Wilhelm Neurohr: FELDZUG GEGEN KORREKTUREN DER AGENDA 2010 MIT „ALTERNATIVEN FAKTEN“ UND „FAKE-NEWS“

Leserbrief an die Recklinghäuser Zeitung zu den aktuellen Berichten und Kommentaren über strittige Korrekturen an der Agenda 2010:

FELDZUG GEGEN KORREKTUREN DER AGENDA 2010
MIT „ALTERNATIVEN FAKTEN“ UND „FAKE-NEWS“

Das war vorauszusehen: Ein paar winzige Korrekturen an der sozial verheerenden Agenda 2010 durch den Kanzlerkandidaten der „gewandelten“ SPD lösen sogleich ein reflexartiges Geschrei der Arbeitgeberverbände und der neoliberalen Netzwerke der Wirtschaftslobbyisten aus. Und das ist erst der Anfang des Wahljahres, in dem dieser Feldzug oder „Shitstorm“ gegen Schulzens unwesentliche Agenda-Korrekturen noch orkanartig anschwellen wird.

Gleiches war ja schon zuvor gegen die bescheidene Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes gestartet worden, die angeblich zu Arbeitsplatzverlusten und Wirtschaftseinbrüchen führen würde. Inzwischen hat sich im Positiven das Gegenteil herausgestellt und das postfaktische Geschrei der Wirtschaftverbände mit ihren „alternativen Fakten und Zahlen“ ist verstummt. Nun kämpft man für die Beibehaltung der sachgrundlos befristeten Zeitarbeitsverträge mit der fadenscheinigen Begründung von „besorgten Unternehmern“ etwa in der Tagesschau, dass man die Arbeitskräfte „erst nach mindestens 2 Jahren besser kennenlerne“. Das ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine gesetzeswidrige Verlängerung der maximal zulässigen Probezeit von einem halben Jahr, also eine Option des beliebigen „Heuerns und Feuerns“ unter Umgehung des Kündigungsschutzes.

Bei den bislang geplanten Korrekturen der Agenda 2010 in wenigen Einzelpunkten handelt es sich dabei keineswegs um eine „Abkehr“ von der unsäglichen Agenda 2010, wie die Arbeitgeberverbände und mit ihnen viele Medien behaupten. Deshalb ist es schlimm, dass die „Mainstrem-Medien“ einschließlich der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender sich dafür hergeben, die überwiegend auf falschen „alternativen Fakten“ beruhenden Behauptungen der Agenda-Verteidiger ungeprüft zu verbreiten und sich dem anzuschließen. Selbsternannte Arbeitsmarkt-Experten des „Institutes der Deutschen Wirtschaft“ können sich in der Tagesschau dort als „neutrale“ Experten lang und breit über die angeblich segensreiche Wirkung der Agenda 2010 auslassen – ohne einen Fakten-Check.

Und auch der Zeitungskommentator Rasmus Buchsteiner ist wieder vorneweg dabei mit „alternativen Fakten“ wie dieser: Die „aktuell so günstige Arbeitsmarktentwicklung“ sei zu einem großen Teil „den Schröderschen Reformen zu verdanken“. Abgesehen davon, dass es sich zu einem Großteil um prekäre Beschäftigungen handelt, die zum Lebensunterhalt kaum dauerhaft ausreichen, und dass in der Arbeitsmarktstatistik Millionen faktisch Arbeitslose nicht erfasst und ausgewiesen werden, gehört auch die „segensreiche Wirkung der Agenda 2010“ zu den „Fake-News“: Sämtliche vorliegenden seriösen wissenschaftlichen Langzeituntersuchungen über 10 Jahre Hartz IV kommen nämlich zum gleichen Ergebnis einer Misserfolgs-Bilanz des Scheiterns; die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist unverändert geblieben. Das wird von Medien und Politikern penetrant ignoriert und totgeschwiegen, die hartnäckig und gebetsmühlenartig ohne Belege einfach das Gegenteil behaupten. Das trotzige Schönreden der gescheiterten Hartz-IV-Reform erweist sich bei Betrachtung der wissenschaftlich einhellig belegten Fakten als billige Propaganda der Neoliberalen.

Was würde es erst für ein Riesengeschrei geben, wenn der Europapolitiker Martin Schulz vorschlagen würde, das Rentenniveau im reichsten EU-Land Deutschland von 43% nicht nur auf wieder 50% anzuheben, wie von den Gewerkschaften und der Linkspartei gefordert, sondern dem Durchschnittsniveau der EU-Länder oder der OECD-Industrieländer anzupassen: Dann läge das auskömmliche Rentenniveau auch bei uns nämlich bei 70 Prozent statt auf dem letzten Platz! Doch keine Angst: Schulz begnügt sich mit etwas Aufstockung für die diejenigen Rentner knapp über der Armutsgrenze. Wohin die Reise nach dem Willen der Wirtschaft und der ihnen zugeneigten Konservativen gehen soll, hat ja der CDU-Spitzenpolitiker Jens Spahn dieser Tage verkündet: „Mehr Geld fürs Militär und weniger für Sozialleistungen“.

Wilhelm Neurohr

Bürgerreporter:in:

Dietrich Stahlbaum aus Recklinghausen

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