Eine winterliche Fahrt mit der Brockenbahn
Ein langgezogenes Tuten schallt durch die Täler. Wir stehen an einem kalten Märztag des Jahres 1993 in einer großen Menschengruppe auf dem kleinen Bahnhof in Schierke. Der Berg ruft! Es ist der Brocken, den wir, dieses Mal allerdings nicht auf Stiefelsohlen sondern auf Rädern, erklimmen wollen. Um uns herum jede Menge Touristen und Wanderer, die im Großen und Ganzen zünftig und der Natur entsprechend gekleidet sind. Festes Schuhwerk, wetterfeste Kleidung und Rucksäcke bestimmen das Bild. Der raue Ruf des Brockens ist wohl zu fast allen durchgedrungen. Doch wie immer sind einzelne darunter, die wohl nur den kürzesten Weg zum Brockenwirt nehmen werden, um dann mit der nächstmöglichen Bahn wieder zu Tal zu fahren. Ihre Kleidung oder ihre Unbedarftheit verraten sie. Amüsiert lassen wir unsere Blicke schweifen. Interessant sind auch die verschiedensten Mundarten und Dialekte, die gesprochen werden. Wohl die Wenigsten kommen aus der naheliegenden Umgebung. Es ist ein buntes Volksgemisch.
Das Tuten der Bahn ist inzwischen lauter geworden, und es dauert nicht lange, da kommt der Zug stampfend und fauchend den Berg herauf. Bremsen quietschen, Metall reibt auf Metall und dampfende Schwaden ziehen über den Bahnsteig. Nun gibt es kein Halten mehr. Jeder möchte vorne sein, um einen Sitzplatz in den gut beheizten Wagen zu ergattern. Skier und Schlitten, die offiziell nicht mitgenommen werden dürfen, kommen sich in die Quere. Schließlich haben auch wir es geschafft. Obwohl der Zug bereits gut gefüllt ist - die meisten Brockenfahrer steigen in Wernigerode oder Drei Annen Hohne ein - haben wir einen Sitzplatz erwischt. Aber nur kurz hält es uns darauf. Die Wärme, die stickige Luft und die beschlagenen Scheiben, durch die man kaum durchgucken kann, drängen uns wieder nach draußen. Hier können wir frei durchatmen. Auch ein paar andere gesellen sich zu uns. Obwohl der Aufenthalt auf der Bühne während der Fahrt offiziell verboten ist - so steht es jedenfalls in fetter Schrift am Wagen - wird er doch vom Zugpersonal geduldet. Und für uns ist das der schönste Platz. So sind wir der Natur am nächsten, und abenteuerlich ist es dazu.
Die Schaffnerin stößt in die Trillerpfeife, zeigt dem Lokführer die grüne Seite ihrer Kelle, springt auf, und unter Schnaufen setzt sich der Zug in Bewegung. Erst ganz langsam, als würde er an den Schienen festkleben. Doch dann nimmt er Fahrt auf, und die speichernen Eisenräder fangen an zu Rattern. Zunächst geht es fast geradeaus. Oben am Hang sehen wir die bekannten Feuersteinklippen, die sich auftürmen und die das Etikett der Kornflaschen zieren. Schierker Feuerstein ist weit über den Harzraum hinaus bekannt.
Da der letzte Schneefall bereits mehrere Tage zurückliegt, sehen die Fichten nicht mehr sonderlich stimmungsvoll aus. Wir fahren durch einen grünen, leicht weiß angehauchten Tunnel. Es ist nicht das, was man sich unter einer schönen Winterlandschaft vorstellt. Nicht viel weiter taucht oben zwischen den Bäumen Ahrensklint auf, eine weitere der zahlreichen Granitklippen, die überall im Brockengebiet zu finden sind. Schon Goethe hatte seine helle Freude an ihnen. Die Schnarcherklippen, die auf der anderen Talseite oberhalb des Elendstales liegen, hat er sogar mit folgenden Worten in die Walpurgisszene seines Faust mit einbezogen:
Sieh die Bäume hinter Bäumen
Wie sie schnell vorüber rücken
Und die Fichten die sich bücken
Und die langen Felsennasen
Wie sie schnarchen, wie sie blasen
Wir blicken auf die klappernden und quietschenden Verbindungsteile der Waggons hinunter. Auch die nachgebenden Puffer und Schläuche, aus denen Qualm hervor zischt, sind zurzeit so interessant wie die Landschaft. Sie erinnern mich an meine Kirderzeit in den fünfziger Jahren, wenn es mit der Bahn aufs Land zu Oma und Opa in die Ferien ging, von Hannover nach Bad Harzburg, und von dort weiter nach Gut Radau. Damals waren Dampfloks und ratternde Züge, da die einzelnen Gleise wie später noch nicht miteinander verschweißt waren, Normalität.
Manchmal gibt es ein kleines Gedränge auf der Bühne. Jeder will sich nah an das Geländer stellen, um den bestmöglichen Fotostandpunkt zu erreichen. Sonderlich fotogen finde ich den Wald jedoch nicht. Dafür aber die Lokomotive, die grauschwarze Rauchschwaden aus dem Schonstein spuckt und sich mächtig ins Zeug legen muss. Rußpartikel fliegen bis zu uns herüber. Man darf hier draußen nicht die besten Sachen anhaben.
„Fahrkartenkontrolle!“ Wir bekommen die obligatorischen Löcher in unsere Fahrausweise geknipst. Die Schaffnerin hat nichts dagegen, dass wir auf der Bühne stehen. Bei dem Bummeltempo dieser Schmalspurbahn ist das auch vollkommen ungefährlich. Ein Radfahrer könnte ohne Schwierigkeiten mithalten.
Die Strecke vor uns biegt leicht nach links ab. Wir überqueren die Brockenchaussee, die einzige Straßenverbindung zum Gipfel, die nur mit Sondergenehmigung befahren werden darf. Die Bäume haben sich hier oben zurückgezogen und geben den Blick frei. Gegenüber ragt der Wurmberg majestätisch empor. Mehrmals habe ich in früheren Jahren vor der Wende auf der Sprungschanze des höchsten Berges Niedersachsens gestanden und auf diese Landschaft hinunter geblickt, durch die wir jetzt fahren. Damals haben wir nicht im Traum daran gedacht, je so eine Tour unternehmen zu können. Und wir haben danach Ausschau gehalten, ob die Brockenbahn vielleicht noch fährt.
Schon tief unter uns liegt das Elendstal und dahinter viele Höhen, die sich bis zum südlichen Harzrand hinziehen. Bei klarer Sicht könnte man jetzt schon den Thüringer Wald ausmachen. Kurz darauf geht es wieder in den Fichtenwald hinein. Plötzlich sehen wir die Lokomotive nicht mehr vor, sondern seitlich neben uns. Sofort schnellen die Kameras in die Höhe. Wir sind am Eckerloch, einer scharfen Kehre. Eine steinerne Brücke führt an dieser Stelle über die Schwarze Schluftwasser, die mit ihren vielen Armen vom Brockenmoor herunter kommt. Für mich ist der Weg durchs Eckerloch einer der reizvollsten auf den Gipfel. Auf schmalem Pfad zeigt sich die Natur von ihrer urwüchsigen Seite. Bemooste Felsen, knorrige Bäume und sumpfiges Gelände überall.
Inzwischen gewinnen wir an Höhe. Das Klima wird rauer, dementsprechend auch die Natur. Neben mir stehen einige Friesen von der Nordsee auf der Plattform. Sie sind zum ersten Mal in ihrem Leben in den Bergen. Dass es so etwas heute noch gibt! Für sie ist diese Bergfahrt ein besonders großartiges Erlebnis. Sie staunen über diese, für sie völlig unbekannte Landschaft. Wenn ich meinem kleinen Sohn hin und wieder etwas erkläre, hören sie interessiert zu. Auch muss ich einige Fragen ihrerseits beantworten, die das Gipfelplateau und die Wanderwege betreffen. Das fällt mir nicht schwer, war ich doch inzwischen schon neun Mal dort oben. Allerdings sonst immer durch Wanderungen und das zu fast jeder Tages- und Jahreszeit. Zu Sonnenaufgängen und Sonnenuntergängen, im Winterhalbjahr und zur Sommerzeit. Einmal habe ich sogar mit einem Freund oben unter freiem Himmel übernachtet, als es den Nationalpark noch nicht gab. Dabei hatten wir über uns einen klaren Sternenhimmel, während über ganz Norddeutschland heftige Gewitterfronten tobten und es unaufhörlich blitzte. Es war ein großartiges Naturschauspiel. Meist waren, wenn ich am Brocken unterwegs war, nur wenige Wanderer auf dem Gipfel und einmal war ich sogar der einzige. Doch alle diese wunderschönen Erlebnisse haben mich nicht abstumpfen lassen. Jedes Mal ist es auf eine andere Art reizvoll, und das soll besonders auf den heutigen Tag zutreffen.
Eine weitere scharfe Kehre lässt uns die Richtung erneut ändern. Sie führt oberhalb des Schluftkopfes und unterhalb der Kanzlerklippe entlang. Irgendwo links unten im Wald verläuft der Skiwanderweg, den ich vor drei Tagen von Schierke entlang der Kalten Bode heraufgekommen bin. Über den Dreieckigen Pfahl und den Goetheweg hatte ich den Gipfel erreicht. Es war meine erste Winterbesteigung mit Langlaufskiern. Doch dichtes Schneetreiben im oberen Bereich und Nebel verhinderten den Ausblick, den wir heute haben. Solange uns die Fichtenwälder begleiten, haben wir allerdings nichts davon, verdecken sie doch die Sicht. Wir genießen einfach die Fahrt durch den Winterwald und die nostalgische Atmosphäre, die diese alte Dampfeisenbahn auf uns ausübt. Schwer stampft und faucht sie den Berg hinauf. Auch wenn sie zum Teil durch Öl angetrieben wird, so wird sie doch andererseits mit Kohle befeuert. Vorne unter dem Kessel züngeln lodernde Flammen. In Wernigerode am Hauptbahnhof liegen riesige Kohlehalden. Dort haben wir einmal zugesehen, wie die Lok beladen wird. Mit Wasser werden die Tanks an verschiedenen Bahnhöfen, wie auch in Drei Annen Hohne, aufgefüllt.
Endlich verlassen wir den Wald. Nach Westen hin ist alles frei. Dort liegen nicht allzu weit entfernt der Bode- und der Eckersprung. Auch der Dreieckige Pfahl befindet sich gleich hinter der ehemaligen Grenze, der in früheren Zeiten eine Markierung zwischen dem Königreich Hannover und dem Herzogtum Braunschweig war. Zu ihm führte uns vor der Wende so manche Skitour. Schon immer haben wir versucht dem Brocken, unseren Traumberg, so nahe wie möglich zu kommen.
Zwei Skiläufer, die ersten Menschen, die wir seit der Abfahrt in Schierke sehen, kreuzen den Weg. Sie verlieren sich in der Weite des Schneefeldes. Von weiter hinten grüßt der Achtermann mit seinem kahlen Haupt herüber, auf dessen grauen Hornfelsen wir schon so manche Rast eingelegt haben. Damals stand an seinem Fuß noch die berühmte Kamelfichte, die es schon lange dahingerafft hat.
Wir erreichen 1000 Meter Höhe. Als wir den Königsberg umfahren, geht ein Staunen über sämtliche Gesichter. Innerhalb nur weniger hundert Meter Streckenlänge ändert die Landschaft ihr Aussehen vollkommen. Ganz plötzlich tauchen wir in eine Wunderwelt ein, eine Winterwunderwelt. Was wir nun zu sehen bekommen, verschlägt uns die Sprache. Die nur noch licht stehenden Fichten und Tannen sind so dick mit Schnee beladen, dass sie ihre Wipfel zu uns herunter beugen müssen. Die Felsgruppe der Hirschhörner oben am Hang ist von Eiskaskaden überzogen. Noch ein Blick hinüber zum Torfhaus, zur anderen Seite, dann geht es wieder in einen lichten Wald hinein. Aber nur zur Linken. Nach rechts bietet das Brockenmoor den Bäumen kaum noch Grund zum Fußfassen. Bis zu sieben Meter tief soll es sein. Doch dafür kommen die einzeln stehenden Bäume besser zur Geltung. Die krummen Spitzen, die herabhängenden und erstarrten, schwer mit Eis bepackten Zweige und der hoch liegende Schnee. Dies alles mutet unwirklich an, wie eine Welt, die es nur im Märchen zu geben scheint. Wir müssen uns die Augen reiben, aber es ist Wirklichkeit. Eine solche Winterlandschaft haben die meisten noch nie gesehen. Noch erstaunter sind die Friesen neben uns, die, wie wir inzwischen erfahren haben, von den Inseln kommen. Zum ersten Mal in den Bergen und dann solch eine Pracht vor Augen. Sie wissen gar nicht, wie ihnen geschieht.
Vereinzelt bleiben einige Skiwanderer am parallel verlaufenden Goetheweg stehen. Sie fotografieren das vielleicht beliebteste Fotomotiv des Harzes, und wir winken ihnen zu. Wir können uns gar nicht satt sehen an dieser Zauberwelt, und so vergeht die Zeit leider viel zu schnell. Schon haben wir erneut die Brockenchaussee erreicht und biegen in die große Spirale ein, die um den Gipfel herum führt. Da ein Anstieg auf direktem Wege viel zu steil wäre, war es für die Erbauer der Bahn Ende des 19. Jahrhunderts die einzige Möglichkeit, den Steigungswinkel flach zu halten. Er durfte die drei Prozent nicht übersteigen. Uns kann das nur Recht sein, denn so eröffnet sich uns ein Rundblick in alle Himmelsrichtungen und über den gesamten Harz. Erst Richtung Osten vorbei an der Heinrichshöhe. Danach folgen Hohne und der Renneckenberg mit den Zeternklippen. Weiter geht es im Kreis herum nach Norden. Der Kleine Brocken, wo die Bahn den Hirtenstieg überquert, kommt ins Blickfeld und weiter hinten der Burgberg von Bad Harzburg. Zum Westen hin taucht erneut Torfhaus auf und dahinter der ganze Westharz bis zur Clausthaler Hochfläche hin. Zur anderen Seite oben am Hang sind die Granitgruppen von Hexenaltar und Teufelskanzel unter dickem Eis fast verborgen. Bizarr sehen sie allemal aus.
Die Schienenspirale wird enger. Schon um einiges unter uns liegt der Wurmberg, der zu Anfang der Fahrt noch weit über uns emporragte. Eine letzte Kurve, Bremsen quietschen und graue Rauchschwaden, die uns einhüllen, dann kommt der Zug zum Stehen. Endstation Bahnhof Brocken. Wir springen hinunter in den knirschenden Schnee. Eine muntere Schar ergießt sich aus den Wagen über den Bahnsteig. Die meisten zieht es sogleich zur Brockenkuppe hinauf. Ein Fernblick, Einkehr beim Brockenwirt und dann Rückfahrt mit der nächsten Bahn. So sieht ihr Programm aus. Einige Wanderer werden sich zu Fuß auf den Rückweg machen. Wir haben das nicht vor, obwohl es sicherlich reizvoll wäre. Unsere Kinder sind noch zu klein dazu. Wir wollen die wunderbare Landschaft hier oben in aller Ruhe genießen, und es wäre auch zu schade, wenn wir sie nach kurzem Aufenthalt wieder verlassen würden.
Zunächst das obligatorische Gipfelfoto. Ein Wanderer fotografiert uns vor der dampfenden Lok. Dann ein kurzer Blick am Bahnhof auf den Fahrplan. Der letzte Zug fährt in drei Stunden. Das wird reichen, denn die Kälte ist eisig. Minus 12 Grad bei leichtem Wind. Wir fangen sogleich an zu zittern. Im Schutz des Bahnhofsgebäudes packen wir den Rucksack aus. Wir ziehen sämtliche Pullover über, die wir mitgebracht haben. Dann ist die Temperatur erträglich.
Das bunte Volksgemisch hat sich inzwischen aufgelöst. Wir wollen ihm nicht folgen. Wir schliddern über die Brockenchaussee, die nach Schierke hinunter führt. Da sie leicht bergab geht, ist es wegen des spiegelglatten, vereisten Bodens nicht so einfach, sicher auf den Beinen zu bleiben. Nach zweihundert Metern kreuzt der Rundwanderweg. Hier hat einst die aus Betonplatten bestehende Mauer gestanden, die den gesamten Gipfelbereich umgab. Es gab keine bessere Idee, als dieses grässliche Bauwerk in einen Wanderweg umzuwandeln. Vom Brockengipfel ist ein Rundblick wegen der vielen militärischen Gebäude nicht möglich. Man sieht den Harz nur in Ausschnitten, in der westlichen Richtung überhaupt nicht. Folgt man dem Rundweg, so hat man nach und nach einen 360-Grad-Blick. Anscheinend ist das nur wenigen Brockenbesuchern bekannt, denn bisher habe ich nur wenige Menschen auf diesem Rundweg angetroffen. Auch heute folgt uns niemand. Aber das soll uns nur recht sein. Wir wollen den Gipfel links herum umrunden.
Der Schnee liegt zwar über einen Meter hoch, aber er ist auf dem nicht geräumten Weg so verharscht, dass er uns ohne weiteres trägt. Für einen Moment dringt sogar die Sonne durch die Wolken hindurch, und die bizarre Landschaft erstrahlt in eisigem Glanz. Dann ziehen wieder Nebelschwaden auf. Die Bäume gleich unterhalb des Weges sind als solche eigentlich nicht mehr erkennbar. Es scheint, als stehen verzauberte Eiswesen in Gruppen dicht beieinander. Einige beugen ihre Häupter weit hinunter, einige strecken sie immer noch stolz in die Höhe, trotz zentnerschwerer Eislast. Andere jedoch sind nur noch als niedrige Eishügel auszumachen. Sie waren der Last nicht mehr gewachsen.
Wir sehen Phantasiegestalten aller Art. Wir machen uns einen Spaß daraus, uns darunter Figuren vorzustellen. Ob Hexen, ob Dinosaurier, ob Zwerge, Trolle oder anderen Märchengestalten. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Uns wundert überhaupt, dass Bäume einem solchen Gewicht standhalten können. Es ist keine Schnee, der auf den Zweigen lastet, sondern pures Eis. Dadurch, dass der Brockengipfel fast tagtäglich zeitweise in Wolken gehüllt ist, bilden sich dicke Teppiche von Eiskristallen. Sie überziehen auch sämtliche Gebäude des Gipfelplateaus und lassen sie manchmal wie das Schloss der Schneekönigin erscheinen. Die Fichten haben die Eigenschaft, ihre Äste und Stämme so biegen zu können, dass sie nur selten brechen. Eher beugen sie sich bis zum Boden, als dass sie splittern. So elastisch sind sie. Wegen dieser Belastbarkeit fand das Holz der Nadelbäume in früheren Zeiten im Bergbau Verwendung. Und es gab Zeiten, da war der Harz fast vollkommen kahl und entwaldet. Natürlich auch der hunderte Holzkohlemeiler wegen, die unaufhörlich qualmen mussten und die den Brennstoff für die Verhüttung der Erze lieferten.
Ab und zu kommt noch einmal die Sonne durch die Wolken und taucht die Landschaft in ein blendend weißes Licht, so dass sie noch bizarrer wirkt. Wir müssen die Augen zusammen kneifen. In der Ferne erheben sich die Hohnegipfel mit den Kuppen des Ostharzes. Nur langsam folgen wir dem Wanderweg und ebenso langsam ändert sich das Panorama im Hintergrund. Weit unten, fast eintausend Meter tiefer am Ende des Holtemmetals, liegt Wernigerode, die bunte Stadt, wie es Hermann Löns einmal ausdrückte. Auch dieser schöne Ort mit dem Schloss oben am Hang und dem romantischen Rathaus war einmal unser Startpunkt für eine Harzquerbahnfahrt. Weiter umrunden wir den kahlen Gipfel. Schließlich erreichen wir den Hirtenstieg, einen steilen Wanderweg, der über den Kleinen Brocken zur Felsgruppe des Scharfensteins hinunter führt. Dort unten gabelt sich der Weg. Entweder kann man sich dem Ilsetal zuwenden und an den idyllischen Ilsefällen entlang nach dem ebenfalls besonders schönen Ilsenburg wandern. Oder man geht an der Eckertalsperre entlang, überschreitet die Sperrmauer und gelangt über das Molkenhaus nach Bad Harzburg hinunter. Beides sind besonders schöne, aber auch längere Auf- und Abstiegswege. Weiter unten ragen die Andreaskreuze aus dem Schnee, die den Übergang der Bahnlinie markieren. Zur Linken steht der hohe Sendeturm. Davor leuchtet eine rote Lampe und warnt vor Eisschlag. Manchmal sollen zentnerschwere Eisblöcke herab stürzen, die sich zwischen den Metallverstrebungen bilden können. Es ist dann lebensgefährlich, sich im Bereich des Sendemastes aufzuhalten.
Als wir die Kuppe weiter umrunden, wird das Wetter ungemütlicher. Haben wir uns bisher auf der windgeschützten Seite des Berges aufgehalten, so kommt jetzt ein schneidender Wind auf. Die Temperatur scheint nun gefühlt viel niedriger als die 12 Grad minus, die das Thermometer am Brockenbahnhof angezeigt hat, zu sein. Sofort kriecht uns die Kälte in die Glieder. Mit dem Genießen der Landschaft ist es nun vorbei und wir gehen einen Schritt schneller.
Über uns liegt die sowjetische Militärstation mit ihren Gebäuden und Horchkuppeln. Wir beneiden die Soldaten nicht, die sich bei ungenügender Heizung wie Gefangene in einem Lager vorkommen müssen. Sie leben unter primitivsten Verhältnissen und dürfen diesen Standort im Jahr nur zweimal verlassen. Doch sie werden nicht mehr lange bleiben. Im März 94 soll dieser einstige Vorposten des Kalten Krieges aufgelöst werden, und dann können sie in ihre Heimat zurückkehren. Anschließend gibt es viel zu tun. Es gilt den Berg zu entrümpeln und die Gebäude abzureißen, die ihre Daseinsberechtigung verloren haben. Auch 150 000 Tonnen Schotter warten auf den Abtransport. Wann diese Pläne verwirklicht werden können, hängt sicherlich von den finanziellen Mitteln ab, die zur Verfügung stehen. Bis die Brockenkuppe renaturiert ist und wieder ihr natürliches Aussehen erhalten haben wird, wird es wohl noch eine ganze Weile dauern. Nur langsam wird dann die alpine und arktische Vegetation ihren Lebensraum zurückerobern. Erst wenn das geschehen ist, ist der Gipfel eines Nationalparks würdig. Gleichzeitig muss es jedoch gelingen, die an vielen Tagen auftretenden Touristenströme zu lenken und zu kanalisieren.
Inzwischen haben wir den westlichen Harz unter uns. Torfhaus, Bruchberg, Schalke und die weißen Flächen der Clausthaler Höhen bilden das Panorama. Doch halten wir uns nicht mehr lange mit der schönen Aussicht auf. Es ist einfach zu kalt. Nach fast drei Stunden sind wir Eltern nun doch ziemlich durchgefroren. Die Kinder allerdings nicht. Die hatten viel Spaß beim Rumtoben in Schnee und Eis. Vorbei an den vereisten Felsgruppen von Teufelskanzel und Hexenaltar gelangen wir zum Brockenbahnhof zurück.
Zum 10. Mal war ich nun auf dem Gipfel. Doch so habe ich den Berg noch nicht erlebt. Es war jedes Mal schön und immer auf eine andere Art reizvoll. Schon allein durch die unterschiedlichen Wanderwege und die damit verbundenen Landschaften, aber auch durch die verschiedensten Jahreszeit- und Wetterbedingungen. Doch heute hat sich der Brocken von seiner allerschönsten Seite präsentiert. Großartiger kann die Natur die Landschaft wohl nicht in Szene setzen.
Der Zug steht vor dem Bahnhofsgebäude schon bereit. Wir finden in den gut gefüllten Wagen noch freie Plätze. Ich werde bei Abfahrt des Zuges jedoch nach draußen gehen, um die Rückfahrt wieder auf der Bühne zu verbringen. Noch einmal wird uns die Fahrt durch eine unwirklich anmutende Märchenlandschaft führen.
Siehe auch: Der Harz - Das nördlichste Mittelgebirge von seiner schönsten Seite
Bürgerreporter:in:Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode |
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