Noam Chomsky: »Rebellion oder Untergang!: Ein Aufruf zu globalem Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation«. Rezension
Noam Chomsky (Jahrgang 1928) ist Sprachwissenschaftler und Philosoph. Und er ist seit den 1960er Jahren einer der schärfsten Kritiker der US-amerikanischen Politik und des globalen Kapitalismus. Er sieht die Welt seit dem 6. August 1945, seit Hiroshima, am Rande eines Abgrunds, infolge der wachsenden Gefahr eines Atomkriegs und der drohenden Umweltkrise – „die beiden Hauptgefahren für unser Überleben“.
Er beruft sich dabei auf Dokumente, die zum Teil 40 Jahre lang geheim gehalten worden sind, und auf Berichte investigativer Publizisten. Danach sind es US-amerikanische Regierungen, die unter dem Diktat US-amerikanischer Konzerne, durch atomare Aufrüstung, Kriege, soziale Ungleichheit, Aushöhlung der Demokratie, durch eine rücksichtlose Umweltpolitik und eine me first-Mentalität die Weltherrschaft anstreben. Ein Moloch. *
Beispiele:
Am 6. August 1945 warf ein US-amerikanisches Kampfflugzeug eine Atombombe auf Hiroschima und am 9. August ein anderes eine zweite Atombombe auf Nagasaki. Dies waren die bisher einzigen Einsätze von Atomwaffen in einem Krieg. Damit begann ein nuklearer Rüstungswettlauf, der unsere Zivilisation und die Menschheit zu vernichten droht und sich nur aufhalten lässt, wenn es gelingt, das andere, friedliche Amerika zu mobilisieren, das mit der Anti-Atombewegung der 68er Jahre das Ende der Atomkraft und der Nutzung fossiler Brennstoffe eingeleitet hat.
Nötig sei, durch „zivilen Ungehorsam“ „andere zur Anerkennung der Tatsache“ zu bringen, „dass es Dinge gibt, die so wichtig sind, dass manche Leute ihretwegen zu allen möglichen Risiken bereit sind und wenn er sie dazu bringt, darüber nachzudenken und dann vielleicht selbst etwas zu tun.“ (Noam Chomsky in »Rebellion oder Untergang«)
Am 6. August „wurde klar, dass die menschliche Intelligenz die Mittel ersonnen hatte, dem 200 000 Jahre alten menschlichen Experiment ein Ende zu machen. Dabei stand von Anfang an nicht ernstlich in Zweifel, dass diese Fähigkeit zur Zerstörung der Welt immer größer werden bald auch in andere Hände übergehen und so die Gefahr einer Selbstvernichtung noch steigern würde.
General Dwight D. Eisenhower berichtete, die Entscheidung zum Einsatz der beiden Atombomben habe am 16. Juli bereits festgestanden. Er hatte Truman davon abgeraten, weil die Japaner schon Kapitulationsbereitschaft signalisiert hätten und die Vereinigten Staaten solche Waffen nicht als erste einsetzen sollten.
Unter den Dokumenten, die Chomsky fand, waren Berichte über nukleare Beinahe-Katastrophen. Chomsky hat sie öffentlich gemacht und damit dazu beigetragen, dass 51 Staaten das Atomwaffenverbot, dessen Vertrag in der UN-Generalversammlung von 122 der 193 Mitgliedsstaaten unterzeichnet wurde, ratifiziert haben – außer Deutschland und alle anderen Nuklearmächte, sie sich den Verträgen verweigern, um sich die Option zu einem nuklearen Erstschlag, zu einem Präventivschlag der NATO offenzuhalten und die Entwicklung immer neuer, immer effektiverer, immer gefährlicherer Waffensysteme zu fördern, Systeme, die sich der Kontrolle entziehen und selbständig agieren können.
Im Oktober 1962, während der „sogenannten Kubakrise“, wie auch in den 1980er Jahren während der US-amerikanischen »Operation Able Arche« verhinderten US-Offiziere und Offiziere der Sowjetunion, die sich nicht an Vorschriften und Befehle gehalten haben, einen Atomkrieg, der verheerende Folgen gehabt hätte.
Einer von ihnen war Leonard Perroots, ein hoher Offizier der US-Luftwaffe, ein anderer Stanislav Petrov, ein russischer Offizier.
Und Wassili Archipow, ein russischer U-Boot-Kommandeur, hat sich 1962 während eines der gefährlichsten Momente der kubanischen Raketenkrise als Einziger einem Befehl zum Angriff mit atombestückten Torpedos widersetzt, den zwei seiner Offizierskollegen in einem von US-Einheiten eingekreisten U-Boot erteilen wollten und der wahrscheinlich ebenfalls zu einem tödlichen Atomkrieg eskaliert wäre. (Noam Chomsky)
Chomsky sieht „die Gefahr der atomaren Katastrophe wieder so hoch wie zu Anfang der 1980er-Jahre, als die Regierung unter Reagan die russischen Verteidigungssysteme durch die Simulation von Angriffen einschließlich Nuklearangriffen getestet werden sollten. Damals wurden in Deutschland Pershing-II-Raketen, aufgestellt, die innerhalb von zehn Minuten."
„Heute steht der Zeiger der Weltuntergangsuhr wieder genau wie zu der Zeit von »Able Archer« auf drei Minuten vor Mitternacht. Grund dafür sind die wachsende Gefahr eines Atomkriegs und die drohende Umweltkrise – die beiden Hauptgefahren für unser Überleben.
Russland und die USA betreiben eine gefährliche Aufrüstung, führen hochgradig provokative Aktionen durch und bauen ihre militärischen Arsenale in raschem Tempo aus. (…)
In Russland und auch sonst überall weiß man, dass das, was hier als »Raketenabwehr« bezeichnet wird, eine Erstschlagwaffe ist. Diese Kriegsgefahr ist zum großen Teil Resultat der NATO-Erweiterung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 25 Jahren, während der Amtszeit von Bush dem Ersten und seinem Außenminister James Baker und, in Russland, von Michail Gorbatschow.
Gorbatschow forderte die Auflösung aller Militärbündnisse, was ja im Fall des Warschauer Paktes auch geschah. Sie sollten durch ein eurasisches Sicherheitssystem ersetzt werden, das sowohl die ehemalige Sowjetunion als auch Westeuropa einbinden sollte. Aber Bush und Baker hatten einen anderen Plan: Die NATO sollte expandieren, während die Sowjetunion zusammenbrach.
Gorbatschow stimmte einer Wiedervereinigung Deutschlands und sogar dem Beitritt Deutschlands zum feindlichen Militärbündnis NATO zu, obwohl Deutschland Russland gleich zweimal in Schutt und Asche gelegt hat.“ (Noam Chomsky)
Prof. Joshua Itzkowitz Shifrinson hat nachgewiesen, "dass Bush und Baker Gorbatschow mit ihren Zusagen bewusst irreführen wollten, um den USA zu ermöglichen, ihre Vorherrschaft nach Osten auszudehnen."
„Unter Clinton expandierte die NATO noch weiter nach Osten, und zwar bis direkt an die russische Grenze. 2008 und dann noch einmal als Versuchsballon 2013 unter Obama bot die NATO die Mitgliedschaft sogar der Ukraine an, dem geopolitischen Herzen Russlands, das mit diesem durch weit zurückreichende kulturelle Traditionen verbunden ist. Das war ein äußerst provozierender Schritt. (…)
Die Menschheit ist heute mit den entscheidendsten Fragen ihrer gesamten Geschichte konfrontiert, Fragen, die weder umgangen noch aufgeschoben werden können, wenn es eine Hoffnung auf den Erhalt – oder sogar eine Verbesserung – der organisierten Formen menschlichen Lebens auf der Erde geben soll.“ (Noam Chomsky)
----
* So hat Karlheinz Deschner die USA genannt. Er hat die Geschichte der USA von ihren Anfängen bis zum 2. Krieg am Golf (1991) kompromisslos dargestellt. Sein Buch DER MOLOCH erschien 1993, die 4., überarbeitete Auflage 2002.
Die eBook-Fassung des Buches, die mir vorliegt, besteht aus Interviews und Passagen aus Chomskys Reden und Vorträgen. Fragen beantwortet er auf verblüffende Weise: relativistisch, in ganzheitlichen Zusammenhängen, mit Scharfsinn und genau. Immer trifft er den Nagel auf den Kopf. Immer hat er – aus seinem jeweiligen Blickwinkel – Recht. Es stimmt, was er sagt. Dennoch ist er bei aller schonungslosen Kritik empathisch und einfühlsam.
Nach der Bedeutung der Linguistik gefragt, sagt Noam Chomsky: Eine der dringlichsten Aufgabe „ist die Erforschung der Sprache, des Geistes, unserer geistigen Aktivitäten. (…) Der Philosoph David Hume (hat) das Studium der menschlichen Natur als die höchste Form der Wissenschaft bezeichnet. Die anderen Wissenschaften sollten dem untergeordnet sein.
Und das ist eine lange Tradition, die bis zum vorsokratischen Orakel von Delphi zurückgeht. Die Botschaft der Priesterin war: Erkenne dich selbst. (...) Erkenne und begreife, was für ein Wesen du bist; alles andere ist daraus nur abgeleitet,
Ich denke, dass diese Botschaft von vor 2 500 Jahren auch für uns wichtig sein sollte.“
Noam Chomsky: »Rebellion oder Untergang!: Ein Aufruf zu globalem Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation«
Westend Verlag Frankfurt am Main 2021
Taschenbuch 15.00 €, eBook 11.99 €
Herr Stahlbaum, Sie schreiben:
"„Rebellion“ bedeutet ja auch aufbegehren, sich widersetzen. Chomsky beruft sich auf die Genfer Konvention und alle anderen Atomwaffenverbote und
-sperrverträge und fordert auf, die zivile Atomwaffenbewegung der 68er Jahre wiederzubeleben und alle legitimen Formen des Protestes anzuwenden, um weltweit möglichst viele Menschen aufzuklären und zu mobilisieren."
Demnach geht es um Aufklärung der Massen über und Mobilisierung der Massen gegen die nukleare Gefahr, wenn ich die Problematik mal auf diesen heikelsten Punkt fokussieren darf. Das müsste dann schwerpunktmäßig die Bevölkerung der Atommächte betreffen, die aus ihrem Bewusstsein heraus politische Entscheidungsträger gleichen Bewusstseins an die Spitze befördern, die bereit sind, das eigene nukleare Arsenal zu vernichten und auf eine weltweite Vernichtung aller Nuklearwaffen zu drängen. Ein schwieriger Akt, der hinauslaufen würde auf einen Menschheitswillen. Wenn er gelänge - großartig. Aber ob diese Aussicht realistisch ist?
Womöglich geht es aber nicht anders, dass hier und da auf der Erde angefangen wird in der Hoffnung, dass nirgendwo anders das ausgenutzt wird. Und wenn, vielleicht immer noch besser als eine Vernichtung der Menschheit.
Alternativen sehe ich aber auch nicht.