DIE LINKE und der Mauerfall

Marburg, Anfang Dezember 2014

Immer wieder - auch hier auf myheimat - wird der Partei DIE LINKE und ihren Mitgliedern vorgeworfen, sich nicht mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben und die Verbrechen, die im Namen des Sozialismus begangen wurden, zu leugnen oder zu relativieren.

Meistens versuche ich diese Vorwürfe mit Zitaten aus Dokumenten vergangener Parteitage oder von verabschiedeten Progammen zu widerlegen. Häufig werden die Zitate mangels Aktualität nicht akzeptiert und die Vorwürfe weiterhin erhoben.

Deshalb publiziere ich hier den Beschluss des Bundesvorstandes der Partei DIE LINKE vom 29. November 2014. Da die Mitglieder der Partei durchaus streitlustig und debattierfreudig sind, wurde der Beschluss nicht einstimmig gefasst. Das Minderheitenvotum wird ebenfalls dokumentiert:

Es gibt keine Gewissheiten, aber immer Alternativen

"Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit."

Vor mehr als einer halben Million Menschen sprach Stefan Heym am 4. November 1989 diese Worte auf einer Kundgebung, zu der Berliner Theaterschaffende aufgerufen hatten. Es war nicht das erste Mal in diesen Herbsttagen, dass Bürgerinnen und Bürger von ihrem Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit Gebrauch machten, aber es war die größte Demonstration, die die DDR jemals erlebt hatte und erleben sollte.

Noch wenige Wochen zuvor beging die SED-Führung mit viel Pomp den 40. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Längst jedoch war das System des real existierenden Sozialismus in Auflösung. Seit Wochen verließen Tausende das Land, ihr Land, und kehrten diesem System den Rücken. Am 9. Oktober 1989, zwei Tage nach den Jubiläumsfeierlichkeiten, versammelten sich Zehntausende in Leipzig, um friedlich gegen die Politik der Partei- und Staatsführung zu protestieren.

Der real existierende Sozialismus scheiterte nicht zuerst an äußeren Umständen, sondern an seinen eigenen inneren Widersprüchen, an seinen Fehlern und Verbrechen, an Unfreiheit und ideologischem Dogmatismus, an seiner wirtschaftlichen Ineffizienz – und auch nicht nur in der DDR, sondern zugleich in zahlreichen anderen Ländern, vor allem auch in der UdSSR. Schon Jahre zuvor gelang es der SED nicht mehr, eine Mehrheit der Menschen in der DDR von der Richtigkeit ihrer Politik ernsthaft zu überzeugen. Im Herbst 1989 hatte sie auch das letzte Vertrauen verspielt.

Die Menschen in der DDR gingen auf die Straßen, weil sie das Gefühl hatten, ihnen fehle die Luft zum Atmen. Sie hatten sich für Demokratie und Selbstbestimmung entschieden und gegen einen Staat, der zwar für ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit sorgte, aber ihnen in wichtigen Bereichen das Recht absprach, für ihr Land und ihre persönliche Entwicklung selbstbestimmt Entscheidungen zutreffen. Vielen erschienen die Entwicklungen in der damaligen Sowjetunion, die mit den Begriffen Glasnost und Perestroika verbunden waren, als Vorbild für einen ähnlichen politischen Prozess in der DDR. Dies alles geschah in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft und dies alles geschah friedlich.

25 Jahre später dankt DIE LINKE – nicht zum ersten Mal – diesen mutigen Bürgerinnen und Bürgern für ihre Zivilcourage. Sie tut dies in dem Wissen darum, dass sich dieser Protest gegen die Politik der SED richtete, also gegen eine politische Praxis, für die zwar die meisten heutigen Mitglieder der Partei DIE LINKE keine persönliche Verantwortung tragen, der sich die Partei jedoch insgesamt bis heute zu stellen hat. Die Entschuldigung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern der DDR und der unwiderrufliche Bruch mit dem Stalinismus als System – ausgesprochen auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED/PDS im Dezember 1989 – wirken bis heute nach. Für DIE LINKE heißt es darum: Kein Sozialismus ohne Freiheit, kein Sozialismus ohne Demokratie.

Der Herbst des Jahres 2014, 25 Jahre nach der Friedlichen Revolution, sollte Anlass sein zu erinnern, aber auch auf die gesellschaftlichen Zustände heute zu schauen, hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus. Er ist Anlass, an die Hoffnungen der Menschen, an den Aufbruch zu erinnern – und es ist gleichzeitig Zeit danach zu fragen, wie es heute um Freiheit und Gerechtigkeit bestellt ist. Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte. Heute zeigt sich überdeutlich, dass die Gesellschaft durch tiefe, dem Kapitalismus eigene Widersprüche gekennzeichnet ist. Offensichtlich bringt er keine Lösung für die zentralen Zukunftsfragen wie sozialen Zusammenhalt und gesellschaftlichen Fortschritt, Demokratie, Umwelt und Frieden.

Viele Bürgerinnen und Bürger sind der Auffassung, dass sie ohnehin keinen Einfluss mehr auf politische Prozesse nehmen können, weil mächtige wirtschaftliche Interessen, mediale Macht und politische Ignoranz dies unmöglich machen. Dazu kommt eine sehr reale Basis für gesellschaftliche Ausgrenzung, Armut verfestigt sich, soziale Unsicherheit ist bis weit in die so genannte Mitte hinein schon lange kein Fremdwort mehr. Für DIE LINKE ist die (Wieder-) Einbeziehung breiter Bevölkerungsschichten in demokratische Prozesse eine entscheidende Zielstellung. Wir wollen sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern, anstatt Spaltung zu vertiefen.

Die Teilung Deutschlands und die Gründung zweier deutscher Staaten 1949 standen sinnbildlich für die Spaltung Europas nach 1945 – sie waren gleichermaßen undenkbar ohne die furchtbaren Verheerungen des II. Weltkrieges, der von deutschem Boden entfesselt wurde. Die Befreiung vom Faschismus am 8. Mai 1945 und unser antifaschistisches Erbe bleiben dauerhafte Verpflichtung für DIE LINKE. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 war auch von der Hoffnung auf eine Überwindung nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Teilung getragen.

Über viele Jahrzehnte bedeutete der Prozess der europäischen Integration friedliche Nachbarschaft und wirtschaftliche Kooperation einstmals verfeindeter Staaten. Doch kriegerische Auseinandersetzungen sind wieder zurückgekehrt nach Europa, an den Außengrenzen der Europäischen Union sterben Jahr für Jahr tausende Flüchtlinge. Der reiche Norden und der arme Südosten prägen europäische Realität. Wir wollen Mauern überwinden, statt neue zu errichten. Wir wollen Menschen hier bei uns willkommen heißen, Schutzbedürftigen Schutz gewähren statt abzuschieben, Solidarität üben statt auf Kosten anderer zu leben. Auch dies ist für uns eine Lehre der jüngeren Geschichte.

"Auf der einen Seite wünschen wir uns eine Erweiterung des Warenangebots und bessere Versorgung, andererseits sehen wir deren soziale und ökologische Kosten und plädieren für die Abkehr von ungehemmtem Wachstum. Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. Wir wollen geordnete Verhältnisse, aber keine Bevormundung. Wir wollen freie, selbstbewusste Menschen, die doch gemeinschaftsbewusst handeln. Wir wollen vor Gewalt geschützt sein und dabei nicht einen Staat von Bütteln und Spitzeln ertragen müssen..." So hieß es in einem Text des Neuen Forums, einem zentralen Anker des demokratischen Protestes gegen die Verhältnisse in der DDR, im Jahre 1989. Vieles davon hat nichts – wenn auch heute unter gänzlich anderen Bedingungen – an Aktualität verloren.

Die Friedliche Revolution war getragen von den Hoffnungen vieler Bürgerinnen und Bürger der DDR auf eine bessere Zukunft. Viele wurden erfüllt, manche bitter enttäuscht. Hoffnungen sind es, die zivilgesellschaftliches Engagement überall auf der Welt bis heute begründen – auf mehr Demokratie und soziale Rechte, auf persönliches Glück und ein selbstbestimmtes Leben. 1989 haben wir gelernt, es gibt keine Gewissheiten, aber immer Alternativen. Es lohnt sich, die großen Fragen zu stellen und Antworten zu geben, die vorhandene gesellschaftliche Veränderungspotenziale nicht unterschätzen. Als LINKE stehen wir nicht nur zu unserer historischen Verantwortung, sondern auch zu unserer politischen Konsequenz - dem demokratischen Sozialismus.


Minderheitsvotum

Wir bedauern sehr, dass der Antrag heute keinen Beschluss zu fassen mit 14 Ja-Stimmen zu 16 Nein-Stimmen abgelehnt wurde.

Es zeugt nicht von einem unkritischen Verhältnis zur DDR, festzustellen: Mit dem vorliegenden Beschluss wird die Linie einer sich am Zeitgeist orientierenden Einschätzung der DDR fortgesetzt. Weder entspricht diese Herangehensweise dem Erfurter Parteiprogramm noch maßgeblichen Aussagen Michael Schumanns in seiner vielzitierten Rede auf dem Sonderparteitag vor 25 Jahren.

Dort heißt es nicht zuletzt: "Aber die Bürger unseres Landes und die Mitglieder unserer Partei, die sich allzeit guten Glaubens mit Herz und Hand für den Sozialismus auf deutschem Boden eingesetzt haben, brauchen die Gewissheit, dass sie eine gute Spur in der Geschichte gezogen haben.

Sie haben dies getan:

  • indem sie nach der Befreiung vom Naziregime Faschismus und Militarismus überwunden haben, jedenfalls als die Gesellschaft beherrschende Erscheinung,
  • indem sie vor allem auf gesellschaftlichem Eigentum in Industrie und Landwirtschaft beruhende Produktion organisierten, die zeitweise auch ein ansehnliches Wirtschaftswachstum zu gewährleisten vermochte,
  • indem sie unter widrigen Bedingungen einen Volkswohlstand erarbeiteten, der zwar dem vergleich mit den entwickeltsten Industrieländern nicht standhält, im Weltmaßstab aber im Vorderfeld liegt,
  • indem sie Bildungsschranken niederrissen, ein beträchtliches Ansteigen des Bildungsniveaus und der beruflichen Qualifikation ermöglichten und ein geistiges Klima schufen, in dem die Idee sozialer Gerechtigkeit zur Grundüberzeugung vieler Menschen gehört,
  • indem sie ein soziales Netz und eine Gesetzgebung schufen, die niemanden in die Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit, ins soziale Aus abgleiten läßt,
  • indem sie mit Leistungen auf vielen Gebieten der DDR zu internationalen Ansehen verhalfen,
  • indem sie dazu beitrugen, daß sich die DDR den Ruf eines Friedensstaates erwarb, in dem internationale Solidarität und Antifaschismus eine Heimstatt haben.
  • Dies und manches andere darf in der Kritik am Stalinismus nicht untergehen, nicht zuletzt darum, weil eine sachliche und vernünftige Analyse der Vergangenheit notwendig ist, um die Erneuerung einleiten zu können.

    Die Menschen, die nach zwölf Jahren Nazi-Diktatur und sechs Jahren Krieg angetreten waren, um Faschismus und Militarismus mit ihren Wurzeln zu beseitigen und eine antifaschistisch-demokratische und schließlich sozialistische Ordnung zu errichten, haben sich die Bedingungen ihres Wirkens wahrlich nicht aussuchen können. Sie konnten entweder zuschauen, wie unser Volk ins Chaos versinkt, oder etwas Neues wagen. (...) Wenn trotz schwieriger Ausgangsbedingungen dennoch Bedeutendes zur sozialökonomischen Umgestaltung der Gesellschaft geleistet wurde, volkseigene und genossenschaftliche Betriebe in Industrie und Landwirtschaft entstanden, wenn Menschen aus dem werktätigen Volk Verantwortung in Staat, Wirtschaft und Kultur übernahmen, wenn sich eine Gesellschaft mit unverwechselbaren Zügen herausbildete - so gehört das zu dem positiven Ertrag unseres Volkes und auch zu den Leistungen unserer Partei. Und, Genossinnen und Genossen, wir würdigen all jene, die sich selbstlos in jahrzehntelanger Arbeit für den Sozialismus auf deutschem Boden eingesetzt und Großes geleistet haben. Eine Erneuerung, die das vergäße, die träte mit einer neuen Unmoral an."

    Seit den einschlägigen Thüringer Debatten im Kontext mit dem Koalitionsvertrag gibt es an der Basis der LINKEN zahlreich Unzufriedenheit und massenhaft Diskussionen. Eine vom Zeitgeist nicht unbeeinflusste Einschätzung unserer Geschichte werden von ungezählten Genossinnen und Genossern, Sympathisanteninnen und Sympathisanten sowie Wählerinnen und Wähler nicht nur nicht geteilt, sondern als demütigend empfunden. Zu Recht.

    Was immer der vorliegende Beschluss, - der unseres Erachtens, nach der gemeinsamen Erklärung der Parteivorsitzenden und Gregor Gysi vom 8. November 2014 keine Funktion mehr hat -, bewirken soll ist unklar. Klar ist, er setzt die Demütigungen fort.

    Deshalb verweigerten wir ihm die Zustimmung. Das Ergebnis von 26 Ja-Stimmen, 6 Nein-Stimmen und 7 Enthaltungen nehmen wir zur Kenntnis.

    Arne Brix, Judith Benda, Ali Aldailami, Sabine Wils, Wolfgang Gehrcke, Johanna Scheringer-Wright

    Bürgerreporter:in:

    Hajo Zeller aus Marburg

    following

    Sie möchten diesem Profil folgen?

    Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

    49 folgen diesem Profil

    5 Kommentare

    online discussion

    Sie möchten kommentieren?

    Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

    add_content

    Sie möchten selbst beitragen?

    Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.