines Seehundes, oben auf dem Wellenkamm balancieren ließ.
Die erste Böe, die den Nebel um die Windsbraut herum in wenigen Augenblicken verschluckte, hatte den hinteren Mast mitsamt der Peil- und Funkantennen abgedreht, und ihn federleicht - wie den Taktstock eines Dirigenten – fortgewirbelt. Als wenn es nicht genug war, daß er sich auf diese Art davonmachte, versetzte er Richards Bein zum Abschied noch einen derben Schlag mit seinem unteren Ende.
Das Ladegeschirr, das gleichzeitig mit über Bord gegangen war, verhakte sich in der hinteren Schanz, und drohte das Schiff mit in die Tiefe zu ziehen.
Im letzten Moment war es ihnen mit vereinten Kräften gelungen, die Seile von der Winsch zu trennen, und das Heck zu leichtern. Als das Geschirr von der Oberfläche verschwunden war, und sie sich wieder dem Segel zuwenden wollten, spürte Richard sein Bein nicht mehr. Gero und der Alte packten ihn ins vordere Luk. Das war einigermaßen verschont geblieben. Da lag der Käpten nun fest vertäut in einer der Kojen, und hatte Zeit zu denken. Zuviel Zeit.
Richard war seinem Vater jetzt dankbar, daß er beharrlich auf eine Notbesegelung an beiden Masten bestanden hatte. Obwohl die jungen Spezies auf der Werft die Ansichten des alten Schippers für eine überflüssige und kostspielige Gefühlsduselei gehalten hatten. Welcher moderne, see-gängige Kutter wurde denn noch mit so etwas ausgerüstet – und wozu sollte die Spielerei, wie der Chief auf der Werft es Richard gegenüber bezeichnete, auch gut sein. Das trieb doch nur die Baukosten in die Höhe.
Richard versuchte daraufhin seinen Vater von seiner Meinung abzubringen. Allerdings blieb es beim Versuch. Der Alte wußte genau was er wollte – und auch warum er so entschieden dafür eintrat. „Mien Jung, ikk kann di nix vöörschrieven. Dat word dien Schkipp – oaber ikk hoap, du hörst up mi.“
Damit war die Sache für den Alten erledigt. Richard folgte, allen Unkenrufen zum Trotz, den Vorstellungen seines Vaters.
„Der Alte scheint schon ein bißchen zu spinnen“, hörte Richard in der nächsten Zeit schon mal abschätzig die Werftleute brummeln.
Die neuen Maschinen hätten sich doch bewährt, und unverwüstlich wären sie obendrein. Was sollte da der altertümliche Schnickschnack mit der Besegelung. Na ja, es wäre ja sein Geld das er da zum Fenster rausschmiss.
Die viel beschworene Robustheit und Unverwüstlichkeit des Materials hatte sich aber in den letzten Stunden auf drastische Weise als Trugbild zu erkennen gegeben.
Richards Vertrauen in die superneuen Techniken hatte dadurch einen gewaltigen Knacks abbekommen. Bei der Vorstellung, manövrierunfähig der See ausgeliefert zu sein, wurde ihm hundeelend zu Mute. Ohne den Weitblick und die Beharrlichkeit des Alten wäre es mit ihnen, und der Windsbraut, jetzt schon zu Ende gewesen. Wenn er nicht so kladdernaß gewesen wäre, man hätte in seinen Augen Tränen blinkern sehen können.
Eine Woge von Glück überschwemmte ihn. In diesem Moment hätte er seinen alten Vater am liebsten umarmt. Aber das machten die Männer von den Inseln nicht so schnell.
Zum Glück störten sich die Lenzpumpen nicht an dem, was um sie herum vorging. Ihre isolierten und doppelt geschützten Antriebsmotoren hatten noch nicht eine Sekunde gestottert.
Auch wenn es manchmal unmöglich schien, die über-kommenden Seen wieder außenbords zu befördern – sie schafften es doch immer wieder.
Das kleine Segel, das bis zum zerreißen gespannt über dem Vordeck stand, gab den Männern zudem ein bleibendes Gefühl von Hoffnung. Zweimal hatte der Alte, gemeinsam mit Decksmann Gero, das Stück Zeug schon neu setzen müssen. Selbst die solide Taklerarbeit vermochte dem Sturm nicht lange zu widerstehen.
Es war jedesmal eine verteufelte Schinderei am Mast – aber die beiden hatten es mit vereinten Kräften jedesmal gepackt.
Es befand sich allerdings kein trockener Faden mehr unter ihrem Ölzeug. Wahrscheinlich gab es im ganzen Schiff kein Stück Tuch mehr, das nicht genauso naß war wie die Brecher, die unablässig donnernd auf das Schiff herabstürzten.
Seit Stunden hatten die Drei weder gegessen noch getrunken. Nun hatte der Alte es geschafft, in der Kombüse, die eigentlich gar keine Kombüse mehr war, einen Kessel mit dem restlichen Süßwasser ins kochen zu bringen. Das halbvolle Kochgefäß füllte er einfach mit Rum auf, und brachte es irgendwie über das schwankende Deck ins Vorluk. Da keine Trinkbecher mehr an Bord waren - die ständig überkommenden Seen hatten auch unter Deck gnadenlos aufgeräumt - nahm jeder der Drei einen kräftigen Zug aus der Tülle des blanken Kessels. Sie konnten gegenseitig sehen, wie gut ihnen der heiße Grog tat.
„Süchst woll, Gero – wi lääven noch.“
Zufriedenheit klang aus den Worten des Alten, als er Gero die Hand auf die Schulter legte.
„Du häst di up disse Foahrt de Breef wüggelk verdeent.“
Beiläufig sagte er es nur, doch Gero wurde gleich ein ganzes Ende größer dadurch.
Die letzten zwei Jahre hatte er in allen Sielhäfen vergeblich versucht, eine Heuer zu kriegen. Er wollte nun mal Fischer werden, das hatte er sich in den Kopf gesetzt, und niemand hatte es ihm ausreden können.
All sein Mühen war aber ohne Erfolg geblieben. So einen kleinen Steppke aus einem verrufenen Elternhaus wollte doch niemand an Bord haben. Sein Vater war entlang der Küste als Hein Suupsack eine bekannte Größe, und seine Mutter war aus Verzweiflung über ihren Mann auch irgendwann an der Buddel gelandet.
Hilflos, und mit der Welt verquer, war Gero dann im Frühjahr auf der Insel gelandet. Hier fand ihn Opa Raß eines Abends auf seiner verwitterten Bank, direkt neben der alten Wetterwarte, hocken. Irgendwie hatte er das kleine Häufchen Elend, da neben ihm auf dem rissigen Holz, gleich ins Herz geschlossen. Der Alte kannte die ganze Misere, er kannte sie nur zu gut.
Die Geschichten von Hein Suupsack und seiner Angetrauten drehten auch im Hafenkrug auf der Insel ständig ihre Runden – und es waren beileibe nicht immer die schönsten Erzählungen, die von Mund zu Mund liefen. Dabei hatte alles ganz anders angefangen.
Wer als alter Fahrensmann schon im Trockendock lag, der konnte sich noch gut an die Blütezeit von Hein Suupsack erinnern. Als Decksmann war er gefahren. Er galt zu seiner Zeit bis nach Holland runter als der beste Decksmann, den ein Schipper nur haben konnte.
Mit 14 hatte der kleine Waisenbengel aus dem Kohlenpott seine erste Heuer als Moses bekommen.
Mit 14 war er den Kinderschuhen entwachsen, wie die Oberin des Kinderheimes sich ausdrückte, als sie mit dem kleinen Herbert eines Sonntags nach der Kirche in die Wohnküche bei Talea und Ommo reinschneite. Talea und die Diakonissen-Oberin kannten sich schon seit ihrer Schulzeit in Mecklenburg. Und nun wollte Herbert zur See fahren.
Montagmorgen stand Herbert dann in seinen ersten langen Hosen in der Kombüse der Sturmvogel und schälte Kartoffeln.
Richard war zu der Zeit noch ein kleiner Büxenschieter mit bunten Strampelhosen an.
Der kleine Herbert, aus dem schon in der ersten Woche Heini geworden war, blieb der Sturmvogel und seinem Käpten treu. Bis, tja bis eben zu jener Vorweihnachts-sturmnacht im Jahre 54. Da waren sie auch durch die Hölle gefahren – der noch junge Käpten Raß und sein Decksmann. Hein hatte den havarierten Sturmvogel allein nach Hause gebracht. Mit einem Arm. Die Rechte hatte ihm das Fanggeschirr abgequetscht.
Den Käpten hatte der Ladebaum bei einer Quersee von den Beinen geholt. Besinnungslos lag der im Luk.
Heins Verletzung wurde noch in der gleichen Nacht im Inselkrankenhaus notversorgt. Der Arm sei nicht mehr zu retten, sagte der Doktor.
Am nächsten Morgen brachte ihn der Seenotkreuzer zum Festland rüber. In eine Spezialklinik wurde er verfrachtet. Ende Januar kam eine Karte von Hein aus Göttingen. Eine Krankenschwester hatte sie für ihn geschrieben. Er tauge ja nun nicht mehr für die Seefahrt, und würde darum wohl besser abmustern.
Der Alte fuhr eine Woche darauf mit dem Zug nach Göttingen, um Hein zu sagen, daß das mit dem Abmustern ja wohl ausgemachter Tineff wäre, Aber da war Hein schon nicht mehr in der Klinik.
Niemand konnte ihm sagen, wo der sonderbare Einarmige abgeblieben war.
Bis dann die Geschichten von Hein Suupsack an der Küste auftauchten. Als die Geschichten ihn erreichten, hatte der Alte sich auf den Weg gemacht und Hein und seine Familie aufgesucht. Im Gepäck führte er für seinen Decksmann Startgeld für eine neue Existenz als Fuhrmann mit sich.
Hein hatte sich vor dem Alten in eine der nächsten Kneipen verkrochen – er konnte seinem Käpten so nicht mehr gegenübertreten.
Der Alte hatte das Geld und die Papiere Heins Frau dagelassen – für sie und die Kinder. Hein sollte es sich überlegen, wenn er nach Hause käme. Hein kam zwar drei Tage später wieder nach Hause, aber er konnte nicht mehr überlegen. Er wollte auch nicht mehr überlegen.
Jeden Ersten flatterte noch immer ein Scheck von der Insel in die kleine Kate am Rande des Moores. Das war der Alte seinem Decksmann schuldig. Der Alte versuchte, seinem Lebensretter etwas zurückzugeben. Nur seine Talea hatte davon gewusst.
Das war aber alles lange her. Und nun gab der Herrgott ihm Heins Jüngsten in seine Obhut.
Schon am nächsten Tag stand Gero als Decksjunge auf den Planken der Windsbraut. Mit einer echten Heuer in der Tasche.
Richards anfängliches Bedenken, über die spontane Entscheidung seines Vaters, war schnell einer guten Zufriedenheit gewichen. Der Alte hatte wieder einmal die richtige Nase bewiesen. Andere Schipper beneideten Käpten Richard mittlerweile um den kregeln Decksjungen auf seinem Kutter.
Dieser Moment verband die Vergangenheit des Alten mit der Zukunft des jungen Gero. Ein Loch in der Lebenszeit des alten Käpten war plötzlich verschwunden.
Durch den Schulterschlag des Alten war nun auf dem schwer havarierten Schiff aus dem Decksjungen ein richtiger Decksmann geworden.
Der Schulterschlag, der war alter Brauch bei den Fischern auf der Insel. Amtliche Patente sahen die meisten von ihnen seit jeher nur als unumgängliches Obendrauf an.
Es schien, als wenn selbst der Sturm die Bedeutung dieses Augenblicks respektierte.
Einige Atemzüge lang verhielt er sich so still, wie die Gemeinde des Sonntags in der Kirche bedeutungsvoll schwieg, wenn der alte Pastor Büscher bedächtig die Stufen zur Kanzel hinaufstieg. Den Weg ging der alte Gottesmann in den letzten Jahren nicht mehr so häufig. Normalerweise hielt er die Andachten auf seinem Platz vor dem Altar, weil seine Beine seinem Geist im Alter wohl ein wenig vorausgeeilt waren. Wenn er aber mal wieder Anstalten machte, die 10 Stufen zu erklimmen, dann wussten die Menschen im Kirchenraum: Gleich setzt es was.
Über ein halbes Jahrhundert besorgte er nun schon die Geschäfte seines Heilands, hier auf der Insel. Der schien mit seinem Filialleiter auf dem Sandhaufen in der Nordsee auch ganz zufrieden zu sein.
Der alte Haudegen war nämlich in seinem langen Leben noch niemals krank gewesen. Die dicksten Stürme hatte er unbeschadet abgewettert, denn er ließ es sich selbst jetzt, in hohem Alter, nicht nehmen, hin und wieder mit den Fischern in ihren Booten auf Fang raus zu fahren.
Nach seiner offiziellen Versetzung in den Ruhestand degradierten die Kirchenoberen in der Landes-hauptstadt die Inselkirche einfach zur Zweigstelle einer größeren Nachbargemeinde auf dem Festland. Innerhalb der Firma Gottes hatte sich auch sehr viel verändert – und das meist nicht zum Guten.
Die sinkenden Kirchensteuereinnahmen mußten immer öfter als Begründung dafür herhalten. Die da oben verhielten sich gerade so, als wenn eine Reederei, deren Flotte in schwere See gerät, die Kapitäne von den Brücken abzieht.
Der Anspruch auf eine Viertelpastorenstelle wurde der Gemeinde dabei großzügig zugesichert. So ein Schwachsinn war für seinen kleinen Verstand einfach zu hoch gewesen. Er hatte ihn nicht hinnehmen können, und es auch nicht getan.
Was sollten die Menschen denn mit einem viertel Pastor anfangen? Und welches Viertel von dem geteilten Seelsorger stand ihnen überhaupt zu?
Gegen den hartnäckigen Widerstand der Brokatträger blieb er als Hirte bei seiner Herde. Seinem Bischof hatte er während der ersten Auseinandersetzungen darüber einmal öffentlich erklärt:
„Ich habe mit meinem Herrgott keinen Zeitvertrag abgeschlossen, als er mich Pastor werden ließ.“
Seit diesem Wort standen die Menschen auf der Insel noch fester hinter ihm.
Die Offizialen in den Elfenbeintürmen waren vielleicht mit der Zeit erleuchtet worden, oder sie scheuten ganz einfach die Auseinandersetzung in den eigenen Reihen. Die ganze Angelegenheit wurde schlichtweg vergessen. Auf jeden Fall erwähnte sie amtlicherseits niemand mehr.
Harm Stint, einer der Kirchenältesten der Gemeinde, hatte es während einer Gemeindeversammlung kerniger ausgedrückt: „De Kloogschieter in dat moie Tüüchs hevvt de Steert intrukken.“
Das Protokoll vermerkte an dieser Stelle keinen Wider-spruch aus den Reihen der Versammelten.
Nun führt der greise Büscher seine Schäfchen schon seit fast fünfzehn Jahren ohne amtlichen Monatssold über die Weiden des Lebens. Dem alten Herrn in seinem Häuschen, da oben an der Himmelsstrasse, dem gefällt es anscheinend so wie es ist.
Er hatte die Insel nach dem Vorfall nicht zum Niemandsland erklärt. Er ließ es wie gewohnt regnen, er ließ die Sonne weiterhin auf die Insel scheinen, er schenkte den Eltern in gewohnter Manier Kinder – kurzum, er ließ wie eh und je alles wachsen und gedeihen.
Und er ließ Pastor Büscher weiterhin den Rotwein genies-sen, und seinen Schafen die Leviten lesen – wenn der es denn für nötig hielt.
Der Sturm schien sich an der Windsbraut die Zähne aus-gebissen zu haben. Sein schwächer werdendes schnappen nach dem Kutter riß keine neuen Wunden mehr in den geschundenen Schiffskörper. Die drei Männer an Bord atmeten erleichtert auf. Für ein paar Minuten konnten sie die Arme hängen lassen und tief Luft holen.
Es kehrte das sichere Gefühl in sie zurück, wir haben es geschafft.
Als wenn der einsetzende Regen den wütenden Wind einschläferte, verstummte sinnig das brausen und heulen um sie herum. Nach einer Weile war nur noch das klatschen der Wellen am Schiffsrumpf, und das rollen der aufgebrachten See von darunter zu hören.
Wortlos löste der Alte mit klammen Fingern die kupfernen Spindeln an der Feuerkiste. Im inneren des wasserdichten Verschlages befanden sich die Notraketen. Sie lagen eingebettet in blauen Samt. Bisher hatten sie noch keinen Gebrauch von den sprühenden Lichtern gemacht. Jeder Käpten trug stets die Hoffnung in sich, sie niemals zünden zu müssen.
Der Alte hatte aus gutem Grund damit so lange gewartet. In der Hölle, die sie durchquert hatten, hätte die Signale sowieso niemand bemerkt.
Vorsichtig griff der Alte in die Kiste. Behutsam, so wie man mit einem kostbaren Schatz umgeht, legte er die farbigen Hülsen auf die Steuerkonsole im Ruderhaus – na ja, man konnte zumindest noch erkennen, daß es bis vor Stunden ein Ruderhaus gewesen war Nachdem er die Leuchtpistole vom schützenden Ölpapier befreit hatte, überreichte er sie dem jungen Decksmann.
„So Gero, mien Jung – dat ovscheeten, dat is nu alleen dien Soak.“
Bevor er weitersprach, wischte der alte Käpten sich verstohlen mit dem Jackenärmel durchs Gesicht.
Als wenn er eine innere Mauer überwunden hatte, brach es dann aus ihm heraus. „As jungen Keerl hätt dien Voader ok een Schkipp un sien Käpten noa Huus henbrocht – nu wies us, dat du netso good büst as he.“
Jetzt liefen dem alten Kapitän doch die blanken Tränen über die runzlig gewordenen Wangen in seinen Bart. Wie Sterne am dunklen Nachthimmel glitzerten sie in den vom Salzwasser verkrusteten Backenhaaren.
Er drehte Gero den Rücken zu, und murmelte leise, bevor er im vorderen Luk verschwand: „Ikk moot moal ähm noa Richard kieken.“
Ein paar Augenblicke später färbte sich der Himmel über der Windsbraut minutenlang leuchtend rot. Und noch einmal brachte der rote Schein einer Notrakete die Wolkenunterseiten zum glühen. Als das dritte Mal der Himmel anfing zu brennen, mahnte der Alte, der inzwischen wieder aus dem Luk aufgetaucht war, den Decksmann, mit den Notsignalen sparsam umzugehen. Sie wüssten ja schließlich nicht, wie lange es noch so weitergehen würde.
Die Worte waren noch gar nicht ganz in Geros Ohren gelandet, als der Junge schrie: „Käpten …, Käpten …., das dritte Licht ist nicht von uns.“ Gero hätte es gar nicht rufen müssen – ein paar Sekunden später erstrahlte der Himmel zusätzlich in leuchtendem Grün. Das war das Zeichen der Seenotretter. Der Seenotkreuzer hatte, gemeinsam mit anderen Rettungsschiffen, ein riesiges Quadrat um die zuletzt gemeldete Position der Windsbraut ergebnislos durchgepflügt. Nach Abbruch der Suche befand sich die Dietrich Clausen bereits auf Kurs heimatliche Station.
Nun hatten sie die Windsbraut doch noch auf den Radarschirm bekommen. Achtzig Seemeilen von der vermuteten Position entfernt. Der Nordwest hatte den Havaristen bis nah an Neuwerk herangetrieben.
Die Männer auf >Deutsche BuchtElbe 1
Bürgerreporter:in:Ewald Eden aus Wilhelmshaven |
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