Eine Weihnachtsgeschichte
Ein zweites Leben oder die zweite Chance
Er kam zu uns – nein! Er kam nicht freiwillig! Wir haben ihn gekauft, als er noch sehr klein war. Er hatte wohl so 50 cm plus Topf. Und natürlich hatte er keine Wurzeln mehr. Man hatte sie ihm abgeschlagen. Dennoch durfte er noch einmal auftrumpfen. Er bekam eine Platz vor der Haustür und leuchtete bis nach Weihnachten mit vielen Lichtern.
Dann bekam er – wie auch alle anderen Bäumchen, die in der Advents- und Weihnachtzeit vor und hinter dem Haus mit Lichterketten versehen werden – eine neue Chance. Er wurde auf Alfreds Grundstück eingebuddelt. Er war der Einzige, der den Winter zu überleben schien. Die wilden Brombeeren ärgerten ihn. Sie ärgerten ihn all die Jahre.
Vor zwei Jahren dann in Corona-Hochzeiten sollte er zum Weihnachtsbaum werden. Dann standen wir vor ihm und – und brachten es nicht fertig. Wir kauften einen Baum im Nachbardorf beim Bauern. Letztes Jahr stellten wir das dann gar nicht erst zur Diskussion und kauften gleich einen.
Den ganzen Sommer haben wir ihn nun betrachtet. Er hatte schon im Winter eine Solar-Lichterkette bekommen. Die kannibalisierenden Brombeeren ärgerten ihn sichtbar. Sie wurden zweimal zurückgeschnitten, schienen es aber auf genau ihn abgesehen zu haben.
Nun wurde es wieder Herbst und der Winter war nah. Es fiel die Entscheidung: Dieses Jahr oder nie. Inzwischen hat er eine Breite in Bodennähe von ca 4m und eine Höhe für eine Altbauwohnung.
Die letzte Chance wurde genutzt. Heilig Morgen war es so weit. Die Kettensäge wurde angesetzt, nachdem der Zollstock in Einsatz gekommen war. Dann wurde er mit vereinten Kräften durch die Terrassentür, durch die Wohnzimmertür ins Wohnzimmer gezwungen. Vor der Tür hatte er ja schon einmal gestanden. Nun ihm Wohnzimmer. Aber – trotz Zollstock – er war zu hoch. Also oben ein Stück ab. Zweiter Versuch – noch zu hoch. Noch einmal drei cm ab. Nun hat er Halt auch nach oben. Er ist zwischen Ständer und Decke eingeklemmt.
Am späten Abend nach dem Christgottesdienst ist es nun so weit. Keine Lichterkette erleuchtet den nun erwachsenen Weihnachtsbaum. Über 20 Bienenwachskerzen geben ein warmes Licht und er beherrscht sichtbar den Raum. Er ist traumhaft schön gewachsen. Er ist stolz in seiner Haltung. Die Kerzen werden nur zur Hälfte abgebrannt. Die zweite Hälfte folgt am Abend des ersten Weihnachtstages und mit dem Erlöschen der Kerzen geht so ganz langsam seine Strahlkraft zu Ende. Eine weitere Chance wird es nicht geben.
Aber der Beweis ist erbracht – er hatte ein zweites Leben.
Bürgerreporter:in:Evelyn Werner aus Seelze |
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