Der Wasserturm. Eine alte Geschichte

Dietrich Stahlbaum

Der Wasserturm. Eine alte Geschichte

Der Wasserturm stand im Garten des Bürgermeisters. Ein roter Backsteinbau, aus dem bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs unsere kleine Stadt mit Trinkwasser versorgt worden ist. Dieses wurde aus einem Brunnen über mehrere Stockwerke in das oberste, mit Kies gefüllte Becken hoch gepumpt, sickerte durch Sandfilter in tiefere Behälter und gelangte durch ein Rohrsystem in die Wohnungen, Läden, Gast- und Werkstätten, in die Schulen, ins Rathaus und zur Kirche.

Ich erinnere mich an ein Ereignis, das uns – drei kleine Jungen, etwa vier oder fünf Jahre alt – 1930 oder 31 sehr bewegt hat. Die beiden anderen waren Söhne des Bürgermeisters. Wir haben diesen geheimnisvollen, stets abgeschlossenen Turm im Garten immer wieder umkreist, bis wir eines Nachmittags die Tür geöffnet vorfanden und hineinschlüpfen konnten. Weit und breit war niemand zu sehen. Auch im Innern war außer uns kein Mensch. Wir stiegen die Wendeltreppe hinauf bis ganz nach oben. Die Pumpe stand still. Leise tropfte das Wasser in die tieferen Etagen.

Dies veranlasste uns zu einem schweren Verstoß gegen die Trinkwasserverordnung. (Später habe ich erfahren, dass die Verordnung auf einem Schwarzen Brett neben der Treppe „zur Kenntnis gebracht“ worden sei. Aber wir konnten ja noch nicht lesen.) Und so geschah es: Der älteste Bürgermeistersohn stellte sich an den Rand des Beckens, zog seinen Pimmel durch den Hosenschlitz heraus und pinkelte hinein. Wir zwei anderen taten es ihm nach. Dann beeilten wir uns, den Tatort zu verlassen.

Bald bedrückten uns schwere Bedenken. Wir hatten einen schlechten Schlaf. Wir befürchteten, das gesamte Trinkwasser verunreinigt zu haben, putzten uns nicht die Zähne und tranken kein Wasser aus der Leitung. Am nächsten Tag horchten wir und schauten uns in der Stadt um. Es waren nur wenige Menschen auf den Straßen. Sie erschienen uns in einer unerklärlichen Weise anders als sonst. Wir sahen Augen auf uns gerichtet, forschende Blicke, die uns durchbohrten, kurz: wir glaubten uns beobachtet und flohen in einen halb verfallenen Schuppen in der Scheunenstraße am Stadtrand, wo wir uns öfters trafen. Hier berieten wir und entschlossen uns, zuhause nicht zu beichten, um ein Verhör und eine Tracht Prügel zu vermeiden.

In den folgenden Tagen streiften wir durch die Stadt und hockten ratlos „im Schuppen“. Die Leute gingen ihrer Arbeit und ihren Geschäften nach, als sei nichts passiert. Langsam begriffen wir, dass unser Bubenstück keine Katastrophe ausgelöst hatte, und unsere Ängste verschwanden.

Bürgerreporter:in:

Dietrich Stahlbaum aus Recklinghausen

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