Wilhelm Neurohr: „TIEFSTAPELEI ÜBER DIE WIRKLICHE ZAHL DER TTIP-KRITIKER UND IGNORANZ GEGENÜBER IHREN BERECHTIGTEN BEDENKEN“

Zum Leitartikel und Kommentar in den Zeitungen des Medienhauses Bauer, Marl , vom 25. April 2016: „An TTIP scheiden sich die Geister“

„TIEFSTAPELEI ÜBER DIE WIRKLICHE ZAHL DER TTIP-KRITIKER UND IGNORANZ GEGENÜBER IHREN BERECHTIGTEN BEDENKEN“

Was uns im Leitartikel auf der Titelseite vom 25.April 2016 unter der Überschrift „An TTIP scheiden sich die Geister“ als „Analyse unserer Nachrichtendienste“ aufgetischt wurde, war aus meiner Sicht ein journalistisches Armutszeugnis, das keinem Faktencheck standhält und keinen wirklichen Informationsgehalt hat, sondern zur Desinformation beiträgt. Der Gipfel der Unseriösität war der dazu abgedruckte Kommentar von Thorsten Henke, der den TTIP-Kritikern fälschlich „Anti-Amerikanismus unterstellt“ und in diesem Zusammenhang quasi ihre Undankbarkeit gegenüber den damaligen Befreiern von der Nazi-Herrschaft beklagt.

Geht es sein wenig sachlicher beim Thema Freihandel, Herr Henke, bei Ihrem kläglichen Versuch, die Leser über vermeintliche „Vorteile“ des TTP“ Abkommens-„aufzuklären“? Ganz offensichtlich sind die Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen und Gruppierungen weitaus besser und fundierter über TTIP aufgeklärt als die meisten Medienvertreter, die scheinbar vorgefertigte Argumentationsbausteine der EU-Kommission, des Wirtschaftsministers oder der Wirtschaftsverbände abschreiben statt sauber zu recherchieren.

Der fragwürdige Leitartikel beginnt mit der in den Medien mittlerweile üblichen Tiefstapelei über die tatsächliche Zahl der Demonstrationsteilnehmer in Hannover anlässlich des TTIP-Werbefeldzuges von Obama und Merkel. (Letztere ist übrigens nach eigenen Worten „Treiberin des Abkommens“ und weniger die Amerikaner, die vorzugsweise ihr transpazifisches Abkommen TPP mit dem asiatischen Raum dem auch in den USA ungeliebten TTIP mit Europa vorzogen). Anstatt die von den Organisatoren tatsächlich gezählten 90.000 Demonstrationsteilnehmer am Samstag wahrheitsgetreu zu erwähnen, beginnt der Artikel mit 200 Demonstranten der Nachhut am nachfolgenden Sonntag. Immerhin werden im Nachsatz die von der Polizei lediglich geschätzten 35.000 Demonstranten vom Samstag erwähnt, derweil andere Zeitungen diese Zahl nochmals auf 25.000 einfach heruntersetzten.

Schon bei der großen Anti-TTIP-Demonstration mit 250.000 Teilnehmern im Oktober in Berlin – die größte Demonstration seit Jahrzehnten in Deutschland – drückten fast alle Medien die Teilnehmerzahl auf 100.000, sofern sie überhaupt darüber angemessen berichteten. Einige Leitmedien spekulierten sogar in ihren Kommentaren , die Hunderttausende seien von der rechten Pegida-Bewegung gelenkt worden – bis eine seriöse Untersuchung der Universität Göttingen die genaue Teilnehmerstruktur als zu 90 % aus dem eher rot-rot-grünen Spektrum stammend belegte. Wollen manche Medien den Rechtspopulisten damit den Gefallen tun, dem Vorwurf der „Lügenpresse“ Nahrung zu geben, nur um den Interessen der TTIP-Lobby nachzukommen und die breite Widerstandsbewegung als klein und unbedeutend oder fremdgesteuert darzustellen? (Darunter die kommunalen Spitzenverbände, die Kirchen, die Sozial- und Umweltverbände, die Gewerkschaften und Berufsverbände, der Kulturrat u.v.m.) Nicht nur jeder Dritte ist gegen TTIP, wie die Medien schreiben, sondern Umfragen zufolge weit über 50%!
Unverantwortlich geht es im Leitartikel weiter mit den inhaltlichen Behauptungen zu TTIP, indem überholte und längst widerlegte Zahlen und Gutachten über die Wachstums,- Wohlstands und Beschäftigungseffekte zitiert werden, obwohl die EU-Kommission und die Wirtschaftsverbände diese falschen Zahlen kleinlaut von ihrer Homepage genommen haben.

Sodann werden lediglich die von Kritikern angeführten Gefahren für den Umwelt- und Verbraucherschutz und die „sinnvolle Standardanpassung“ erwähnt sowie der Streit über die Sonderklagerechte der Konzerne. Die Kernkritik an TTIP wird völlig ignoriert, nämlich die Gefahr für die Demokratie und die Gewaltenteilung: Wieso verhandeln nicht gewählte Handelskommissare und einbezogene Lobbyisten unter Ausschluss der Öffentlichkeit über gesellschaftliche Grundsatz- und Zukunftsfragen wie Arbeits- Sozial- und Tarifrechte, über Umwelt, Gesundheits- und - und Verbraucherschutz sowie Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und dergleichen. Alles gesellschaftspolitische Entscheidungen, die zuvor in jahrelangen öffentlichen Diskursen und nach mühsamem politischem Ringen durch Parlamente und mit Bürgerbeteiligung demokratisch entschieden wurden. Das alles wird jetzt in bloßen Fußnoten von Handelsverträgen zu bloßen Handelsfragen degradiert und unter dem Aspekt von „zu beseitigenden Handelshemmnissen“ nebenbei abgehandelt – etliche Verfassungs- und Völkerrechtsexperten und ehemalige Verfassungsrichter sehen darin eindeutige Verstöße gegen das Grundgesetz.

Die Freihandelsverträge sind immerhin völkerrechtliche Verträge, die über der nationalen Gesetzgebung und über dem EU-Recht stehen und deshalb normalerweise von Regierungen und Parlamenten verhandelt und demokratisch verantwortet werden. Hiezur ist auch die Schlussbehauptung in dem fragwürdigen Leitartikel falsch, wonach es „als sicher gilt, das TTIP auch dem Bundestag zur Abstimmung vorgelegt wird“. Diese Notwendigkeit bestreitet die EU-Kommission und hat deshalb den Europäischen Gerichtshof gebeten, das zu bestätigen, denn laut EU-Lissabon-Vertrag ist für Handelsverträge die EU-Kommission alleinzuständig – und dem hatte der Bundestag seinerzeit zugestimmt….Das alles haben die Nachrichtendienste nicht recherchiert und die Politikredaktion des Medienhauses Bauer weder hinterfragt noch überprüft? Also, liebe Leser: Skepsis bei allen TTIP-Artikeln in Ihrer Tageszeitung!

Wilhelm Neurohr

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11 Kommentare

"Freihandel" ist die Monstranz, hinter der sich die hohen Priester des Marktes versammeln. Sie behaupten, der "Markt" sei die unschlagbare Instanz, die über das Wohl und Wehe von Menschen, Unternehmen, ja von ganzen Völkern und Nationen gerecht richten werde. Dieses Einstellung wird gemeinhin "neoliberal" genannt.

Das Ganze geht zurück auf eine These von David Ricardo, einem der Väter der Volkswirtschaftslehre (hieß damals noch "Politische Ökonomie"). Er stellte die Theorie des "Komparativen Kostenvorteils" auf, die - stark verkürzt - besagt, der freie Handel nützt auch den weniger entwickelten Volkswirtschaften.

Die Geschichte hat diese Theorie empirisch eindeutig widerlegt. Ebenso wie der "Markt" als Entscheidungsinstanz 1929 und in den Folgejahren versagte und - eigentlich - seit 2007 endgültig desavouiert sein müsste, halten die Neoliberalen die Fahne "Freihandel" und "Markt" unermüdlich hoch.

Wem nutzt es? Den großen transnationalen Konzernen. Und den HNWIs und Super-HNWIs (HNWI = High Net Worth Individuals), wie sie im jährlichen "World Welth Report" von Capgemini und RBC Welth Management benannt werden.
Wem schadet es? Der großen Mehrheit der Bevölkerung, die nicht zu den HNWIs gehören.

Frag doch mal die Mexikaner, welche Erfahrungen sie mit NAFTA in den letzten 20 Jahren gemacht haben. Hier ein Bericht in der taz

Was schon mal gar nicht geht ist, das dann auch die US-Konzerne schon vorab Einfluss auf unsere Gesetzgebung nehmen würden.
Es ist schon schlimm genug das unsere einheimischen Konzerne dies über ihre Lobbyvertretungen im Bundestag reichlich tun.

»Es ist schon schlimm genug das unsere einheimischen Konzerne dies über ihre Lobbyvertretungen im Bundestag reichlich tun.«

Und wo bleibt der Protest, die Gegenwehr?

Abgeordnetenwatch und Lobbycontrol zum Beispiel sind auch nicht manns oder frau genug bei Bundestagswahlen konkret Ross und Reiter zu benennen, die aus ihrer Sicht nicht wählbar sind. So lange das so bleibt, wird eine Pseudoalternative wachsen - und unser Gemeinwesen den Bach hinuntergehen.

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