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Wilhelm Neurohr: Nach der Bundestagswahl: Die gefesselte Demokratie?

Plädoyer für einen koalitionsfreien Bundestag
zur Wiederbelebung der parlamentarischen Demokratie
und zur Sicherstellung der Gewaltenteilung

von Wilhelm Neurohr

Derzeit erleben wir nach der Bundestagswahl (mit nunmehr 6 Parlamentsfraktionen) allenthalben eine absurde Diskussion über die Koalitionsfrage im Deutschen Bundestag. Die gewählten Bundestagsparteien stellen uns nach der „Koalitions-Verweigerung“ der SPD vor die Scheinalternativen: Entweder „Jamaika-Koalition“ mit Einigungszwang, ansonsten angeblich „unausweichliche“ Neuwahlen als drohendes Damoklesschwert. Oder (inakzeptable?) „Minderheitenregierung“ - ein völlig irreführender Begriff angesichts von stets vorhandenen Bundestagsmehrheiten bei Abstimmungen in unterschiedlicher Konstellation je nach Sachfrage.

Gibt es zu alledem wirklich keine besseren Alternativen im parlamentarischen Gefüge? Leider stellt niemand den vermeintlichen Zwang zu einer Koalitionsbildung überhaupt, als angebliche Voraussetzung für eine „stabile Regierungsfähigkeit“ mit „gesicherten Mehrheiten“ in Frage, vermutlich aus Sorge über das stets beschworene, aber verflüchtigte „Gespenst von Weimar“.

In den fast 70 Jahren unserer parlamentarischen Nachkriegs-Demokratie ist ja – außer in manchen Kommunalparlamenten - auch fast niemals etwas anderes erprobt worden als das machtpolitisch bequeme, aber demokratieschädigende und starre Modell von so genannten „Koalitionsregierungen“ - mit teilweise bedenklicher Machtverlagerung von der maßgebenden Legislative ins exekutive Kanzleramt. Dagegen hilft nur die Befreiung von den ewigen Koalitionszwängen durch Koalitionsverzicht.

Wie wäre es also mit einer veränderten und korrigierten Sichtweise auf das Zusammenspiel von Parlament und Regierung - mit Rückbesinnung auf den Stellenwert und die nicht voll ausgeschöpften politischen Möglichkeiten einer parlamentarischen Demokratie mit souveränen Volksvertretern im Bundestag – der „Herzkammer der Demokratie“?

Wenn das aufweckende Ergebnis der diesjährigen Bundestagswahl als eine politische Zäsur bezeichnet wird, warum sorgen wir dann nicht endlich selber für eine notwendige Zäsur im festgefahrenen politischen Betrieb, zwecks Wiederbelebung unserer parlamentarischen Demokratie und zur Sicherung der unverfälschten Gewaltenteilung, wie sie den Vätern und Müttern unseres Grundgesetzes eigentlich vorschwebte – und wie sie die (Protest-)Wähler und Nichtwähler vielleicht vermissen?

Die nicht weisungsgebundenen Abgeordneten sind dem ganzen Volk verpflichtet

Deshalb hier ein Plädoyer zur Wiederbelebung der „repräsentativen“ parlamentarischen Demokratie und für die Sicherstellung der demokratischen Gewaltenteilung durch Verzicht auf festgefügte Koalitionsbildungen für stets eine gesamte Wahlperiode – zugunsten offener, an den jeweiligen Sachfragen orientierten Mehrheitsbildungen durch den Bundestag - mit nicht weisungsgebundenen und laut Verfassung dem ganzen Volk verpflichteten Abgeordneten in möglichst vielen „Sternstunden des Parlaments“.

Undenkbar und realitätsfremd? Nur eine andere Variante des Schreckgespenstes „Minderheitenregierung“? Keineswegs. Bis zum Beweis des Gegenteils erst mal zu Ende lesen. Denn es geht (im Sinne des angesehenen Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert) im Kern um die Frage: Wie kann unser Parlament - als Legislative und Zentrum der politischen Diskussion sowie als Kontrollorgan der Regierung - wieder zur „Herzkammer der Demokratie“ werden, statt mit seinen auf Jahre zusammengeschmiedeten Koalitionsfraktionen zum bloßen „loyalen und verlässlichen“ Erfüllungsgehilfen und Mehrheitsbeschaffer einer „starken Koalitionsregierung“ zu mutieren, mit fälschlich präsidialem Kompetenzgehabe des jeweiligen Regierungschefs?

Die notwendigen öffentlichen und ergebnisoffenen Parlamentsdebatten werden bei Koalitionsregierungen stattdessen zuvor in die Hinterzimmer der Fraktionen, Parteibüros und Regierungsstuben verbannt, wobei die Regierungsvertreter als Exekutive auch noch oft an den Fraktionssitzungen der Exekutive teilnehmen, um deren Entscheidungen zu beeinflussen. Haben wir im Laufe der Jahre durch die eingefahrenen Gepflogenheiten aus reiner Gewohnheit den kritischen Blick auf die notwendige Abgrenzung des Parlamentsbetriebes zur Regierung verloren, die durch das Parlament zu beauftragen und zu kontrollieren ist, statt ihr im „Koalitionslager“ als Mehrheitsbeschaffer stets nur zu folgen?...
Die gesamte Denkschrift →  https://stahlbaumszeitfragenblog.wordpress.com/201...

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2 Kommentare

Guter Text!

Es geht eben auch um Posten (Minister, Kanzler usw.), die sich die Parteien sichern wollen.

Noch ein Plädoyer für "Minderheitsregierung":

Es geht auch anders

Von Stephan Hebel

Eines hat Angela Merkel sofort nach der Wahl klargemacht: An der Bühnenrampe wird sie ihre Rolle unbeirrt weiterspielen. Kontinuität und Stabilität: Das ist die Botschaft, die sich auch nach den schweren Verlusten der Union nicht ändern wird.
Ein Dienst am Zusammenhalt der Gesellschaft ist das allerdings nicht. Wenn der Aufschlag der AfD-Rassisten im Bundestag eines gezeigt hat, dann dies: Etwas ist in Bewegung geraten, und nur Fantasten glauben, das hätte mit zwölf Jahren Merkel nichts zu tun.
Dass die Unruhe in der Gesellschaft sich in derart vielen Stimmen für Rechtsextreme und Rassisten entlädt, ist eine der bisher größten Herausforderungen für die bundesdeutsche Demokratie. Wer ihr begegnen will, kann das so machen, wie die CSU es will und wie es sich in einem künftigen Koalitionsvertrag zumindest teilweise niederschlagen wird: Noch mehr Zugeständnisse an die Ideologie von Abschottung und ethnischer Sauberkeit, noch mehr „Rückführung, Rückführung, Rückführung“ (Merkel), und die neuen grün-gelben Partner bekommen zum Trost ein Einwanderungsgesetz für Hochqualifizierte.
Dass das dem rechten Original die Leute erst recht in die Arme treibt, scheint nicht besonders zu interessieren. Auch die Grünen offenbar nicht, die schon am Wahlabend die neue Harmonie-Melodie einübten: Nur keine Konfrontation mit Merkel, alle gemeinsam gegen die AfD.
Die aber würde sich ins Fäustchen lachen, wenn die etablierten Parteien den Vorwurf, sie seien eh alle gleich, auch noch bestätigten. Der „Alternative für Deutschland“, die keine ist, muss vielmehr durch echte, demokratische Alternativen zum „Weiter so“ das Wasser abgegraben werden.
Dieser These liegt eine andere zugrunde: Der Erfolg der Rassisten hat auch, aber nicht nur mit dem Flüchtlingsthema zu tun. Der Soziologe Claus Leggewie hat im FR-Interview gesagt, die 15 bis 20 Prozent Unzufriedenen im Land habe Merkel „der AfD förmlich zugetrieben“, und er hat recht.
Sie hat das getan, indem sie aus ideologischer Blindheit auf eine Politik der Integration verzichtet hat. Wobei Integration keineswegs nur die Eingliederung Geflüchteter meint, sondern eine umfassende Politik, die gegen gesellschaftliche Ausgrenzung vorgeht – sowohl was Alteingesessene als auch was Zugewanderte betrifft.
Angela Merkel wird diese Politik auch in Zukunft verweigern, auch dann, wenn die Grünen mitregieren. Genau deshalb sollten sie es lassen.
Aber bedeutet das nicht automatisch Neuwahlen? Nein! Auch wenn das im Land der einbetonierten Mehrheiten fast niemand hören mag: Kein Gesetz schließt Minderheitsregierungen aus. Man kann eine Kanzlerin im dritten Wahlgang auch mit relativer Mehrheit wählen – also faktisch allein mit den Stimmen der Union oder von Union und FDP.
Und wer sagt, dass sich Mehrheiten für einzelne Gesetze nur in Koalitionsgipfeln aushandeln lassen und nicht auch zwischen Regierung und Opposition? Auch jetzt geschieht das, wenn es etwa um einen Ausgleich mit dem Bundesrat geht, immer wieder.
Das Argument, es drohten Neuwahlen, wenn „Jamaika“ nicht funktioniere, ist also vielleicht von der Stimmungs-, nicht aber von der Rechtslage gedeckt. Es dient eher dem Zweck, einer Koalition von FDP und Grünen mit der Union den Lorbeerkranz der Verantwortung für Ruhe und Stabilität umzuhängen.
Es ist nur dummerweise genau die Art von Ruhe und Stabilität, die aus Blindheit gegenüber den Brüchen in der Gesellschaft die Unzufriedenen der extremen Rechten überlässt. Wer den Versuch nicht aufgeben will, sie zurückzugewinnen (soweit es sich nicht um eingefleischte Rechts-Ideologen handelt), wird einen anderen Weg gehen müssen: Es ist an der Zeit, dass eine neuformierte Opposition um demokratische Alternativen kämpft – sowohl zu Merkel als auch zur AfD, und zwar im Bundestag wie auch außerparlamentarisch.
Es gibt viele Verbände und Initiativen, die sich für die von Merkel missachteten politischen Alternativen engagieren: vom Datenschutz bis zu Investitionen in die staatliche Daseinsvorsorge, von umweltverträglicher Energie und Ernährung bis zu besserer Bildung und gerechten Löhnen, vom sozialen Europa bis zum Kampf gegen Rüstungsexporte.
Parteien, die sich als fortschrittlich verstehen, hätten jetzt die Aufgabe, als Bindeglied zu dienen zwischen diesen gesellschaftlichen Interessen, und den Schauplätzen der politischen Macht. Die SPD ist am Wahlabend einen ersten Schritt in diese Richtung gegangen, auch wenn das mit dem Verlierer vom Sonntag an der Spitze noch nicht übermäßig glaubwürdig wirkt. Die Grünen gehen offenbar lieber den direkten Weg zur Macht.
Dabei hätte das linksliberale Lager nur dann eine Chance, wenn es sich aus der Opposition heraus neu formierte. Wer sich stattdessen immer weiter von den Veränderungskräften in der Gesellschaft entfernt, hat auch 2021 keinen Anspruch auf Macht.

[FR-Leitartikel in der Printausgabe vom 26. September 2017, jedoch nicht auf der Online-Seite zur Verbreitung abrufbar! Werden die Medien auf „Jamaika“ eingeschworen?]

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