Gedanken zum 3. Oktober - zwanzig Jahre danach
Der Eiserne Vorhang ist gefallen. Der Weg nach Osten ist frei. Vom Osten nach Westen auch. Trabis und Wartburg knattern qualmend gen Westen. Ihnen entgegen der Markenfuhrpark Westdeutscher. Die Grenzen sind verstopft. In beide Richtungen. Behelfsmäßige Übergänge, Brückenschläge werden geschlagen, so auch beim ostdeutschen Hessen, nahe dem niedersächsischen Schönebeck.
31. Dezember 1989. Ein grauer Tag. Wir hatten nichts Besonderes vor und wagten das Abenteuer Ost. In den Nachrichten pausenlos Ansagen über kilometerlange Staus an den Grenzen. Diesseits und jenseits. Wir entschieden uns für Hessen, um über Halberstadt nach Magdeburg zu fahren. Am Grenzübergang die Überraschung. Der Pass meiner Frau war abgelaufen – doch ein VoPo meinte, zurück geht jetzt nicht mehr und er wünschte uns gute Fahrt.
Je weiter wir uns Halberstadt näherten, um so dicker wurde die Luft. Schwefelige Abgase quollen aus den Schornsteinen der Häuser und hüllten sie ein in eine gelblich wabernde Wolke. Ein Stopp kam nicht in Frage, so sehr waren unsere Atemwege gereizt, wir brauchten frische Luft. Also nahmen wir nur einen flüchtigen Eindruck der tristen, grauen, zum Teil im Begriff des Zerfalls stehender Gebäude mit auf den Weg nach Magdeburg.
Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als wir die ersten Häuser Magdeburgs passierten. Meine Stimmung sank auf den Nullpunkt. Als ich an der Ecke Otto-von-Guericke-Straße und Ernst-Reuter-Allee stand, glaubte ich mich in die fünfziger Jahre zurückversetzt. Mein Gesicht mag wohl ein ratloses Fragezeichen gewesen sein, ein Einheimischer sprach mich an und fragte, ob er mir helfen könne. Mehr aus dem Reflex heraus antwortete ich: „Ich suche nach den Errungenschaften des Sozialismus!“ Wortlos wandte er sich ab.
Eine Woche später musste ich mich beruflich mit der DDR befassen. Mein Auftrag lautete, eine Beteiligung an der Leipziger Messe 1990 zu organisieren. Eine Kontaktadresse bekam ich – doch Telefon, Telefax: Fehlanzeige. Per Fernschreiber erreichte ich den begehrten Kontakt bei der Leipziger Messe. Es gab nur einen persönlichen Termin, und das hieß, rein ins Auto und ab nach Leipzig.
Ich fuhr des Nachts los, um zügig über den Grenzübergang Marienborn zu kommen. Die Straße nach Leipzig über Magdeburg, Köthen und Halle erwies sich in der Januardunkelheit als tückisch, denn die Straßen waren übersät mit Schlaglöchern. Irgendwie kam ich unbeschadet an und kam zügig zu einem Ergebnis: Man wies meinem Unternehmen zwei Seminarräume in der Karl-Marx-Universität vis a`vis von Gewandhaus und Oper am Augustusplatz zu. Von hier aus wurde ich Zeuge eines unglaublichen Aufmarsches: der Augustusplatz ein Meer schwarz-rot-goldener Fahnen ohne DDR-Insignien. Tausende von DDR Bürgern trugen sie. Dann die Ansprache des Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl. – Lautsprecher krachen und knistern, Totalausfall der Verstärker. Aus der Menschenmenge schwoll der Ruf: „Helmut, wir haben alle Zeit, wir warten auf dich!“ Das war einer der bewegenden Momente meines Lebens.
Damals wusste ich noch nicht, dass ich sehr bald stärkeren Anteil am Wandlungsprozess der DDR haben sollte. Die damalige Vizepräsidentin der Treuhandanstalt Berlin, Birgit Breuel, suchte Unterstützung bei der sehr schwierigen Kommunikation des hochkomplexen Umbaus der Staatswirtschaft in marktwirtschaftliche Strukturen. Mein Unternehmen, in dessen Aufsichtsrat die Vizepräsidentin seinerzeit Mitglied war, entsprach ihrer Bitte nach Unterstützung und schickte mich nach Berlin. Nach umfassenden Recherchen entwickelte ich ein Kommunikationskonzept für die Treuhandanstalt, mochte mich aber nicht entscheiden, es vor Ort auch umzusetzen.
Die Ermordung des damaligen Präsidenten der Treuhandanstalt, Detlef Rohwedder, am 1. April 1991 durch die RAF schockte ganz Deutschland. So auch mich. Birgit Breuel wurde Nachfolger von Rohwedder als Präsident. Nicht lange danach, am 18. April rief sie mich an und bat mich, ihr bei der Kommunikation zu helfen und das Konzept umzusetzen, das ich empfohlen hatte. Dem konnte ich mich nicht entziehen und ging als sogenannter One-Dollar-Man nach Berlin.
Hautnah musste ich nun mit DDRlern auf vielfältige Weise zusammenarbeiten. Vierzehn bis sechzehn Stunden am Tag waren Usus. Oft ging ich gedankenschwer in meinem Quartier unweit des Doms zu Bett – was würde mir der nächste Tag bringen? Mit aufgebrachten Stahlarbeitern aus Brannenburg reden? Mit besorgten Betriebsräten der thüringischen Tuchindustrie telefonieren – es brannte an allen Orten und jedes Gespräch konfrontierte mich mit einem anderen Schicksal – meine Bewunderung für Birgit Breuel wuchs. Ich lernte am eigenen Leib, was es heißt, Schicksal mit anderen zu teilen.
Eines morgens, es war so gegen fünf Uhr dreißig, strebte ich Unter den Linden zum Brandenburger Tor zur Wilhelmstraße, zur Treuhandanstalt, als ich diesen unvergleichlichen Moment erleben durfte: Die Quadriga wurde just in dem Moment in ihre angestammte Position auf dem Brandenburger Tor gehoben. Tausende von Gedanken schossen mir durch den Kopf – war das alles so richtig?
Es gab genug von Leuten – auch in der Treuhandanstalt – die glaubten, mit einem patriotischen Augenaufschlag könne man Schicksal spielen, dabei sein bei der Umverteilung. Weit gefehlt, diese Glücksritter wurden aber leider oft zu spät entlarvt. Es waren die ernsthaften Damen und Herren, allen voran die Präsidentin, die trotz aller Kritik die marode Staatswirtschaft wandelten und so die Grundlagen schufen für eine gedeihliche Entwicklung in Ostdeutschland. Daran kann auch eine Sahra Wagenknecht nichts ändern, die kürzlich bei Beckmann beispielsweise im Zusammenhang mit Harz IV über soziale „Verbrechen“´skandierte.
Heute, am 3. Oktober, am Tag der Einheit, fasse ich diese Gedanken über eine Zeit zusammen, die für alle Einschnitte brachte. Im Osten wie im Westen. Wer Augen hat zu sehen, wird nicht widersprechen können, dass sich das einst rudimentäre Bild im Osten Deutschlands in ein Schaufenster der Leistungskraft einer geeinten Bundesrepublik gewandelt hat. Darauf dürfen wir stolz sein.