Flucht und Migration: Das Ausblenden der sozialen Realitäten wird nicht funktionieren

Derzeit kursiert im Internet ein Aufruf „Solidarität statt Heimat. Die meisten Aussagen in diesem Aufruf teile ich. Dennoch: Ich halte den Aufruf für kontraproduktiv. Einige Gründe dafür habe ich in der nachstehenden E-Mail an die Autor_innen und Unterstützer_innen des Aufrufs dargelegt.

An die Autor_innen und Unterstützer_innen des Aufrufs „Solidarität statt Heimat“.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Im Aufruf heißt es:

»Das Ausblenden der sozialen Realitäten wird nicht funktionieren«

Dies ist ein wahrer Satz.

Allerdings blenden die Autor_innen des Aufrufs "Solidarität statt Heimat" die sozialen Realitäten in Deutschland und Europa ebenfalls aus, wenn sie schreiben »Nennen wir das Problem beim Namen. Es heißt nicht Migration. Es heißt Rassismus.« Das größte Problem vieler Menschen in Deutschland und Europa ist nicht der Rassismus. Das größte Problem für diese Menschen ist der tägliche Kampf um eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, der tägliche Kampf um bezahlbaren Wohnraum, der Kampf um das tägliche Brot und die tägliche Diskriminierung und Verachtung durch die Hilfsorgane der repressiven Sozialverwaltung und durch Teile der Öffentlichkeit.

Ferdinand Lassalle schrieb, dass »alle politische Kleingeisterei […] in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist« besteht. Auch in dem Themenfeld Asyl und Migration ist es daher notwendig, zunächst einmal differenziert die Realität zu beschreiben. Wer diejenigen, die Wirklichkeit bei Asyl und Migration beschreiben, bereits als Rassisten bezeichnet, spielt genau denjenigen in die Hände, die vorgeblich bekämpft werden sollen.

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Politik der diversen Regierungen der Bundesrepublik Deutschland – und damit auch die politischen Parteien und deren Wähler_innen, die diese Regierungen getragen haben – für viele Fluchtursachen in dieser Welt direkt mitverantwortlich ist. Ich erspare mir hier die Details, sie sollten bekannt sein. Es gibt lediglich eine parteipolitische Kraft von halbwegs Gewicht in Deutschland, die sich dieser Politik geschlossen und konsequent entgegenstellt: DIE LINKE. Allerdings erfolglos.

Zum anderen ist festzuhalten, dass die Politik derselben Bundesregierungen die soziale Lage vieler Menschen in der Bundesrepublik – und durch die Exportwalze auch in Europa – nicht nur nicht verbessert, sondern deutlich verschlechtert hat. Auch hier gibt es nur eine einzige parteipolitische Kraft von halbwegs Gewicht, die diese Politik geschlossen und konsequent bekämpft. Es ist wieder DIE LINKE – und wieder (meist) erfolglos.

In dieser Situation ist es der extremen Rechten gelungen, die öffentliche Diskussion auf die Frage zu verengen „Offene Grenzen in Deutschland für alle Menschen – Ja oder Nein?“. Und die Diskussion über soziale und ökonomische Probleme in der Bundesrepublik wurde damit kontaminiert. Warum die Leitmedien und auch Teile der politischen Linken dieses an sich leicht durchschaubare Spiel mitspielen, darüber möchte ich lieber nicht spekulieren. Denn: In diesem Spiel können nur die Rechten gewinnen.

Wieso können nur die Rechten gewinnen? Weil in diesem Spiel die gesellschaftliche Linke und DIE LINKE sich offensichtlich selbst zerlegen, indem sie eine erbitterte Schlammschlacht in einer Phantomdebatte führen. Gregor Gysi antwortet auf die Frage nach offenen Grenzen für alle, dass er darunter so etwas wie „Reisefreiheit“ versteht, Katja Kipping versteht die Forderung nach offenen Grenzen als „Haltung“, die in der Praxis (noch) nicht umsetzbar sei. „Offene Grenzen für alle“ ist somit keine praxistaugliche Aussage. Und dennoch wird versucht, Sahra Wagenknecht, die eine praxistaugliche Antwort sucht und soziale und ökonomische Probleme benennt, die auch im Themenkreis Flucht und Migration relevant sind, persönlich zu diffamieren und politisch zu demontieren.

Der Ansatz, die Themen „Flucht und Migration“ auf die Alternativen „Für Flüchtlinge oder gegen Flüchtlinge“, „Humanist oder Rassist“ und „Gut oder Böse“ zu reduzieren ist falsch und gefährlich, er verhindert den notwendigen politischen und gesellschaftlichen Wandel.

Mein Vorschlag:

  • Unterstützen Sie alle Bemühungen, die die Situation von Menschen in Deutschland - egal wo sie geboren sind -, die mit geringem Einkommen in prekären Verhältnissen leben müssen, verbessern.

  • Unterstützen Sie alle Bemühungen, die geeignet sind, die Bundesrepublik vom merkantilistischen Kurs abzubringen, um vor allem den europäischen Partner in Frankreich und im Süden Europas zu helfen.
  • Unterstützen Sie alle Bemühungen, die geeignet sind, die Bundesrepublik auf eine friedliche Außenpolitik einzuschwören, die Konflikte nicht militärisch und mit Krieg, sondern mit zivilen Mitteln löst.
  • Unterstützen sie alle wirtschaftlichen Bemühungen, die dazu beitragen, der Mehrheit der Menschen in Afrika eine echte Lebensperspektive zu eröffnen.

Wenn Sie mich fragen, bist Du für oder gegen offene Grenzen für alle Menschen, antworte ich Ihnen: Diese Frage stellt sich nicht. Ich bin dafür, das Grundrecht auf Asyl gegen weitere Angriffe zu verteidigen und wieder auszuweiten. Einige Ursachen für Flucht und Vertreibung können durch eine Änderung der Politik der Bundesrepublik und der EU sehr wohl auch kurz- und mittelfristig beseitigt werden. Wären z.B. die Mittel der UNHCR nicht halbiert sondern aufgestockt worden, hätte es die Ereignisse von 2015 so gar nicht gegeben. Und ich bin der Ansicht, dass die sozialen Probleme in der Bundesrepublik Deutschland mit den Mitteln des Rechtsstaates und auf dem Boden des Grundgesetzes gelöst werden können.

Wenn, ja wenn, politische Mehrheiten in Deutschland für soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, demokratische Teilhabe und friedliche Konfliktlösungen organisiert werden können. Wie dieses Ziel zu erreichen ist, sollte diskutiert werden. Ihr Aufruf trägt nach meiner Ansicht zu dieser Diskussion nichts bei. Im Gegenteil: Der Aufruf spaltet die politischen Kräfte, die sich diesen Zielen verpflichtet fühlen - ob gewollt oder nicht. Leider.

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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