Agenda 2010 und SPD: Die Geister, die sie riefen...
Und sie laufen! Naß und nässer
wirds im Saal und auf den Stufen.
Welch entsetzliches Gewässer!
Herr und Meister! hör mich rufen! –
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.
Aus "Der Zauberlehrling" von Johann Wolfgang von Goethe
WISO DIREKT 38/2017
Angst im Sozialstaat –
Hintergründe und Konsequenzen
Menschen, deren Existenz bedroht ist, sind für die Propagandisten radikaler Lösungen ihrer Probleme zugänglich. Egal ob es sich um tatsächliche oder um Scheinlösungen handelt. Dies ist eine der wichtigsten Lehren aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ohne Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, den Abstieg des Kleinbürgertums und der brachialen Kürzungspolitik der Reichsregierung ist der Aufstieg von Hitler und seiner Faschisten nicht vorstellbar.
Nach dem 2. Weltkrieg war dies selbst den „bürgerlichen“ Parteien klar. Sie verfolgten - nicht nur wegen der Blockkonfrontation - eine Politik des sozialen Ausgleichs, wie zum Beispiel das Ahlener Programm der CDU belegt. Oder diverse Passagen zu Reichtum und Vermögen in den Verfassungen der Bundesländer (z.B. die Artikel 158 bis 162 zum "Eigentum" in der Bayerischen Verfassung; solche Formulierungen werden heute als "umstürzlerisch" gebrandmarkt).
In Deutschland reichte die Politik des sozialen Ausgleichs – ohne den Zustand der Republik im Rückblick zu glorifizieren – bis in die 1990er Jahre hinein. Es war der SPD vorbehalten, den Marktradikalen nach Großbritannien (Maggie Thatcher) und den USA (Ronald Reagan) auch die Bundesrepublik Deutschland zum Fraß vorzuwerfen. Die Agenda 2010 und Hartz IV beendeten den Konsens einer mehr oder weniger befriedenden und den Kapitalismus zähmenden Sozialpolitik.
Die Ideen der Marktradikalen und deren Mantra "Steuersenkung, Privatisierung und Sozialstaatsabbau" wurden ausgerechnet von der - ehemaligen - Arbeiterpartei SPD in Deutschland in die Tat umgesetzt. CDU/CSU und FDP hätten sich an einer solchen Operation sicherlich verhoben. Aber da große Teile der Deutschen Gewerkschafter_innen vor allem in den Führungsetagen - in Treue fest zur SPD standen und stehen, blieb der Protest gegen die Maßnahmen eher verhalten.
Rolf Stumberger schreibt im „Neuen Deutschland“: „Hartz IV bewirkte, was man in den 1970er Jahren noch für unmöglich gehalten hätte: die Rückkehr der nackten Angst vor dem sozialen Absturz. Langzeitarbeitslose fanden sich nun nach nur einem Jahr auf Sozialhilfeniveau wieder, garniert mit Entrechtungen und einem Strafkatalog, der bis zum völligen Entzug der Existenzgrundlage reicht. Die Armenhaus-Ideologie des 18. Jahrhunderts kehrte als das Märchen vom »Fordern und Fördern« im 21. Jahrhundert zurück.“
Sigrid Betzelt, Soziologieprofessorin in Berlin, und Ingo Bode, Professor für Sozialpolitik in Kassel haben in ihrer Studie »Angst im Sozialstaat - Hintergründe und Konsequenzen«, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung (Wiso direkt 38/2017) veröffentlicht wurde, den Zusammenhang von politisch verursachten Ängsten in der Bevölkerung und dem Anstieg von Aggressionen gegen Minderheiten und dem Aufstieg des Rechtspopulismus untersucht.
Zu Beginn der Studie schreiben die Autoren: „Obwohl in der öffentlichen Meinung in Deutschland zuletzt viel Zukunftsoptimismus herrschte, verweisen minderheitenfeindliche Tendenzen und der Aufstieg rechtspopulistischer Kräfte auf eine latente soziale Krise. Wir argumentieren, dass diese maßgeblich mit der Liberalisierung des deutschen Sozialmodells zusammenhängt. Diese provoziert Angstzustände, welche Anpassungsbereitschaften erzeugen, aber zugleich die soziale Integration strapazieren.“
Die Autoren illustrieren dies eindrucksvoll am Beispiel der Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik.
Die Studie hier lesen.
Bürgerreporter:in:Hajo Zeller aus Marburg |
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