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Wilhelm Neurohr: SPD-Kandidatin erteilt Europa-interessierten eine Abfuhr (Leserbrief)

Leserbrief zum Artikel der RZ vom 28.4.08 auf der Regionalseite:
„Sicherer Listenplatz für Jutta Haug / Kreis-SPD wirbt für Europa“^

„SPD-Kandidatin erteilt Europa-interessierte Bürgerinnen und Bürger eine Abfuhr“

von Wilhelm Neurohr

„Am 28. April war auf der Regionalseite zu lesen, dass sich die SPD-Europa-Abgeordnete Jutta Haug nun sechs Wochen vor dem Europawahltermin vorgenommen hat, „das Thema Europa in die Köpfe der Menschen zu bringen“. Mit großer Verwunderung las ich, dass sie angeblich „für ein sozialeres Europa kämpft“ und sich dazu „den Fragen von Betriebsräten und interessierten Bürgern stellen“ will.

In Wirklichkeit hatte sie es am 10. Februar 2008 schriftlich abgelehnt, einer Einladung engagierter Bürgerinnen und Bürger und Betriebsräte von Attac und ver.di zu einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung in Recklinghausen zu folgen und sich den kritischen Fragen der an einem sozialen Europa interessierten Bürgerinnen und Bürger zu stellen. Ihre fadenscheinige seitenlange Begründung: Eine Diskussion mit Kritikern des umstrittenen EU-Reformvertrages, gegen den derzeit mehrere Verfassungsklagen anhängig sind, komme für sie nicht in Frage, sondern nur eine Diskussion mit Gleichgesinnten, also mit uneingeschränkten Befürwortern der höchst strittigen EU-Verträge. (Ich erspare mir wörtliche Zitate aus ihrer peinlichen und brüsken Ablehnungsbegründung). So will sie überzeugend für das Europa der EU bei den Wählern werben?

Warum kneift sie vor einer Diskussion über den Lissabonner EU-Reformvertrag bzw. EU-Verfassungsvertrag, der ja die Grundlage für die gesamte EU-Politik sein soll? Darin ist nämlich unter anderem nachzulesen, dass die unternehmerischen Freiheiten, vor allem die uneingeschränkten Frei-heiten der Finanz- und Kapitalmärkte, Vorrang haben sollen vor den sozialen Rechten der Bürger. Auch die im Grundgesetz garantierte Sozialverpflichtung des Eigentums wird in der EU durch die uneingeschränkte Eigentumsrechte ersetzt usw. Ungeachtet der akuten Finanz- und Wirtschaftskrise will also die EU die neoliberale Politik der Deregulierung und Umverteilung von unten nach oben einfach fortsetzen. Mit dessen Befürwortung will Jutta Haug „soziale Rechte erkämpfen“?

Und während SPD-Außenminister Steinmeier ebenso wie US-Präsident Obama eine Abrüstungsinitiative einleiten, enthält der EU-Reformvertrag die verfassungsmäßige Verpflichtung aller 27 EU-Staaten zur jährlichen Aufstockung der Rüstungsetats mit Kontrolle durch eine Rüstungsagentur (EDA), mithin ein Abrüstungsverbot. Und in der gemeinsamen europäischen Militärpolitik (GASP) gilt bei der Nato sogar der „atomare Erstschlag“ unverändert fort. Damit will Jutta Haug die Menschen für ein ziviles „Europa der Bürger“ gewinnen? Diese erleben die EU als ein abgehobenes Europa der Staatsmänner und Wirtschaftslobbyisten, in dem Demokratie nur hinderlich ist. Das waren die Gründe der Ablehnung der EU-Verfassung durch die Menschen in Frankreich, Niederlanden und Irland!

Vor allem verschweigt die SPD-Europakandidatin Jutta Haug, dass in Europa keine demokratische Gewaltenteilung vorgesehen ist, dass in der EU die Gesetzgebung nicht durch das demokratisch gewählte Straßburger Parlament als Legislative erfolgt, dem sie angehört, sondern durch die EU-Kommission und den Ministerrat als Exekutive. Das EU-Parlament besitzt nicht einmal die parlamentarischen Kernkompetenzen für eigene Gesetzesinitiativen und wirksame Regierungskontrolle. Trotzdem hat der Bundestag ohne inhaltliche Kenntnis der Vorlage des EU-Reformvertrages bereits zugestimmt und damit seine eigene Entmündigung beschlossen, indem er 80% seiner Gesetzes-Zuständigkeiten auf die EU mit ihren Demokratiedefiziten übertragen hat (nachzulesen in meinem veröffentlichten Buch von 4/2008: „Ist Europa noch zu retten?“).

Die stolze Aussage von Jutta Haug, dass sie auf Platz 4 der Bundesliste für das EU-Parlament abgesichert sei, soll den Wählern im Kreis Recklinghausen wohl signalisieren, dass sie deren Stimmen eigentlich gar nicht benötigt, denn es gibt bei der Europawahl weder Wahlkreise noch eine Persönlichkeitswahl, sondern nur eine festgelegte Liste. Darum begnügt sich Frau Haug mit einem angekündigten „roten Biker-Treffen“ als Wahlkampf-Gag, anstatt ehrlich zu bekennen, das sie bei der letzten Europa-Wahl nur 32% der Stimmen – ein Minus von fast 14% - erhalten hat (12% unter dem SPD-Landesdurchschnitt) bei peinlichen 39% Wahlbeteiligung. Das wird sie wohl in diesem Jahr noch unterbieten mit ihrer Diskussionsverweigerung – schade um die Europa-Idee der Gründungsväter!

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