Gedanken: Von Orlando nach Nizza
Wieder ist etwas Unfassbares und Unbegreifliches passiert. Nur wenige Wochen nach dem Massaker in Orlando, bei dem 49 Menschen starben, fährt in Nizza ein junger Franzose mit tunesischen Wurzeln mit einem LKW fröhlich feiernde Menschen über den Haufen. Mindestens 84 Menschen sterben. Über zweihundert werden zum Teil schwer verletzt.
Nach der Tat in Nizza war wenig mehr als die Identität des Todesfahrers bekannt, als auf allen Kanälen die vermeintlichen „Terrorexperten“ in den Sondersendungen den vermuteten Zusammenhang zum IS herstellten. Als gute Journalist_innen taten sie dies im Konjunktiv. Wohl wissend – oder auch nicht – dass diese Feinheiten beim Publikum genauso wenig wahrgenommen werden wie die Gänsefüßchen in Texten oder das vorgestellte „sogenannte“ in Wortbeiträgen.
Was aber ist, wenn der vermutete Terroranschlag die monströse Tat einer narzisstisch schwerst gekränkten Persönlichkeit war? Welche Wirkungen hat die Berichterstattung dann auf potentielle Nachahmer? Was löst die Nachricht aus, dass diese Amokfahrt ausreicht, um den Ausnahmezustand in Frankreich um weitere Monate zu verlängern? Welche Mechanismen beginnen zu wirken, wenn der französische Präsident reflexhaft sagt, ganz Frankreich sei von islamistischem Terror bedroht? Oder die Tat als „Angriff auf die Freiheit“ hochstilisiert?
Götz Eisenberg schreibt auf dem Blog „Auswege“ unter dem Titel „Schwuler Selbsthass als Quelle von Gewalt – Anmerkungen zum Massaker von Orlando“: »Als sich die Nachricht vom Massaker in Orlando verbreitete, schnappten sofort die üblichen Reflexe ein: Hinter dieser Bluttat konnte nur der IS stecken, da waren sich alle einig. Die eilfertigen Motivforscher waren nicht weit von jener Satire entfernt, in der eine Reporterin auf die Frage nach der Ursache eines gerade eingetreten Unglücks sagt: „Al Qaida. Alles andere wäre zum jetzigen Zeitpunkt reine Spekulation.“
Wenig später ruderten die Ermittler zurück und ließen verlautbaren, dass Omar M. diese Fährte durch einen Telefonanruf, in dem er sich zum IS bekannte, zwar selbst gelegt hatte, wohl aber nicht im direkten Auftrag des IS gehandelt habe und auch nicht Mitglied eines terroristischen Netzwerks sei. Was aber könnte dann das Motiv einer derartigen Tat sein?« Weiterlesen…
Wäre es nicht klüger, mit den Einordnungen und Bewertungen von Taten so lange zu warten, bis gesicherte Erkenntnisse vorliegen? Wäre es nicht klüger, monströse Taten nicht auch noch durch eine monströse Berichterstattung aufzuwerten? Und wäre es nicht klüger, durch adäquate Berichterstattung Ängste abzubauen, als durch reißerische Berichterstattung Ängste zu schüren?
Und: Wäre es nicht klüger, sich ernsthaft mit den sozialpsychologischen Mustern in der Gesellschaft auseinanderzusetzen, die von der modernen Art zu leben und zu wirtschaften ausgelöst werden?
Hier noch die Einleitung zu Götz Eisenbergs Buch "AMOK - KINDER DER KÄLTE
Über die Wurzeln von Wut und Hass": »Bis vor kurzem trug „Amok“ amerikanische Namen und buchstabierte sich in Littleton, Atlanta oder Jonesboro. Wir Europäer wähnten uns durch gewisse sozial-moralische Immunreserven und den erschwerten Zugang zu Waffen vor der Infektion durch den „Amok-Virus“ leidlich geschützt ... (Heute) ist eine solche entlastende Abspaltung kaum mehr möglich: Amok findet (und fand gelegentlich bereits zuvor) auch vor unseren Haustüren statt! ...
Die Häufung solcher Gewalttaten, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass entweder überhaupt kein Motiv erkennbar ist, die zutage getretene Brutalität also grundlos erscheint, oder dass die ausufernde Reaktion in keiner Relation zu dem Ereignis steht, das den Racheaffekt auslöste, hat eine erneute Debatte über Gewalt hervorgebracht, die eine abgrundtiefe Ratlosigkeit enthüllt.
Der „acte gratuit“ (André Gide) des Amoklaufs lässt unsere gängigen
Erklärungsmuster ins Leere laufen. Die von André Breton ironisch gepriesene „einfachste surrealistische Handlung“, nämlich „mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen“, findet neuerdings mehr und mehr jugendliche, aber auch erwachsene Anhänger.« Weiterlesen...
*Und wehe, wenn im Laufe der Sozialisation nicht gelernt werden konnte, mit Frustrationen und Begrenzungen umzugehen. Dann gibt es Tote und Verletzte.*
Durchaus möglich. Meist in der Verantwortung der verzogenen Söhne und Töchter der satten "Betuchten", die gerne zur Abwechslung mal die kleinen Revoluzzer und Vertreter einer kruden Ideologie spielen - siehe die "RAF".
Das hast Du aber fein beobachtet, dass Kleinkinder und Kinder nicht voll "eigenverantwortlich" leben können. Hier auf MH erweiterte das ein Alt-SED-ler neulich sogar auf den Erwachsenen hin, den er ein "Kind" nannte, um das sich der Staat zu kümmern hätte. Klingt das nun hier wieder an?