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Damals zur guten alten Zeit.

„Damals zur guten alten Zeit, als ich jung war, besaßen wir ein kleines Häuschen. Es hatte vier Zimmer und war unterkellert, dort unten konnten nur wir Kinder aufrecht stehen. Wir lagerten in ihm unter anderem auch Kartoffeln, die meine Mutter zur Bezahlung von dem Bauern bekam, für den sie öfters putzte. Auf dem Dachboden stand ein großer Schrank, in dem unsere Sonntagskleider hingen. Ich betrat den Dachboden nicht gerne, da dort, wie im Keller, auch ein Boratz hauste, wie meine Großmutter sagte. Sie lebte auch bei uns, und in ihrem Zimmer stand ein ebensolcher Schrank, worin sie ihre Trachten aufbewahrte, die sie noch immer trug. Meine Schwester schlief mit in ihrem Ehebett, seit unser Großvater im Krieg gefallen war. Großmutter erzählte oft von ihren Ängsten, die sie in dieser Zeit erleben musste, wenn sie aus der Ferne Bombeneinschläge hörte und sie sich dann alle im Keller versteckten. Ihre Erzählungen ließen uns Kinder erschaudern, und so manches Mal konnte ich nach ihren Ausführungen nachts schlecht einschlafen und bekam Albträume.
Meine Schwester hatte eine kleine Kommode gleich neben ihrem Bett, dort waren ihre Kleider und Schulsachen untergebracht. Nicht gerade viel, aber sie hatte diese für sich alleine. Wir Jungs hingegen teilten uns einen Schrank mit unseren Eltern.
Die Küche war gleichzeitig unser Spielzimmer. Dort stand ein alter Herd, der mit Holz betrieben wurde. Die einzige Wärmequelle im Haus. Deshalb musste ich mit meinen Brüdern sehr oft in den Wald, um Holz zu sammeln, was für mich jedes Mal ein großes Abenteuer war. Wir ließen uns viel Zeit, spielten Verstecken, Räuber oder Cowboys und Indianer. Oder wir planschten in den Pfützen und fingen Molche, wenn welche da waren. Es war herrlich, mit meinen Brüdern im Wald umher zu tollen, ich hatte dann auch keine Angst vor den Baumwichten.
Mein Vater schnitzte mir einmal zum Geburtstag ein Gewehr aus Holz, es sah dem aus meinem einzigen Buch, das ich besaß, verblüffend ähnlich, nämlich der Büchse von Karl Mays „Old-Shatterhand“. Er war mein Held, und ich spielte jede Szene aus dem Buch am Dorfrand nach. Dort, wo sich die Wiese mit den Apfelbäumen, Büschen und Sträuchern befand, dort war mein Spielplatz, dort kämpfte ich mit meiner Büchse gegen die Rothäute und gegen die Feinde des Dorfes, und dort begegnete mir auch nie der wilde Watz. Meine Deckung waren die Bäume, die Büsche und die Sträucher, auch warf ich mich gerne ins hohe Gras, wenn es trocken war. So rief ich aus meiner Deckung dem Feind entgegen: „Bleib stehen oder ich schieße, peng, peng, peng.“ Ich und meine Büchse, wir waren die Helden. So zog ich stolz auf meinen Sieg gen Heimat. Doch so manches Mal zwang mich ein dringendes Bedürfnis, mein Spiel früher zu beenden, sodass ich gerade noch rechtzeitig auf unser „Plumpsklo“ hinter dem Haus kam. Es war eine winzige Hütte aus Holz, ein ausgesägtes Loch in Form eines Herzens befand sich in der Tür. Gleich daneben verlief der Dorfbach. Wenn dieser Bach Hochwasser führte, dies kam mehrmals im Jahr vor, leerte mein Vater die Senkgrube unter dem „Plumpsklo“, und wir Kinder mussten hierbei helfen. Mit einem langen Stab, an dem an einem Ende ein Eimer befestigt war, schaufelten wir unsere Hinterlassenschaft aus der Grube direkt in den Hochwasser führenden Bach. Eine eklige Angelegenheit, der Gestank trieb mir Tränen in die Augen und mir wurde sehr oft übel bei dieser Arbeit.
Auf das „Plumpsklo“ ging ich niemals gerne, ich hasste dieses „Örtchen“ einfach. Im Winter war es klirrend kalt und im Sommer stank es fürchterlich, und manchmal hatte ich das Gefühl, unter mir kreuchte und fleuchte etwas. So versuchte ich sehr oft, meine Bedürfnisse so lange einzuhalten, bis ich in der Schule angekommen war.
Wenn Ferien waren, musste ich natürlich wohl oder übel diesen Bretterverschlag mit dem Herzchen aufsuchen. Noch heute überkommt mich ein Schauer und es fröstelt mich am ganzen Körper bei diesem Gedanken.
Samstags war Badetag. Hierfür mussten wir die alte Blechwanne aus dem Keller nach oben in die Küche bringen, da wir noch kein Badezimmer hatten. Meine Mutter erhitzte das Wasser für die Wanne auf dem Herd in einem kleinen Kessel. Es musste für uns vier Kinder reichen, da es das Wasser schon damals nicht umsonst gab. Unser Alter bestimmte die Reihenfolge. Ich war der Jüngste und kam zum Schluss in die Wanne. Meine Mutter goss noch einen Kessel heißes Wasser hinzu und so war es auch noch warm, als ich endlich an die Reihe kam. Eigentlich hasste ich es, wenn meine Mutter meinen Kopf mit dem Wasser aus der Wanne übergoss und versuchte, mir diesen damit zu waschen, brannte doch der Schaum in den Augen. Alles Flehen half hier nicht, meine Mutter wusch mir dann noch mein Gesicht. Sie sagte immer: „Junge stell dich nicht so mädchenhaft an, dein Vater und ich, wir müssen auch noch baden, die Wäsche muss ich noch waschen und zum Abendbrot möchte ich mit dieser Arbeit fertig sein!“
Samstags war ja auch Wäschetag. Meine Mutter und meine Großmutter erledigten meist diese Arbeit zusammen.
Unser Bekleidungsangebot war, der Zeit angepasst, eher dürftig. Ich besaß gerade einmal zwei Hosen, eine für sonntags und eine für den Alltag. Dazu einige Pullover, ein paar Strümpfe, drei Garnituren Unterwäsche und zwei Paar Schuhe, ein Paar Gummistiefel und zwei Jacken. Mehr nicht.
Die meiste Zeit war ich in meinen Gummistiefeln unterwegs, diese waren schwarz und hatten eine rote Sohle. Es missfiel meiner Großmutter, wenn ich mit ihnen im Bach herumtollte. Sie hatte Angst, ich könnte Plattfüße bekommen. Doch mein Vater nahm mich stets in Schutz: „Besser er bekommt Plattfüße, als dass er seine guten Schuhe zum Spielen im Bach anzieht.“
Der schlimmste Tag damals, an den ich mich noch genau erinnere, als wäre es erst gestern gewesen, war jener, als meine Schuhe beim Schuster waren; gleich beide Paare. Mein Vater sagte mir, es sei billiger, wenn beide Paare vom Schuster überholt würden. Und so kam es, dass ich die Schuhe meines Großvaters tragen musste – eine ganze Woche lang! Jene uralten Dinger, die meine Großmutter seit Ewigkeiten in ihrem Schrank aufbewahrte.
Damals sagte sie: „Junge, man weiß nie, wozu es gut ist, etwas aufzuheben.“ Ich hätte viel lieber meine geliebten Gummistiefel getragen, doch das wollte meine Mutter nicht. So tat ich aus Respekt vor meinen Eltern, was sie von mir verlangten, und zog Großvaters Schuhe widerwillig an. Diese Schuhe waren hässlich, rehbraun und nach vorne hin liefen sie spitz zu. Man sah ihnen ihr Alter deutlich an. Zum ersten Mal schämte ich mich für meine Kleidung, als ich an jenem Tag in die Schule ging.
Meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich leider sehr schnell. Ich wurde ausgelacht, sogar beschimpft: „Schaut euch den an!“ „Schaut, was der anhat!“ „Der hat seine Schuhe von Charly Chaplin geklaut!“ Das waren noch die harmlosesten Sprüche, mit denen mich meine Klassenkameraden der Lächerlichkeit preisgaben. Am liebsten wäre ich im Boden versunken, hätte diese hässlichen Schuhe ausgezogen und wäre barfuß gelaufen. Auch meine Freunde beteiligten sich an der Hetzkampagne. Es schien ihnen großen Spaß zu bereiten, mich zu demütigen. Mir war zum Heulen zumute; ich wollte weglaufen, weit, weit weg.
In dieser furchtbaren Woche wurde mir erstmals bewusst, was es bedeutete „arm“ zu sein. Ich hatte Angst und fühlte mich alleine, einsam und verlassen. Vater oder Mutter, gar meinen Geschwistern erzählen, was mir in der Schule widerfuhr, konnte ich nicht. Ich wollte meine Eltern nicht mit meinen Problemen zusätzlich belasten, und bei meinen Geschwistern befürchtete ich, sie würden mir meinen Kummer als Schwäche auslegen.
„Du bist doch ein Junge“, würden sie bestimmt spotten, „du kannst dich doch wehren.“ So hatte ich zu Hause nie ein Wort über die Sache verloren.
An dem Tag, als meine Mutter meine Schuhe vom Schuster abholte, war ich natürlich mehr als erleichtert, dachte ich doch, dass diese schreckliche Hänselei nun endlich wieder aufhörte. Doch leider dauerte es noch länger, bis auch der letzte meiner Schulkameraden den Spaß daran verlor.
Die Zeit verrann, und allmählich konnten sich meine Eltern mehr leisten. Mein Vater baute im Keller ein Bad mit Toilette ein, sogar eine Ölheizung fand dort noch Platz.
Zum ersten Mal im Haus auf die Toilette zu gehen, ohne zu frieren und ohne diese Ängste, unter mir kreuchte und fleuchte etwas, das war für mich wie Weihnachten. So brauchten wir nicht mehr zum Holzsammeln in den Wald zu gehen, was ich allerdings etwas schade fand, spielte ich doch so gerne mit meinen Brüdern im Wald, doch das hörte dann auf.
Im Laufe der nächsten Jahre baute Vater das ganze Haus um. Wir bekamen einen neuen Dachstuhl und wir Geschwister tatsächlich jeder sein eigenes Zimmer!
Wir bekamen einen Fernseher, der im Wohnzimmer stand.
Vater kaufte ein Auto, meine Mutter machte den Führerschein und ich bekam mein erstes eigenes Fahrrad. Ich war unglaublich stolz darauf und gab ihm sogar einen Namen: „Hirsch“ nannte ich es. Mein Hirsch und ich, wir beide fuhren durch dick und dünn. Treppe hinauf und hinunter, durch den Wald und über Wiesen.
Noch heute, dreißig Jahre später, bin ich im Besitz dieses Rades, meinem „Hirsch“.

© Martin Stumpf 2011

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5 Kommentare

  • Gelöschter Nutzer am 04.08.2012 um 10:02
Gelöschter Kommentar

Martin, ist das schon ein Auszug aus Deinem neuen Buch?

Deine Geschichte ist kein Einzelfall. Du hast jedenfalls eine sehr interessante Geschichte daraus gemacht. Viel können sich damit identifizieren.

Nein, diese Geschichte stammt aus meinem zweiten Buch.

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