Bundesverfassungsgericht: Hartz-IV-Sanktionen teilweise verfassungswidrig
Nach fast 15 Jahren Sanktionspraxis, nahezu einer Million Sanktionen jährlich und Milliarden nicht gezahlter Existenzsicherungsleistungen wurde nun endlich das Sanktionsregime verfassungsgerichtlich beurteilt.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verkündete heute, 5. November 2019, sein mit Spannung erwartetes Urteil zur Zulässigkeit der Hartz IV-Sanktionen im Sozialgesetzbuch II (SGB II). Es ging dabei um die Frage, ob SGB II-Sanktionen gegen das Prinzip der Menschenwürde verstoßen oder halt nicht. Den Stein ins Rollen brachte das Sozialgericht in Gotha, das in zwei Urteilen der Ansicht war, die Sanktionspraxis sei verfassungswidrig (mehr Informationen hier).
Bisher hatte das BVerfG in zwei Urteilen herausgearbeitet, dass „das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG jedem Hilfebedürftigen die materiellen Voraussetzungen für seine physische Existenz und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben als unerlässlich zusichert ein unverfügbares Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums darstellt (Urt. v. 09.02.2010, Az. 1 BvL 1/09).
Das heutige Urteil erinnert ein wenig an die berühmten Fragen an Radio Eriwan: Sind Sanktionen im SGB II verfassungswidrig? Antwort: Im Prinzip ja, aber…
Und dieses Aber hat es in sich. Die Jobcenter können weiter Sanktionen bis zu 30 Prozent des Regelsatzes verhängen. Eine genaue Analyse des Urteils und seiner Auswirkungen auf die Praxis in Verwaltung und Justiz steht noch aus.
Das BVerfG selbst veröffentlichte seine Entscheidung in einer Pressemitteilung (Kurzversion) mit diesem Wortlaut:
"Der Gesetzgeber kann die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden, solche Leistungen also nur dann gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er kann erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und darf die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht.
Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung gelten hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist hier beschränkt. Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen kann, desto weniger darf er sich allein auf Annahmen stützen. Auch muss es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten.
Mit dieser Begründung hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil zwar die Höhe einer Leistungsminderung von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs bei Verletzung bestimmter Mitwirkungspflichten nicht beanstandet. Allerdings hat er auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse die Sanktionen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, soweit die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt.
Mit dem Grundgesetz unvereinbar sind die Sanktionen zudem, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben wird. Der Senat hat die Vorschriften mit entsprechenden Maßgaben bis zu einer Neuregelung für weiter anwendbar erklärt."
Langversion hier nachlesen.
Meine Meinung: Die Sanktionen im SGB II stellen gravierende Verstöße gegen die Menschenrechte da und sind nicht dazu geeignet, eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Sie führen vielmehr zu Verschuldung, Obdachlosigkeit und immer weiterer Entfernung vom Arbeitsmarkt. Deshalb bleibt als politisches Ziel:
Sanktionen abschaffen!
Diese Ansicht vertreten auch die Selbsthilfegruppen, wie Tacheles e.V., Wohlfahrts- und Sozialverbände, wie der Paritätische Gesamtverband, DIE LINKE und der DGB.
Bürgerreporter:in:Hajo Zeller aus Marburg |
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