„Wir wünschen, dass Du Dir wünschst ...“ – eine Weihnachtsgeschichte

Es ist am Morgen an einem 6. Dezember, als Sven jäh aus seinem tiefen Traum erwacht. Die Augen halb geöffnet entringt ein herzzerreißender Schluchzer seiner Kehle. Die Hände greifen ins Leere, so, als versuchten sie, irgendeinen Fetzen des Traums, den er gerade hatte, zu greifen. Wer war Sven?

Sven, ein Kind seiner Zeit, ist aufgewachsen in der virtuellen Welt der Computer. Wie jeden Abend saß er an seinem PC, als seine Mutter Marie ihn bat, ins Bett zu gehen. Es sei schön spät, sagte sie. Und, betonte sie wie in jedem Jahr, dies sei doch die Nacht des heiligen St. Nikolaus. Einem Impuls gehorchend folgte Sven der bittenden Stimme und ging zu Bett. Und während er einschlief, war es so, als besteige er eine Zeitmaschine, die ihn, immer schneller und schneller zum Zeitpunkt zurückbeförderte, an dem er geboren wurde. Die Vergangenheit erschien in seinem Traum immer deutlicher und formte Bilder, die schon längst aus seiner Erinnerungswelt verschwunden waren.

Mit einem Mal sah er seine Umwelt wie durch eine Mattscheibe. Schemenhaft sah er Umrisse von Menschen, die ihm Hände entgegenstreckten, die ihn streichelten, sah Arme, die ihn umarmten. Spürte Münder, die ihn mit Küssen bedeckten. Er spürte die Liebe und gab sie zurück. Seine Hände halfen ihm dabei, die Umwelt zu ertasten. Schon bald konnte er die kräftige Nase seines Vaters Johannes von der leicht geschwungenen seiner Mutter Marie unterscheiden und dann sah er sie mit eigenen Augen, ohne das sie es merkten, er sah, wie sie ihn liebevoll anblickten.

Wie damals bewegten sich Svens Lippen im Schlaf und formten die Laute nach, die ihm die Erwachsenen mit gespitztem Mund zugeflüstert hatten: Ei, ei, ei, du, du, du, Mamm-mamm-ma, Papp-papp-pa, trall-trall-la-la, Aaau-to, hahaa-haben, nnnn-nein-nein-neinnein!

Der heranwachsende Sven erwies sich als ausgeschlafen. Wie sein Vater. Er lernte rasch. Wie sein Vater, der sich mit Computern auskannte. Unter Umgehung der Sandkiste trat Sven gleich in die hohe Schule der Computerwelt ein: Er wuchs auf mit Nintendo, Joystick, Online, Off-line, E-Mail, Internet, Intranet, DSL und Extranet. Bald waren ihm Bits und Bites vertrauter als Legosteine, Märklin Stabilbaukästen oder das „Kleine Einmaleins“.

Sven war gefangen in der virtuellen Welt, die, reduziert auf einem Screen, ihn davor schützte, dem Charme einer Barbiepuppe oder anderem „Schnickschnack“ zu Weihnachten zu erliegen. So zappte und surfte er nimmermüde und unverdrossen virtuos durch die virtuelle Welt. Er fühlte sich wohl in seinem globalen Dorf, das nur eine Fläche von 24 x 32 Zentimetern maß und das er nur verließ, um widerwillig zu essen, zu lernen oder zu schlafen.

Gefragt, was er sich zu Geburtstagen, Weihnachten, Ostern oder Pfingsten wünsche, waren es Programms, Updates, Global Digital Links und Interconnections mit "other users all over the world", die Marie und Johannes, der bodenständig gebliebene Computerfachmann, ihm immer zu beschaffen wussten, auch wenn sie es im Grunde ihrer Herzen nicht wollten.

Sorgenvoll blickte Marie dem bevorstehenden Weihnachtsfest entgegen und um Rat suchend wandte sie sich an Johannes, der aber auch keine Lösung wusste, wie man Sven über seine Computer-Obsession hinaus auch an traditionelle Werte, etwa mit anderen Kindern zu spielen, heranführen könnte.

Aber Sven lebte unbeeinflußt in seiner Welt und manchmal auch von ihr. Denn schon früh lernte er, Big Mac‘s per Internet zu ordern. Er war mit sich und seiner virtuellen Welt zufrieden bis auf den heutigen Tag, dem 6. Dezember, an dem er aus diesem Traum erwachte. „In welcher Welt lebe ich“, grübelte er, „was wollte dieser Traum mir sagen?“ Dieser Gedanke beschäftigte ihn auch, als er nachmittags nach der Schule in seinem Zimmer am Fenster stand. Plötzlich öffnete sich sein Blick. Und was er sah, erstaunte ihn über alle Maßen. Schnee lag in den Vorgärten, auf der Straße und im gegenüberliegenden Park. Er sah große und mächtige, weiß gepuderte Bäume. So etwas hatte er nie zuvor bewusst wahrgenommen. Er sah, wie Erwachsene und Kinder, Frauen und Männer, Jungen und Mädchen, miteinander tollten, sich Schneebälle zuwarfen und Schneemänner bauten. Und sie gingen ganz zwanglos miteinander um und redeten absolut „unpluged". Er hörte das Lachen, das so ganz anders klang als das aus seinem "voice controller". Und plötzlich fühlte er sich allein.

„Was ist das für eine Welt, die nicht durch ein Frame eingegrenzt ist, die weder Passwords noch Gateways im menschlichen Umgang miteinander kennt“, fragte er sich ängstlich, „ich kenne sie nicht, warum eigentlich nicht?!“

Jetzt erinnerte Sven sich daran, wie die Eltern ihn am Vorabend fragten, was er sich denn zu Weihnachten wünsche. Die Antwort, die er mit der Stimme des Voice Controllers gab, klang jetzt noch in seinen Ohren: „Ich bin "up dated", ich habe keine "needings!“ Hoffnungslos erwiderten daraufhin die Eltern: „Wieder keine Wünsche?“ Dabei schauten sie traurig auf ihren Filius, der so ganz anders geworden war, als sie es sich erhofft hatten. Aber er war ihr Sohn. Sie liebten ihn. Für ihn würden sie alles stehen und liegen lassen. Aber verflixt, wenn er sich doch nur einmal etwas wünschen würde, was nichts mit Computern zu tun habe. Darüber brach die Nacht des 6. Dezember herein und mit ihr kam der Traum mit den Erinnerungen, die er nun nacherlebte.

Und nun verstand er, was seine Eltern sich wünschten, dass er es sich wünsche, etwas normales, greifbares, ehrliches, liebliches, buntes, liebevolles, glänzendes, nämlich ein frohes Weihnachtsfest und Gesundheit und Frieden, und Stimmen, die singen: „... Lasst uns froh und munter sein ...!“

Ich wünsche allen myheimat Lesern und allen Korrespondenten ein frohes Fest und einen guten Rutsch ins neue Jahr bei bester Gesundheit.

Glück auf Euer Friedrich Schröder

Bürgerreporter:in:

Friedrich Schröder aus Springe

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