Europa: Krise als Chance?
Seitdem eine Mehrheit der Briten sich für einen Ausstieg aus der Europäischen Union entschied, schallt es quer durch Europa: Krise! Warnschuss! Neustart!
Aber wer oder was, ist denn in der Krise? Wer wurde gewarnt? Und wie soll ein Neustart aussehen? Nach der blutigen Katastrophe der beiden Weltkriege, die den Kontinent verwüsteten, sollten in einem vereinten Europa die vermeintlichen Hauptursachen der Kriege – Nationalismus und Chauvinismus in den Nationalstaaten – überwunden werden. Einheit in der Vielfalt lautete die Losung. Menschenrechte, Freizügigkeit und Rechtsstaatlichkeit sollten zusammen mit wirtschaftlichem Wachstum ein gutes Leben für die Menschen vom Nordkap bis Sizilien gewährleisten.
Zur Zeit des „Wirtschaftswunders“, das es nicht nur in (West)Deutschland gab, entwickelte das europäische Modell - mit der Kombination aus wirtschaftlichem Erfolg, sozialer Verantwortung, hohem Beschäftigungsgrad und starkem sozialem Zusammenhalt in den Gesellschaften - eine beträchtliche Strahlkraft. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde eine pragmatische Globalsteuerung praktiziert, die in der Bundesrepublik mit Karl Schiller und Franz-Josef Strauß (Plisch und Plum) eine Idealbesetzung fand.
Das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums“ wurde gar als „Magna charta der modernen Konjunkturpolitik“ bejubelt. Schillers Theorie basierte auf einem „Magischen Viereck“ (Vollbeschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, stetes Wachstum und stabile Preise). Von diesen vier wirtschaftspolitischen Zielen ist die Bundesrepublik, die Europäische Währungsunion (EWU) und die EU-27 derzeit sehr, sehr weit entfernt.
Man kann es drehen und wenden wie man will: Fakt ist, dass die ökonomische und soziale Lage breiter Bevölkerungsschichten in Europa alles andere als rosig ist (siehe Grafiken 19300 und 19301). In Griechenland ist das Adjektiv „katastrophal“ – nach meinem Kenntnisstand – noch zu milde für die tatsächlichen Lebensumstände einer Mehrheit der Menschen. Selbst im Land der Krisengewinnler, in Deutschland, grassiert bei vielen Menschen eher eine diffuse Abstiegs- und Verlustangst oder das Gefühl von Resignation, als dass Optimismus oder die Hoffnung auf eine bessere Zukunft viele Menschen beflügelt.
Und: Europa wurde zum Synonym für bürokratische Regelungen, Stichwort "Krümmungsgrad von Gurken". Zum Synonym für abgehobene technokratische Entscheidungsfindung, Stichwort "Brüssel und die EU-Kommission entscheiden". Und zum Synonym für eine ausgehöhlte Demokratie, Stichwort "machtloses Europaparlament". Diese Entwicklung wurde von der bundesdeutschen Politik befördert, indem immer wieder die eigene Verantwortung für politisches Handeln mit Verweis auf die EU-Institutionen und "Brüssel" geleugnet wurde.
In dieser Sitution sind weder die Vertreter der amtlichen Regierungspolitik, weder die gesellschaftliche Linke insgesamt, noch die Partei DIE LINKE als Teilmenge dieser Linken, in der Bundesrepublik Deutschland in der Lage, eine – halbwegs – einheitliche Analyse der ökonomischen und sozialen Krise in Deutschland und in Europa vorzunehmen. Daraus folgt die Unfähigkeit, ein mehrheitsfähiges und Begeisterung auslösendes Konzept zur Lösung der Krise zu präsentieren, das in der Bevölkerung auf breite Zustimmung stößt. In diese Lücke versuchen die Petrys, Gaulands und Höckes dieser Welt vorzustoßen.
Was die Krise im Euroraum im engeren Sinne angeht, bin ich der Ansicht, dass die Analyse von Heiner Flassbeck und anderen, der Euroraum müsse zu allererst eine Zone einer gemeinsamen Inflationsrate sein, völlig zutrifft. Und sein Rezept die aufgelaufenen Wettbewerbsvorteile der bundesdeutschen Exportindustrie (siehe Grafik 19307) durch Lohnsteigerungen über der „Goldenen Lohnregel“ (Zielinflationsrate + nationaler Produktivitätszuwachs = nationale Nominallohnsteigerung) abzubauen, klingt ebenfalls überzeugend und plausibel.
Wenn in der Bundesrepublik diese Lohnsteigerungen – aus welchen Gründen auch immer – nicht durchsetzbar sind, bleibt nolens volens nichts anderes übrig, als die Währungsunion aufzugeben. Es sei denn man will abwarten, bis der ganze Laden unkontrolliert und von alleine in die Luft fliegt. Leistungsbilanzüberschüsse der Bundesrepublik in der jetzigen Höhe – und der damit einhergehende Export von Arbeitslosigkeit - sind das Dynamit, das den Euroraum sprengen wird.
Die Lösung der „Eurokrise“ im engeren Sinne ist somit einfach. Die Lösung der sozialen und ökonomischen Krise im weiteren Sinne ist jedoch um ein Vielfaches schwieriger. „Für eine Politik der Hoffnung“ ist ein Aufruf überschrieben, der vom Institut Solidarische Moderne initiiert wurde und dessen Inhalt so der so ähnlich von vielen wohlmeinenden Europäer_innen getragen wird. Aber was heißt das denn konkret, „der Politik der Angst einen demokratischen Neubeginn entgegenzusetzen“? Ich fürchte, das Vorhaben ist gut gemeint, wird aber kläglich scheitern.
Warum wird das Vorhaben kläglich scheitern? Weil die verinnerlichten Basics der neoliberalen und neoklassischen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie nicht „aufgeklärt“ und „aufgehoben“ werden. Das neoliberale "Roll-Back" seit Reagan und Thatcher wurde und wird von wissenschaftlich verbrämter Propaganda vorbereitet, begleitet und in den Köpfen durchgesetzt (Hayek, Friedmann „Kapitalismus und Freiheit“ etc). Es ist die Aufgabe der gesellschaftlichen Linken der ihnen nahestehenden Institute und Think Tanks dieser Propaganda die Wirkung zu nehmen. Aufklärung im besten Sinne zu betreiben.
Das Mantra der Neoliberalen lautet: "Der Markt" und "seine unsichtbare Hand" sorgen für die besten Ergebnisse bei der Verteilung von Gütern in einer Gesellschaft. Und: Angebotspolitik und das Senken von Unternehmenssteuern steigerten die Wohlfahrt aller Menschen (Siehe Grafik 19308). Dieses Mantra hat sich zwar bis auf die Knochen mehrfach blamiert, dennoch lebt es ungebrochen in den Köpfen selbst von Gewerkschaftern und Sozialdemokraten. Sogar Sahra Wagenknecht singt seit neuestem das Hohe Lied des Marktes.
Und die AfD, die in der Bundesrepublik aus der desolaten ökonomischen und sozialen Lage vieler Menschen Honig saugen will, schreibt unverblümt: "Je mehr Wettbewerb und je geringer die Staatsquote, desto besser für alle. Denn Wettbewerb schafft die Freiheit, sich zu entfalten und selbst zu bestimmen, privates Eigentum an Gütern und Produktionsmitteln erwerben zu können, eigenverantwortlich Verträge zum eigenen Wohl und zum allgemeinen Vorteil zu schließen, zwischen verschiedenen Anbietern, Angeboten oder Arbeitsplätzen wählen zu können, ertragsbringende Chancen zu nutzen".
Joachim Jahnke schreibt in seinem Infoportal dazu: „Das ist - bei wenig staatlichem Ausgleich - der neoliberale Wettbewerb der Starken gegen die Schwachen und macht die AfD eigentlich noch mehr zu einer Systempartei, als es die klassischen Volksparteien sind. Protest ist diese Partei nur in ihrer Haltung zu den Flüchtlingen und zur EU. Die AfD kommt schließlich ursprünglich aus einem Mitgliederkreis, dem sich die CDU programmatisch zu sehr der SPD angenähert hatte. Doch übersehen die per AfD Protestierenden das Wirtschafts- und Sozialprogramm dieser Partei, das sehr vielen von ihnen schwer schaden würde und Deutschland in dieser Hinsicht auf die Stufe Großbritanniens brächte.“
Marx und Keynes haben gezeigt, dass ökonomische Systeme, die auf den Basiskategorien Ware, Wert, Geld, abstrakter Arbeit und Wettbewerb beruhen, von Hause aus instabil sind. Das heißt sie müssen gehegt und gepflegt werden, wenn sie auf Dauer den Nutzen der Menschen mehren sollen (oder marxistisch im Sinne des „esoterischen“ (Robert Kurz) Marx gewendet: die gesellschaftliche Reproduktion wird nicht über Ware, Wert, Geld und abstrakte Arbeit organisiert).
Im Übrigen ist das Mantra der Neoliberalen auch ein Roll-Back der Aufklärung. Denn der "Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit" (Kant) war das Ziel der Aufklärung. Wer sich den angeblichen Sachzwängen "der Märkte" bedingungslos unterwirft (there is no alternative - TINA), befindet sich auf dem Rückweg in vormoderne Zeiten.
Das ist der Kampfplatz: Freiheit durch Sozialismus! Die jetzige Wirtschaftsordnung tötet! Die jetzige Wirtschaftsordnung versklavt den Menschen an seine eigenen Produkte! Die Merksätze „Eine funktionsfähige Marktwirtschaft bedarf der sozialen Regulierung“, „Die Herstellung bestimmter Güter durch gewinnorientierte Unternehmen ist ineffizient“, und „Wettbewerb ist nicht immer der Förderung des Gemeinwohlinteresses zuträglich“ sollten zusammen mit den Rationalitätenfallen der diversen Konkurrenzparadoxa tagein tagaus, landauf landab aus allen Kanälen verbreitet werden.
Und: Es gilt, ein gesamtgesellschaftliches Bildungsprogramm über das moderne Geldwesen aufzulegen. Die Summe der weltweiten Geldvermögen ist Null! Dann hört vielleicht auch das Gerede von der Vernichtung von Geld durch Kursstürze an Rohstoff-, Aktien- oder sonstigen Börsen auf. Und das unselige Gerede über die Enteignung der Kleinsparer. Die Schuldenbremse muss als Unfug mit Verfassungsrang desavouiert werden. Schiller und Strauß, Plisch und Plum, die Wiederauferstehung der Globalsteuerung gilt es vorzubereiten und umzusetzen.
Eine andere Welt ist möglich. Ein anderes Europa ist möglich. Die Voraussetzungen dazu sind zu allererst in der Bundesrepublik zu schaffen: Durch einen fundamentalen Politikwechsel. Und dieser wird - wenn überhaupt – kurz- und mittelfristig nur möglich sein durch ein rot-rot-grünes Projekt. Die Alternative dazu: Ein Auseinanderbrechen der EWU und der EU-27 mit einem weiteren Anwachsen von Nationalismus und Chauvinismus. Mit unkalkulierbaren Folgen für die Frage von Krieg und Frieden.
Jaja, der Herr Gauck. Vor lauter "Freiheit" sieht er "'Gleichheit und Solidarität" nicht. Die Tür für die Briten sollte nicht zugenagelt werden. Aber Extrawürste sollten auch nicht gebraten werden.
Wobei Joachim Gauck wohl auch nicht verstanden hat, weshalb in Großbritannien - und nicht nur dort - eine Mehrheit der Menschen der Europäischen Union in ihrer jetzigen Verfasstheit den Rücken zukehrt: Die ökonomische und soziale Lage ist für eine Mehrheit der Menschen in weiten Teilen der europäischen Union schlichtweg furchtbar. Und Gauck und Co. wollen oder können das nicht sehen. Mit den bekannten Folgen.