KARL AUF DER WALZ

KARL NACH DER WALZ
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Tangermünde/Elbe. Morgens um 5 Uhr stand Karl mit dem ersten Tageslicht auf. Eltern und Geschwister, von denen er sich am Abend zuvor verabschiedet hatte, schliefen noch. Er streifte sich seine Sattlergesellen-Zunftkleidung mit dem großen Schlapphut über und schnallte sich seinen „Charlottenburger“ (Tragetuch) um. Das Wanderbuch, einen Laib Brot und eine Seite Speck packte er hinein und verließ zum ersten Male in seinem Leben das Elternhaus, ohne zu wissen, ob und wann er zurück kehren würde. Für den Fall aller Fälle, als „Notgroschen“ (oder für seine Beerdigung im Todesfall) hatte ihm seine Mutter ein echtes Goldstück von 10 Reichsmark ins Hemd eingenäht.

Sein Gesellenstück hatte er erfolgreich abgeschlossen, seinen Geselleneid abgelegt und begann nun als lediger, kinderloser und schuldenfreier „Fremdgeschriebener“ den neuen Lebensabschnitt seiner Wanderjahre. Diese Zeit würde erst nach Beendigung der Wanderschaft und einer weiteren mehrjährigen Arbeitszeit, den so genannten Mutjahren, in einer Werkstatt am Ort seiner Wahl, mit der Anmeldung zum Meisterstück enden. An die Erlangung der Meisterschaft war das Niederlassungsrecht gebunden, und damit auch die Eintragung als Neubürger im Bürgerbuch der neuen Heimat. Erst dann würde auch die Möglichkeit einer Heirat bestehen. Doch davon war Karl an diesem Morgen noch viele Kilometer und Abenteuer entfernt.

„Auf Schusters Rappen“ erreichte er noch am gleichen Tag das Städtchen Havelberg, wo er an die Tür des örtlichen Sattlermeisters klopfte. Man gewährte ihm Kost und Logis, doch Arbeit gab es hier nicht, weshalb er am nächsten Morgen in Richtung Norden weiter zog. Doch schon in Wittenberge hatte er Glück und fand Arbeit in der dortigen Sattlerei. Hier mangelte es nicht an Pferden bei den Bauern in der Umgebung und es gab ständig Zaumzeug, Kummets, Geschirr, Peitschen und Sättel zu reparieren oder herzustellen. Vom gestrengen Meister lernte Karl neue Kniffe und Fertigkeiten im Sattlerberuf. Nach drei Monaten zog er schließlich weiter in Richtung Hamburg. Unterwegs lernte er einen Tippelbruder aus der Zunft der Zimmerleute kennen, und gemeinsam strebten sie weiter in Richtung Norden, arbeiteten hier und da, kürzer oder länger und sammelten Erfahrungen in Ihrem jeweiligen Beruf. Sie verstanden sich gut, wenn sie zusammen weiterzogen, doch Karls Partner vertrank stets seine kleine Barschaft, so dass Karl auf der Hut war.

Unterwegs kam es im Sommer schon einmal vor, dass sie in der freien Natur unter dem Sternenhimmel schliefen. Eines nachts wurde Karl durch Tastgeräusche und vorsichtige Bewegungen neben sich geweckt. Er öffnete nicht sofort seine Augen, sondern lauschte gespannt, was der Grund für die Geräusche war. Mit halb geschlossenen Augen beobachtete er, wie sein Kumpel ganz vorsichtig Karls Charlottenburger abtastete, wohl in der vergeblichen Hoffnung, die Geldreserve zu finden, die jeder Zunftbruder bei sich trägt, und damit zu verschwinden. Er konnte ja nicht wissen, dass das Goldstück in Karls Hemdsaum eingenäht war. Karl ließ sich nichts anmerken, doch nun war er gewarnt.

Endlich näherten sich die beiden nach mehr als einem Jahr Walz der dänischen Grenze, denn sie hatten vor, auch in Dänemark zu arbeiten. Doch für Karl war klar, dass er sich hier ganz vorsichtig aus der Affäre ziehen musste. Es war hinlänglich bekannt, dass der dänische Zoll die Deklaration aller einzuführenden Wertgegenstände verlangte und den beiden somit eine Leibesvisitation drohte. Also würde sein Kumpel vom Goldstück und dessen Versteck erfahren und Karl wäre der Gefahr eines Raubmordes ausgesetzt. In der letzten Nacht vor der Grenze schlich sich Karl mit seinem wertvollen Hemd davon in Richtung Süden, seinen geldgierigen Kumpan hinter sich lassend.

Nach einem weiteren Jahr auf der Walz fand Karl im schönen Städtchen Marburg einen Meisterbetrieb, wo er seine Mutjahre ableistete, seine Meisterprüfung ablegte, das Niederlassungsrecht erwarb und als Bürger der Stadt im Jahre1894 seine eigene Sattlerei und eine Familie gründete. Sohn Karl und Enkel Karl führten später den Betrieb bis ins 21. Jahrhundert.

Bürgerreporter:in:

Hans-Rudolf König aus Marburg

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