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Neue Legendenbildung in Marburg – Straßenbahnschienen auf Spiegelslust?

  • Der "Siegesthurm" kurz vor der Vollendung, im Vordergrund die Schienen der Feldbahn.
  • Foto: Foto Marburg
  • hochgeladen von Karl-Heinz Gimbel

Die Stadt Marburg ist voller Geschichte und voller Geschichten über ihre Geschichte. Dazu gehören auch Legenden. Eine schöne Legende, so erfunden sie auch sein mag, ist es immer wert erzählt zu werden.

Jetzt ist mir eine Legende aufgefallen, die besagt, dass auf Spiegelslust vor dem Kaiser-Wilhelm-Turm das Geländer zur Stadt hin aus Schienen der Marburger Straßenbahn hergestellt worden sei. Das ist leider nicht wahr, eine Legende sozusagen. Aber wenn die Wahrheit über die Entstehung des Geländers erzählt würde, wäre diese kleine Geschichte mindestens genau so interessant wie die erfundene Legende. Also: statt einer schönen Legende besser eine schöne wahre Geschichte zu den Schienen auf Spiegelslust.

Über die Entstehung des Kaiser-Wilhelm-Turms habe ich bei myheimat ebenso bereits berichtet wie über „Marburger Legenden“. Die Legende über die angeblichen Straßenbahnschienen auf Spiegelslust war aber nicht dabei.

http://www.myheimat.de/marburg/kultur/legenden-aus...

Hier die wahre Geschichte (aus meinem Buch über den „Marburger Kaiser-Wilhelm-Turm“):

Im 19. Jahrhundert haben die Marburger Bürger ihre Umgebung erwandert und die schöne Aussicht auf Spiegelslust krönen wollen durch einen Aussichtsturm. Viele Goldmarkstücke wurden gesammelt. Und dann wurde mit dem Bau eines Turmes, genannt „Siegesthurm“ begonnen (es war die hochpatriotische Zeit nach 1870/71). Der Turm war bereits über 30 Meter hoch erstellt, als eine Katastrophe eintrat. Ein mächtiger Orkan, wohl der stärkste im 19. Jahrhundert, wüstete im gesamten Reich. Vor allem im Westen gab es starke Verwüstungen.

In Marburg führte der Orkan dazu, dass der vollständig aus festen Steinen erbaute „Siegesthurm“ in sich zusammenbrach, eigentlich unglaublich. Eine spätere Gerichtsverhandlung gab dem Architekten und dem Bauunternehmer Mitschuld. Sie wurden verurteilt.

Einige Jahre später wurden wieder viele Goldmarkstücke gesammelt. Und es wurde zum zweiten Mal mit dem Bau eines Aussichtsturm begonnen. Und er wurde 1890 vollendet. Er steht heute noch so prächtig da wie vor über 125 Jahren. Und zur Sicherheit der Besucher wurde vor dem Turm ein eisernes Geländer erstellt. Er schützt vor dem Absturz in den Steinbruch.

Wichtig für die Legende um das Geländer ist ein Foto des ersten, fast fertigen „Siegesthurms“. Dabei sind Schienen einer Lorenbahn zu erkennen. Man transportierte damals die großen Steine zur Baustelle mit Hilfe einer Feldbahn. Und genau diese einfachen Schienen der Feldbahn – so muss man annehmen – wurden später nicht mehr benötigt und in Teilen für das Geländer benutzt.

Denn: das Geländer entstand schon zur Einweihung des später mit besserer Baukunst errichteten „Kaiser-Wilhelm-Turms“, so nannte man den zweiten Turm, für den 1890 eine großartige Einweihungsfeier abgehalten wurde. Ein frühes Foto (um 1905) zeigt den Blick vom Kaiser-Wilhelm-Turm auf die Stadt: Im Vordergrund das noch heute dort befindliche Geländer.

Warum sind „Straßenbahnschienen auf Spiegelslust“ eine Legende?

1. Im Jahr 1890 gab es in Marburg noch keine Straßenbahn. Erst 1903 wurden Schienen in die Straßen der Stadt Marburg gelegt, um eine Pferdebahn zum Hauptbahnhof laufen zu lassen.

2. Die Schienen der Marburger Straßenbahn waren „Rillenschienen“. Sie können noch heute am Wilhelmsplatz besichtigt werden. Die dort noch befindlichen Rillenschienen führen auf etwa 90 Meter bis zu einer ehemaligen Remise der Pferdebahn. Die für die Lorenbahn ausgelegten Schienen waren - deutlich sichtbar - keine Rillenschienen.

3. Eine diesem Bericht angefügte Abbildung zeigt den Querschnitt durch eine Rillenschiene. Dabei ist zu erkennen, dass die Teile, die auf Spiegelslust für das Geländer verwandt wurden, nicht von Rillenschienen stammen können.

Also: Wer eine Führung für Besucher auf Spiegelslust machen will, kann viel über das Geländer und seine Entstehung erzählen. Die Wahrheit ist nicht immer uninteressanter als eine Legende. Also: bei der Wahrheit bleiben und nicht Legenden erfinden!

Und noch ein Letztes: Einige behaupten, der Turm auf Spiegelslust sei mehrmals (bis zu viermal) eingestürzt. Da wird wohl etwas vermischt mit der Legende um den Bau der Elisabethkirche auf der Kirchspitze. Aber die Legende der Kirchspitze soll bestehen bleiben – doch bitte keine Vermischung.

  • Der "Siegesthurm" kurz vor der Vollendung, im Vordergrund die Schienen der Feldbahn.
  • Foto: Foto Marburg
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  • Ansichtskarte mit Blick vom Kaiser-Wilhelm-Turm auf Marburg. Im Vordergrund das eiserne Geländer, das noch heute dort existiert. (Sammlung Gimbel)
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  • Querschnitt durch die Rillenschienen, die 1903 in Marburg für die Pferdebahn (später genutzt von der "Elektrischen") in die Straßen gelegt wurden.
  • Foto: Stadtarchiv Marburg
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  • Bild 3 / 4
  • Letzte oberirdische Überreste der Pferdebahnschienen (Rillenschienen) am Wilhelmsplatz in Marburg.
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  • Bild 4 / 4

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4 Kommentare

-- schön, umfangreich berichtet....

  • k b am 26.01.2017 um 21:29

Ist denn auch in Erkenntnis zu bringen, von wo aus die Steine rangekarrt worden sind? Mutmasslich nicht von dem (Sand-)Steinbruch ähnlichen Terrain unterhalb des Geländers, oder?

Der Steinbruch unterhalb des Turms Richtung Stadt ist benutzt worden. Die Steine sind gut geeignet. Aber allzu viel wird man nicht gebrochen haben, denn es würde den Platz vor dem Turm verengt haben.

Sehr gute Steine gibt es im Wald von Wehrda (Sandsteine). Sie sind zum Bau der Elisabethkirche genommen worden. Und haben bis heute gehalten. Selbst zur Wiederherstellung des Reichstagsgebäudes in Berlin hat man Sandstein aus den Wehrdaer Steinbrüchen geholt.

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