Griechenland: Der Tragödie letzter Akt?

Mit freundlicher Genehmigung des Autors
22. Juni 2015 l Heiner Flassbeck l Allgemeine Politik, Europa, Wirtschaftspolitik
www.flassbeck-economics

Die Schlafwandler

Am 25. Januar 2015, also vor fast genau fünf Monaten, machte die Bevölkerung in Griechenland in einer freien Wahl von ihrem Recht Gebrauch, selbst zu bestimmen, wer die Geschicke des Landes in die Hand nehmen und in welche Richtung die neue Regierung gehen sollte. Seit diesem Tag aber versuchen unter Führung Deutschlands einige Regierungen in Europa, genau das zu verhindern. Heute beginnt, wie immer es ausgeht, der letzte Akt dieser europäischen Tragödie.

Als ich vor zweieinhalb Jahren Gelegenheit hatte, mit Alexis Tsipras ausführlich über die Möglichkeiten einer neuen linken Regierung in Griechenland zu reden, habe ich ihm genau das vorhergesagt. Er aber wollte es nicht glauben, weil es doch nicht sein könne, dass eine demokratisch gewählte Regierung in einem demokratischen Europa daran gehindert wird, den Willen des Volkes durchzusetzen. Doch, es kann sein. Wie in vielen Entwicklungsländern zuvor erlebt, ist die Demokratie genau dann am Ende, wenn eine Regierung mit den Gläubigern (in Form des Internationalen Währungsfonds) über alte oder neue Kredite verhandeln muss. Das ist bei Griechenland nicht anders als es in Asien, in Afrika oder in Lateinamerika war.

Dass dabei der Glaube der Menschen in den Schuldnerländern an die Demokratie schwer geschädigt oder sogar zerstört wird, dass über Jahrzehnte die Beziehungen der betroffenen Länder zu den Gläubigerstaaten zerrüttet werden, dass man in den Gläubigerstaaten ein Herrschaftsdenken schafft, dass durch nichts gerechtfertigt ist, dass man eine faire wirtschaftliche Zusammenarbeit für lange Zeit desavouiert, das alles kann die Missionare der „Reformen“ und der wirtschaftlichen Strenge in den Gläubigerstaaten nicht aufhalten. Sie wissen ja, dass sie einer größeren Sache dienen als der kleinen Demokratie in einigen kleinen Ländern.

In diesem Geiste sagte die deutsche Bundeskanzlerin vergangenen Freitag im Deutschen Bundestag einen bemerkenswerten Satz: „Seit Beginn der europäischen Staatsschuldenkrise verfolgt Deutschland ein klares Ziel: Europa soll stärker aus der Krise hervorgehen, als es in sie hineingekommen ist. Auf diesem Weg sind wir weit vorangekommen“.

Europa ist weit vorangekommen? Europa befindet sich im sechsten Jahr von Rezession und Stagnation, es hat hunderte von Milliarden an möglichem Wohlstand eingebüßt, weil es unfähig ist, sich aus der Krise zu lösen. Europa hat ein Niveau der Arbeitslosigkeit, das höher ist als jemals zuvor. In einigen Ländern ist das Niveau der Arbeitslosigkeit unerträglich hoch. Europa befindet sich hart am Rande einer Deflation und die Zentralbank kämpft mit den letzten möglichen Mitteln um Stabilität und gegen weitere Einbußen. Europa muss auf eine Abwertung seiner Währung hoffen, um überhaupt positive Impulse für seine Wirtschaft erzielen zu können. Europa hat es auch im Ansatz nicht geschafft, die Ursachen seiner Misere zu analysieren und Lösungen, die für alle verträglich sind, aufzuzeigen. Europa ist politisch dem Zerfall ganz nahe. Nicht nur in Griechenland und in Großbritannien, sondern auch in vielen anderen Ländern fragen sich die Bürger, warum sie für ein Europa eintreten sollen, das politisch und wirtschaftlich tief zerstritten ist und von Deutschland aus der Krise „geführt“ werden muss. Europas Versagen ist heute die Formel, die fast monatlich in irgendeinem Land neue nationalistische Bewegungen entstehen lässt.

Wenn dieses Europa in den Augen der deutschen Bundeskanzlerin stärker ist als vor der Krise, dann kann man nur schlussfolgern, dass diese Bundeskanzlerin Europa schlafwandlerisch in eine Katastrophe führt. Es ist genau die Unfähigkeit, die Zusammenhänge zu sehen und die Situation der jeweils anderen zu verstehen, die, so wie Christopher Clark es für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg beschrieben hat (hier eine Besprechung des Buches), die Katastrophe geschehen lässt, obwohl es eigentlich niemand will.

Die Sicht der deutschen Bundeskanzlerin auf die Welt ist so eng, so deutsch und so falsch wie es nur eine merkantilistische Sichtweise sein kann. Indem sie diese auf ganz Europa projiziert, schafft sie ein Gebilde, das für den Rest der Welt vollkommen unverdaulich ist und dessen Inneres sich in Auflösung befindet, weil es den meisten Partnerländern zurecht zutiefst widerstrebt, so merkantilistisch zu sein, wie es die „Führungsnation“ vorschreibt. Ich fürchte, einer unsere Leser hat Recht, der darauf hinweist (danke dafür!), dass manche naive Geister im Umfeld der Kanzlerin fest daran glauben, dass nur ein „starkes“ Europa im deutschen Sinne, also ein Europa ohne Schulden, mit Leistungsbilanzüberschüssen und mit der Bereitschaft, den Gürtel noch weit enger zu schnallen, den Herausforderungen der neuen aufstrebenden Mächte begegnen kann und damit überlebensfähig ist (hier eine Quelle dazu). Auf dem Weg, Europa in diesem Sinne zu verunstalten, ist man in der Tat weit vorangekommen.

Diesem Denken steht niemand mehr im Weg als SYRIZA und genau deswegen muss das Exempel statuiert werden. Doch täuscht euch nicht! Nach SYRIZA kommt Podemos oder irgendeine andere Formation, die begreift, dass es so nicht weitergeht und die die Massen bewegen kann. Doch selbst wenn es gelingt, die Linke ein für allemal mundtot zu machen, wird eine radikale Rechte kommen, die man nicht mundtot machen kann, weil sie mit dem „deutschen Europa“ bricht, bevor man sie überhaupt fassen kann.

Das gestärkte Europa nach deutschem Vorbild, von dem die Bundeskanzlerin spricht, ist eine Fata Morgana. Viele vernünftige Menschen wissen das, aber nur wenige in Deutschland sind bereit, sich offen dagegen zu stellen. Man hält still nach dem Motto, man könne das eigene Land doch nicht offen kritisieren, zumal es vom Ausland ja sowieso schon kritisiert wird. So schweigen die Medien oder verteidigen sogar, was eigentlich nicht zu verteidigen ist. So schauen auch die politischen Parteien (mit Ausnahme der Linken, siehe zum Beispiel die Stellungnahme von Gregor Gysi in Erwiderung der Bundeskanzlerin vom Freitag vergangener Woche, ab Minute 6:30 zu Griechenland) zur Seite, denen man eigentlich den aufrechten Gang zugetraut hätte. Das aber ist falsch verstandener Patriotismus und auch eine Form von Schlafwandlertum.

Spätere Generationen werden fragen, warum so wenige bereit waren, ehrlich zu analysieren, was passiert ist und auch den politischen Mut hatten, vor der Schuld der Mächtigen die Augen nicht zu verschließen. Jeder sollte sich selbst fragen, was seine Kinder ihren Kindern sagen werden.

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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