Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum: Wahlprüfsteine
Von der Veröffentlichung dieses Beitrages bis zum Schließen der Wahllokale bleiben den Wahlkämpfer_innen noch 137 Stunden. Für die Wähler_innen heißt das:
137 Stunden zum Prüfen und Wägen der Argumente -
137 Stunden um die Geschichten des Mainstreams zu durchschauen
Zeit genug, sich noch einmal die Positionen der wahlkämpfenden Parteien anzusehen. Hier die Positionen zum Themenkomplex "menschenwürdiges Existenzminimum"
Das Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum verfolgt das Ziel, ein menschenwürdiges Leben für alle zu garantieren. Daher hat das Bündnis Anforderungen an die Politik in der nächsten Legislaturperiode formuliert, die nachstehend dokumentiert werden.
Diese Forderungen wurden an die politischen Parteien versendet, die für eine Regierungsverantwortung überhaupt in Frage kommen. Aus diesem Grund fiel die AfD aus. Die Antworten der Parteien können Sie in dieser Zusammenstellung nachlesen.
Anforderungen an die Politik in der nächsten Legislaturperiode
Die bestehenden Regelsätze hält das Bündnis für zu niedrig. Die realen Bedarfe der Leistungsberechtigten können nicht gedeckt werden, wie folgende Beispiele verdeutlichen:
- Ausgaben für Nahrungsmittel machen bereits etwa ein Drittel des Regelbedarfs aus. Einer alleinstehenden Person stehen 4,69 Euro pro Tag für Essen und Trinken zur Verfügung. Damit ist eine auskömmliche und gesunde Ernährung nicht möglich. Es widerspricht den verfassungsrechtlichen Grundsätzen des Sozialstaates, dass zunehmend die Tafeln diesen Mangel auffangen.
- Über 15.000 Darlehen werden jahresdurchschnittlich Monat für Monat von den Jobcentern bewilligt, weil unabweisbare Bedarfe nicht gedeckt werden können. Der durchschnittliche Zahlungsanspruch pro Person ist dabei seit 2007 von 233 Euro auf 434 Euro angestiegen. SGB-II-Leistungsberechtigte leiden sehr häufig unter sogenannter materieller Entbehrung.
- Die Leistungen der Grundsicherung reichen nicht aus, um grundlegende Güter und Dienste zu finanzieren. Abgenutzte Möbel oder Kleidung zu ersetzen oder unerwartete Ausgaben zu bezahlen, ist für die Leistungsberechtigen nicht oder nur mit großen Anstrengungen möglich. Insbesondere soziale und kulturelle Teilhabe bleibt ihnen vorenthalten.
Das Bündnis fordert eine methodisch saubere und transparente Ermittlung der Regelsätze und einen Verzicht auf willkürliche Kürzungen. Die aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) gewonnenen Daten müssen anhand weiterer Untersuchungen, die den tatsächlichen Bedarf ermitteln, auf ihre Plausibilität überprüft werden. Die Regelbedarfe müssen erhöht werden, damit die Bedarfe gedeckt werden können.
Die von uns geforderte grundlegende Neuermittlung der Regelsätze braucht Zeit. Deshalb fordern wir die Regierung auf, folgende Soforthilfen zu gewähren, um die Lebenslage von Grundsiche-rungsbeziehenden unmittelbar spürbar zu verbessern:
- Es sind zusätzliche Einmalbeihilfen zu gewähren, wenn ein Kühlschrank, eine Waschmaschine oder andere teure, langlebige Güter angeschafft werden müssen. Solche Extraleistungen muss es auch für gesundheitliche Bedarfe geben, beispielsweise für eine Brille.
- Die tatsächlich notwendigen Ausgaben für die Schule müssen abgedeckt werden, auch die er-höhten Kosten bei der Einschulung und beim Wechsel in die fünfte sowie siebte Klasse. Die Leistungen für den Schulbedarf in Höhe von heute nur 100 Euro pro Schuljahr sind entsprechend zu erhöhen.
- Der 1-Euro-Eigenanteil beim Schul- und Kita-Essen ist zu streichen. Dies fördert die
Teilnahme am gemeinschaftlichen Mittagessen und spart unsinnigen Verwaltungsaufwand. - Der Ansatz für Mobilität im Regelsatz ist so zu erhöhen, dass mindestens ein vergünstigtes Sozialticket für den öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) bezahlt werden kann. In ländlichen Regionen ohne funktionierenden ÖPNV muss auf Antrag ein Mobilitätszuschlag gewährt werden.
Auf Grundlage dieser Überzeugung hat das Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum die einschlägigen Positionen der Parteien abgefragt. Die Antworten werden hier kurz zusammengefasst und kommentiert:
Höhe der Regelbedarfe, Sofortmaßnahmen und Verfahren zur Ermittlung der Regelbedarfe
Die Antworten zur Bewertung der aktuellen Höhe der Regelbedarfe teilen sich in zwei Lager. CDU / CSU, FDP sowie SPD halten die bestehenden Regelbedarfe für angemessen. Sie seien in einem Verfahren nach dem Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ermittelt worden und daher nicht zu kritisieren. Dabei ist etwa die Vorgabe des BVerfG aus dem Jahr 2014, dass es zusätzliche Leistungen für notwendige, teure Anschaffungen geben muss, bis heute nicht umgesetzt.
Auch bei möglichen Sofortmaßnahmen halten sich diese Parteien zurück. Auch zusätzliche Leistungen für besondere Bedarfe soll es nach ihren Antworten nicht geben. Im Gegensatz dazu halten sowohl Bündnis 90/Die Grünen als auch DIE LINKE die bestehenden Regelbedarfe für zu niedrig und kritisieren auch die zugrundeliegende Verfahrensweise. Bündnis 90 / Die Grünen halten zwar an dem bestehenden Statistikmodell fest, schlagen jedoch einige konkrete Änderungen vor, die im Ergebnis zu höheren Leistungen führen würden. Welche Leistungshöhe die Grünen für angemessen halten, wird nicht beziffert.
Im Gegensatz dazu plädiert DIE LINKE für einen Systemwechsel: weg vom Statistikmodell hin zu einer Orientierung der Regelbedarfe an der Armutsgrenze. Die Armutsgrenze soll die Richtschnur für die zukünftige Leistungshöhe der Grundsicherung darstellen. Nach Ansicht der LINKEN spricht dies für eine Leistungshöhe von 1.050 Euro (Regelbedarf plus Kosten der Unterkunft und Heizung). Die Orientierung an der Armutsgrenze soll kontrolliert werden durch einen Warenkorb. Damit soll überprüft werden, ob mit den ermittelten Leistungen die Bedarfe faktisch gedeckt werden können.
Ähnlich lauten die Antworten zu den Bedarfen für die Kinder in der Grundsicherung. CDU /CSU, FDP und SPD finden die derzeitigen Regelsätze für Kinder und Jugendliche ausreichend. Das Bildungs- und Teilhabepaket wird von der Union als erfolgreich bewertet. Die Union verweist zudem auf weitere kleinere Förderprogramme, kündigt aber keine weiteren Aktivitäten an. Die SPD formuliert allgemeine Ziele, wie z.B. dass niemand wegen seiner Kinder arm werden solle. Teilhabechancen der Kinder sollen durch gute und bedarfsgerechte Kitas und Ganztagsschulen verbessert werden. Zudem spricht sich die SPD für ein neues Kindergeld aus, das nach Einkommen und Kinderzahl gestaffelt das bisherige Kindergeld und den Kinderzuschlag integriert.
Dieser Vorschlag betrifft aber – soweit erkennbar – lediglich Kinder jenseits der SGB II-Bedürftigkeit. Die FDP spricht sich für eine stärkere Integration kinderbezogener Leistungen zu einem „Kindergeld 2.0“ aus. Darunter versteht die FDP ein neues System mit drei Elementen: einem einkommensabhängigen Kindergeld, einem einkommensabhängigen Kinder-Bürgergeld sowie Gutscheinen für kinderbezogene Leistungen. Damit sollen administrative Hürden abgebaut und Zugänge zu Leistungen erleichtert werden. Eine Erhöhung von Leistungen wird allerdings nicht in Aussicht gestellt. Die Kinder sollen aus den Bedarfsgemeinschaften herausgelöst werden.
Bündnis 90 / Die Grünen und DIE LINKE halten die Leistungen für Kinder im SGB II für unzureichend und sprechen sich für höhere Leistungen aus. Die Grünen benennen keinen konkreten Betrag, sondern verweisen auf eine neue Berechnung. Daneben wollen sie das Bildungs- und Teilhabepaket reformieren und einen Umgangsmehrbedarf einführen für Kinder in der Grundsicherung, die zwischen getrennt lebenden Eltern wechseln.
Die LINKE spricht sich für einen Aktionsplan gegen Kinderarmut aus und fordert als „Sofortmaßnahme“ eine Anhebung des Kindergelds für alle Kinder auf 328 Euro. Zudem fordert die LINKE eine eigenständige Kindergrundsicherung, die sie auf eine Höhe von 573 Euro pro Monat veranschlagt. Daneben fordert sie eine bessere öffentliche soziale Infrastruktur und benennt als zentrale Felder: kostenfreien Nahverkehr für Kinder und Jugendliche, kostenfreie Nutzung von Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie kostenfreie hochwertige Mahlzeiten in Kitas und Schulen.
Sanktionen
CDU / CSU und FDP bewerten Sanktionen in der „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ (Hartz IV) als notwendiges Element des als richtig angesehenen Ansatzes von „Fördern und Fordern“. Wer Leistungen beanspruchen wolle, müsse auch Pflichten eingehen, die im Zweifelsfall sanktioniert werden können. Die SPD spricht sich in Abgrenzung zu dieser Position für die Abschaffung der besonders strikten Regeln für Unter-25-Jährige aus. Sanktionen sollen auch nicht mehr die Wohnkosten betreffen dürfen. Die LINKE und Bündnis 90 / Die Grünen sprechen sich für eine komplette Abschaffung der Sanktionen aus.
Bewertung
Die Antworten zeigen, das Problembewusstsein und demzufolge der Reformwille, die Regelsätze zu verbessern, sind bei den Parteien sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die unwürdigen Bedingungen, unter denen die Betroffenen leben müssen, werden von einigen Parteien schlicht ignoriert. Insbesondere bei den beiden „großen“ Parteien Union und SPD, die aktuell die Regierung stellen, wird auf die unterstellte formelle Rechtmäßigkeit des Verfahrens verwiesen.
Gleichzeitig wird verneint, dass bei Höhe und Umfang der Hartz-IV-Leistungen Handlungsbedarf besteht. Selbst die sehr begrenzten Sofortmaßnahmen übersteigen den Reformwillen von Union und SPD. Auch die FDP sieht hinsichtlich der finanziellen Leistungen keinen Handlungsbedarf. Lediglich die aktuellen Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag, Bündnis 90 / Die Grünen und Die LINKE, teilen die Kritik des Bündnisses, dass die Regelbedarfe nicht sachgerecht ermittelt wurden und den tatsächlichen Bedarf der Leistungsberechtigten nicht decken.
Fast acht Millionen Menschen beziehen in Deutschland Grundsicherungsleistungen, deren Höhe unmittelbar von den Regelbedarfen abgeleitet werden (Hartz IV, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Hilfe zum Lebensunterhalt, Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes). Mehr als ein Zehntel der Gesellschaft in Deutschland! Fast sechs Millionen Menschen beziehen Hartz-IV-Leistungen. Unter den Kindern bis 15 Jahre leben etwa 15% in Haushalten von Hartz-IV-Beziehenden.
Im Grundgesetz ist verankert, dass der Sozialstaat ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten hat. Die aktuell geltenden Regelsätze in der Grundsicherung leisten keinen Beitrag für die dringend notwendige Bekämpfung der Armut im reichen Deutschland. Armut wird mit diesen Regelsätzen nicht überwunden, sondern zementiert. Die Interessen und Bedarfe der Leistungsbeziehenden dürfen im politischen Prozess nicht ignoriert und an den Rand gedrängt werden. Aus diesem Grund bekräftigt das Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum die Forderung nach einer Neuermittlung und spürbaren Anhebung der Regelbedarfe. Wir setzen ein Zeichen für eine Stärkung des Sozialstaates, in dem alle in Würde leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.
Bürgerreporter:in:Hajo Zeller aus Marburg |
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