Nicht zu retten - eine Geschichte zur Vorweihnachtszeit

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Sie hat sich warm angezogen, greift sich ihren Rollator, verabschiedet sich und verlässt das Haus. Kalter Wind bläst ihr ins Gesicht, es nieselt ein wenig, laut Wetterbericht muss sie schon bald mit Schneeregen rechnen. Bin ich eigentlich noch zu retten, jetzt rauszugehen, sagt irgendetwas in ihrem Kopf. Sie weiß, bei solchen Bedingungen, die schon den Charakter eines Sauwetters heraufbeschwören könnten, schickt man ungern Hunde vor die Tür. Die Menschen machen es sich da zu Hause gewöhnlich gemütlich und mümmeln sich ein. Sie macht das aber nicht - viele andere Menschen allerdings auch nicht, die meisten davon, weil sie anlässlich des bevorstehenden Weihnachtsfestes durch die nahegelegene Innenstadt hasten und nach Geschenken für das große Fest Ausschau halten. Ihr steht nach Hasten nicht der Sinn. In aller Ruhe will sie nur suchen, suchen nach einer Antwort. Sie zieht ihren Mantelkragen hoch und macht sich Schritt für Schritt auf den Weg.

Ihr geht eine Geschichte durch den Kopf. "He, euch ist ein Kind geboren!", hallt es in ihrem Kopf nach. Ach, die Hedwig, diese unmögliche Göre einer ebenso unmöglichen Geschwisterschar, die in der literarischen Geschichte "Krippenspiel der Herdmanns" den Verkündigungsengel spielt, wie ohnehin alle Hauptrollen von der Herdmann-Geschwisterschar gespielt werden, da sie das traditionelle Krippenspiel in der Kirche durch Gewaltandrohung gegenüber anderen Interessenten gekapert hatte. Noch nie jedenfalls schien ihr die Botschaft "He, euch ist ein Kind geboren!" dermaßen ausdrücklich und eindringlich ausgesprochen, nein, in die Welt hinausgeschrien worden zu sein wie von dieser Hedwig. Ob diese Botschaft den Menschen heutzutage noch viel sagt?

Weihnachten steht vor der Tür, ein Fest, ein Hochfest im Jahreskalender. Baby Jesus, in die Welt als Retter geschickt, um die Menschen zu retten, zu erlösen von ihrer Schuld. Welche Schuld eigentlich, fragt sie sich, sie, die kurz mit ihrem Rollator innehält und einige Male tief durchatmet? Was ist Schuld, wer legt fest, was Schuld ist, wer führt die Schuldliste? Und was hätten die Menschen davon, von einem Erlöser, einem göttlichen Messias, befreit zu werden von dieser Schuld? Ja, Schuld kennt sie, Schuld im Sinne der von Menschen gemachten Strafgesetzbücher. Gerichte sprechen schuldig, lassen verbüßen, aber befreien sie von der Schuld? Ist diese Schuld nach dem Verbüßen der Strafe nicht mehr da? Ihr ist wirr im Kopf, als sie unversehens aus ihren Gedanken gerissen wird, da ein Rad ihres Rollators wegen ihrer Unachtsamkeit von der Bordsteinkante abzurutschen droht, sie selbst kurz ins Straucheln gerät, bevor dann aber doch der Rollator wieder ebenen festen Grund unter seinen Rädern hat. Eine Schrecksekunde für sie. Was mache ich eigentlich? Ich bin wohl tatsächlich nicht zu retten. Welch fixe Idee, gerade heute vor die Tür zu gehen! Achte nun aber auf den Weg, sagt sie zu sich.

Ach ja, Schuld. Doch dabei ist ihr klar, dass sie die mit Schuld und Weihnachten zusammenhängenden Fragen niemals wird ergründen können. Darauf erwartet sie gar keine Antworten mehr. Sie will nur wissen, ob die Menschen sich aufgrund der Weihnachtsbotschaft auf das Fest freuen, ob sich in ihren Gesichtern Hoffnung, Vorfreude und Dankbarkeit widerspiegeln, in ihren Gesichtern, in ihren Gesichtszügen, in ihrer Mimik, in der Verkörperung seelischen Befindens und Empfindens. Vielleicht will sie die Menschen auch nur abgleichen mit sich selbst, um so sich ihrer selbst bewusster zu werden. Viel Zeit bleibt ihr schließlich nicht mehr.

Sie erreicht die Innenstadt, Helligkeit flutet über sie herein, obwohl die Dämmerung schon einsetzt. Künstliches Licht, Lichterketten allenthalben, dem Adventgedanken eines stillen Wartens doch überhaupt nicht angemessen. Und Menschen, die sie in dieser Helligkeit sieht. Ein buntes, streckenweise hektisch anmutendes Treiben. Steht den Menschen die frohe Weihnachtsbotschaft ins Gesicht geschrieben? Haben sie Hedwig, Quatsch, den Verkündigungsengel gehört: He, euch ist ein Kind geboren? Darauf will sie eine Antwort erhalten. Dafür muss sie einzelne Menschen genau beobachten, in ihren Gesichtern lesen. Und damit fängt sie flugs an, ohne dass ihr Tun auffällt.

Zwei Personen, ein Mann und eine Frau, kommen ihr entgegen, vermutlich, nach ihrer Bekleidung zu urteilen, Bankangestellte, die soeben ihrem Feierabend zu Hause entgegeneilen. Mussten heute lange arbeiten, ist schließlich Schlado, der scheiß lange Donnerstag. Der Mann lacht. Die Frau muss eine witzige Bemerkung gemacht haben. Als die beiden sie gerade passieren, erkennt sie Ermüdung in ihren Gesichtern. Von Weihnachtsgefühlen keine Spur. Sie blickt den beiden nach, die sich alsbald die Hände zum Gruß hebend trennen und verschiedene Richtungen einschlagen.

Ein Schneeregenschauer setzt ein. Sie begibt sich unter einen Hausvorsprung, der sie aber auch nicht schützt, da der nicht nachlassende kalte Wind die Feuchtigkeit überall hintreibt. Also flüchtet sie sich in die wenige Meter entfernte gut besuchte Buchhandlung. Ein junger Mann sucht für seine Mutter ein Weihnachtsgeschenk, wie sie aus den Wortfetzen des Beratungsgesprächs heraushört. Die Mutter interessiere sich für historische Romane, worauf die Verkäuferin mit wenigen Griffen dem jungen Mann einige Bücher vorlegt. Schulterzuckend signalisiert er, sich nicht entscheiden zu können, und bittet um eine Empfehlung der Buchhändlerin. Ja, das Buch könne zwischen 30 und 40 Euro kosten, die Hauptsache, er habe ein ordentliches Buch als Geschenk. Schon bald ist Einigkeit erzielt, die beiden begeben sich zur Kasse, der junge Mann bezahlt, während das Buch von einer Hilfskraft noch nett in Weihnachtspapier eingebunden wird. Dem jungen Mann wird mit der Überreichung des Buchgeschenks noch ein frohes Fest gewünscht, er bedankt sich und sagt Tschüss, ohne etwas von Weihnachten zu sagen. Im Übrigen erkennt die Frau in seinem Gesicht ohnehin nur Erleichterung, ein Geschenk für seine Mutter bekommen zu haben. Schenkpflicht erfüllt. Und die Buchhändlerin? Sie macht nicht den Eindruck, von der Weihnachtsbotschaft erfüllt zu sein. Es geht ums Geschäft, und gerade zur jetzigen Zeit muss viel verkauft werden. Und schon steht sie neben dem nächsten Kunden, um sich nach dessen Wünschen zu erkundigen. Da wird sie selbst von hinten angesprochen, ob ihr geholfen werden könnte. Nein danke, entgegnet sie, sie wolle nur einmal schauen. Dabei hat sie ihr ganzes Leben gern gelesen, ist sich aber unsicher, ob es sich noch lohnt, einen dicken Schinken zu beginnen. Sie schaut nach draußen, sieht, dass es wohl nur ein kurzer Schauer gewesen war, und verlässt, auf ihren Rollator gestützt, die Buchhandlung.

Da stößt sie fast mit einer Mutter zusammen, die ihr Kind an der Hand führt, das einen knötternden und widerwilligen Eindruck macht. Die Mutter entschuldigt sich für den Fast-Zusammenstoß und sagt zum Kind, übrigens ein Junge: "Wir müssen hier vorne noch schnell etwas für Papa kaufen." "Ich will aber nach Hause", hört sie als Entgegnung. "Reiß dich einfach mal zusammen. Du kriegst gleich auch Pommes." Mit einem "Na gut" gibt sich der Junge zufrieden. Ach, der Weihnachtsstress, denkt sie, als sie die beiden das Geschäft eines Herrenausstatters betreten sieht. Innerlich muss sie lachen, als sie an die Botschaft "He, euch ist ein Kind geboren!" denkt.

An der benachbarten Bushaltestelle sieht sie feixende Jugendliche, sich zum Teil auf den überdachten Sitzgelegenheiten lümmelnd. Der Bus fährt vor. Die Jugendlichen steigen nicht ein. Sie vermeint zu sehen, wie ein Jugendlicher zu einem Seitenfenster des Busses springt und den Stinkefinger zeigt, bevor der Bus weiterfährt. Rotzblag, fährt es ihr durch den Kopf, du legst dir gerade Schuld auf. Ob Jesus ihn wohl auch von seiner Schuld erlöst? Gott sei Dank sind die meisten Jugendlichen anständig und nicht so wie diese hier. Sie zieht die Bremsen des Rollators an und verharrt. Menschen passieren die Bushaltestelle. Da, wieder. Eine vorbeieilende junge Frau wird anzüglich angemacht und mit ekelhaftem Gelächter überzogen. Und als auch noch ein gebrechlicher alter Mann angepöbelt wird, reicht es ihr. Sie löst die Bremsen, geht auf die Jugendgruppe zu und stellt sich frontal vor ihr auf. "Warum macht ihr das?", gibt sie herausfordernd in die Runde und schaut den Jugendlichen dabei nacheinander direkt in die Augen. Während sie bei einigen erkennt, wie sich unmittelbar Unsicherheit breit macht, blafft einer sie jedoch an: "Zieh Leine, Alte! Oder soll ich dir den Rollator wegnehmen?" Mit bestimmter, klarer Stimme, weiter auf Augenkontakt bedacht, entgegnet sie: "Was hieltet ihr davon, wenn andere Jugendliche mit euren Geschwistern, mit eurer Mutter, mit eurem Vater, mit eurer Oma oder mit eurem Opa so umspringen würden? Würdet ihr dann auch noch lachen?" Einige betretene Gesichter. "Kommt, lass uns gehen! Hier ist es doch öde", kommt aus dem Mund eines Mädchens. Langsam erheben sich die Jugendlichen und begeben sich betont lässig von dannen. "Ich wünsche euch ein schönes Weihnachtsfest", ruft sie ihnen hinterher, bevor diese um eine Häuserecke entschwinden.

Die Frau zieht weiter ihres Weges, nachdem sie noch einige respektvolle Blicke mancher Zeugen des Vorfalles geerntet hat. Sie beobachtet weiter, ohne allerdings die Weihnachtsbotschaft in den Gesichtern zu erkennen. Allmählich ermattet sie, Ermüdung macht sich breit. Es ist wohl Zeit, zurückzukehren. Eine wohl zu späte Erkenntnis, denn sie touchiert, als ihr Blick nicht nach vorn gerichtet ist, einen in den Boden eingelassenen Fahrradständer, so dass der Rollator in Schieflage gerät, schließlich kippt und sie selbst mit zu Boden reißt. Sie fällt auf ihre Knie, während sie versucht, mit ihren Händen den Aufprall auf den Boden zu lindern. Schmerzen durchzucken ihren Körper. Aber sofort spürt sie, wie sie von Menschen umringt wird. Kräftige Hände ergreifen sie und bringen sie wieder auf ihre Füße. Sie schaut in sorgenvolle Gesichter. Ob sie Schmerzen hätte, was man für sie tun könne, ob man einen Rettungswagen rufen solle. Solche und ähnliche Fragen dringen an ihr Ohr. Aber erst muss sie den Schrecken verdauen. Eine Frau schiebt von hinten den Rollator heran, so dass sie sich setzen und verschnaufen kann, zwei Männer halten sie weiterhin an den Armen fest. "Rettungswagen", nimmt sie eine Frage auf, "nein danke, ich bin sowieso nicht mehr zu retten", und lächelt in die Runde. Beruhigung und Entspannung legt sich auf die Gesichter ringsum. Nach ein paar Minuten Erholung bedankt sie sich bei den helfenden Menschen, versichert, dass es wieder ginge, und macht sich auf den Weg zurück.

Leichter Nieselregen begleitet sie auf dem Weg. Da vernimmt sie von hinten Schritte einer sich schnell nähernden Person. "Hallo, warten Sie bitte einmal." Die Stimme eines Mädchens, das sie schon bald eingeholt hat und sich vor den Rollator stellt. Die Frau erkennt das Mädchen. "Wir haben Scheiße gemacht, es tut mir leid. Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen." Sie lächelt das Mädchen an: "Angenommen. Aber passiert ist passiert. Schuldeingeständnisse und Einsichten sind allerdings ein erster Schritt auf einem richtigen Weg, was du den anderen aus eurer Clique auch klarmachen solltest, auch wenn das den von euch verhöhnten Menschen nicht hilft, bei denen ihr euch eigentlich entschuldigen müsstet. Das wäre eine Art Weihnachtsbotschaft." Beschämt fragt das Mädchen, vermutlich 16 oder 17 Jahre alt: "Darf ich Sie in den Arm nehmen?" Die Frau lässt es zu - und so stehen sie eine Zeit da, sich gegenseitig umarmend. "Darf ich Sie nach Hause begleiten?", fragt das Mädchen weiter, das ihren Namen mit Juliane angibt. "Gerne", bekommt sie zur Antwort, "es sind auch nur noch einige hundert Meter." Währenddessen erzählt sie Juliane, der ihre verschmutzten Hände aufgefallen sind, von dem Sturz und den zahlreichen helfenden Händen. "Aber warum hat man keinen Rettungswagen geholt?", fragt Juliane. "Ach, Juliane, ich bin nicht mehr zu retten." "Damit macht man keine Späße", entrüstet sich Juliane.

Jetzt biegen die beiden in eine dunkle Zufahrt ein, eng von Mauern begrenzt. Schon bald stehen sie vor einem das Mädchen eigenartig anmutenden, aber schön anzusehenden Flachbau mit verschiedenen Terrassen, einer halbrunden Glaswand und dazwischen einer Eingangstür. "Hier wohnen Sie?" "Ja." "Komisch. Ich warte dann noch, bis Sie aufgeschlossen haben und drin sind." "Ich habe keinen Schlüssel. Sei doch so lieb und klingele einmal." "Da steht ja gar kein Namensschildchen. Ich verstehe das nicht." "Juliane, habe ich dir nicht vorhin noch gesagt, dass ich nicht zu retten bin. Das hier ist ein Hospiz, in dem ich die letzte Zeit meines Lebens verbringe." Juliane erinnert sich, dass sie kürzlich in der Schule das Thema "Hospiz und Sterbebegleitung" thematisiert hatten. Ihr fährt der Schrecken durch die Glieder, Tränen steigen auf und kullern über die noch jungen Wangen. "Ach Kind, du brauchst nicht weinen. Ich bin mit mir im Reinen. Der Tod ist mir kein Feind. Mach was aus deinem Leben, sei ein guter Mensch, auf dass du später einmal genauso mit dir im Reinen bist." Juliane beginnt herzergreifend zu schluchzen und zu schniefen, umarmt und drückt die Frau, wie sie noch nie jemanden umarmt und gedrückt hat, klingelt anschließend, so lange wartend, bis eine Pflegekraft, leicht an der Kleidung zu erkennen, die Tür öffnet, drückt noch einmal die Hand der Frau, wendet sich ab und rennt völlig durcheinander davon. "Frohe Weihnachten!" schallt es ihr hinterher. "Ihnen auch!", stammelt sie erwidernd, die ihre Stimme nicht mehr im Griff hat.

Die Frau lächelt und schaut, bevor sie das Hospiz betritt, zum Himmel, wo die Wolken den Sternen Platz gemacht haben. Und wenn sie ihre Wahrnehmung nicht täuscht, nehmen die Sterne, je länger sie drauf schaut, an Helligkeit zu. Schön. Ihr Körper verlangt derweil nach ihrem Bett. Es war doch alles ein wenig anstrengend. Bald ist Weihnachten. Ob sie es wohl noch erlebt? Sie weiß es nicht.

Bürgerreporter:in:

Helmut Feldhaus aus Rheinberg

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