Das Feldlazarett im Marburger Schloß November 1813 bis Januar 1814.

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Vor zwei Jahren stellte ich hier die Frage in den Raum, ob womöglich am Marburger Schloss 1000 ihren Krankheiten und Verwundungen erlegene russische Soldaten beerdigt worden seien. Eine Recherche im königlich preußischen Staatsarchiv in Marburg förderte nun ein Dokument zutage, das eine größenordnungsmäßige Beantwortung dieser Frage zuläßt.

Im Bestand 12a 1111 finden sich zwei Bittbriefe des Marburger Speisewirtes Wilhelm Briel an Kurfürst Wilhelm I., deren ersten ich hier abbilde. Die Umschrift dieses ersten Briefes lautet im Auszuge:

"Allerdurchlauchtigster Kurfürst
Allergnädigster Kurfürst und Herr
Resol. Cassel den 19.Junii 1817
Der Regierung in Marburg
zum Bericht
Schmitz

Durch die in den Jahren 1806 und 1807 in Marburg bestandene Kriegs-Commission war mir die Speiselieferung an das Lazareth daselbst übertragen. Ich verwendete darauf mein ganzes Vermögen. Da jedoch unter der usurpatorischen Herrschaft keine Zahlung erfolgte, so gerieth ich dadurch so sehr in Verfall, daß blos ein Moratorium meinen augenblicklichen Untergang abwendete und bis zur Wiederherstellung der rechtmäßigen Regierung hinhalten konnte, wo ich vermittelst einer Landes-Obligation befriedigt wurde.

Im November und December 1813 und Januar 1814 übernahm ich wieder die Verpflegung der kayserlich Russischen Truppen gegen 2 CAlb 8Hlr auf den Mann für Mittag und Abendspeisung, welche der damaligen Stadtschultheiß, der jetzige Oberschultheiß Wagner, mir accordsmäßig zusicherte. Diesen gewiß äußerst billigen Preiß hat jedoch die Regierung in Marburg auf 2 CAlb herabgesetzt.

.......

Wie ist es überhaupt nur möglich, einen Mann, zumal einen russischen Krieger, für 2 CAlb zweymal täglich zu speisen? ...... Auch hatten die Verhältnisse sich damals wesentlich geändert, indem die ersten Züge des alliirten Heeres so zahlreich erfolgten, daß der Preiß der Lebensmittel auf das Doppelte und Dreyfache hinauf gestiegen war.

.........

In allertiefster Ehrfurcht erstirbt

Euer Königlichen Hoheit

allerunterthänigst Bittender"

Es findet sich sodann ein Blatt, auf dem Oberschultheiß Wagner und Prof. Dr. Johann David Busch, der Leiter des Lazaretts, die Angaben Briels inhaltlich bestätigen. Busch war übrigens der damals in Marburg wohl bedeutendste Mediziner, er war Leiter der Entbindungsanstalt am Lahnthor, in der ledige Mütter anonym unter ärztlicher Fürsorge entbinden konnten. Um 1800 beschrieb er die Entdeckung eines weiblichen Prostata-Äquivalents an der Oberseite der Vagina. Es war ihm aufgefallen, weil es in der Geburtsarbeit der Frau anschwoll und ihn störte, wenn er ein Kind holte. Diese Entdeckung wird heute allgemein einem Graefenberg zugeschrieben ("G-spot").

In einem zweiten Schreiben erläutert Briel, daß er bisher erst 700 Reichsthaler bekommen habe und eine Zahlung von 200 Reichsthalern noch ausstünde. Auch sei er von den Kameraden der kranken Russen, die er pflegte ausgeraubt worden, "alles was nied- und nagelloos" war hätten sie ihm geraubt. Zudem habe er durch die Russen, wohl durch erlittene Infektionen, seine Gesundheit verloren. Er sei jetzt, 1817, 72 Jahre alt und habe Frau und drei Kinder und sei mittellos. Aus den Akten scheint mir hervorzugehen, daß Briel aus den Resten der Truppen-Verpflegungskommision sein Geld doch noch bekommen hat.

900 Reichsthaler hat Briel also während dieser 90 Tage für die Verpflegung der Russen aufgewendet, pro Mann und Tag 2CAlb und 8Hler, also 2 Creutzer und 8 Heller. Nun machten damals aber 4 Heller einen Creutzer und ein Creutzer machte 1/72 Reichsthaler. Somit betrugen die Kosten für die Speisung eines Mannes pro Tag 4/72 = 1/18 Rthlr. Insgesammt hatte Briel somit an die Russen 900*18 Portionen ausgegeben. Dividiert man diese Zahl durch die Anzahl Tage, also 90, so ergibt sich, daß das Feldlazartett pro Tag im Mittel mit 180 Russen belegt war. Nimmt man nun an, daß pro Tag im Mittel 11,11 Männer dort ihren Verletzungen und Krankheiten erlegen waren, so kommt man auf eine Gesammtzahl der dort Verstorbenen von 1000.

Diese hohe Todesrate ist keineswegs unwahrscheinlich. Die russischen Truppen, die im November 1813 hier ankamen, waren laut einem Bericht des kaiserlich russischen Majors v. Boetticher aus Kassel in erbärmlichem Zustand. Viele hatten keine Schuhe, keine Stiefel, sie gingen in Lumpen einher. Unter dem Montierungsrock, der nicht gewaschen werden durfte, damit die Farben nicht verschießen, trugen sie kein Hemd, waren deshalb übersät von Hautkrankheiten. Boetticher gelang es, etliche hundert Gulden von kasseler Bürgern für neue Kleidung zu sammeln. Außerdem war es Winter und viele Männer waren infiziert und verwundet. Möglicherweise war die Todesrate im Lazarett noch höher.

Wo sind diese Männer nun, fern der Heimat und bis heute ohne ehrendes Gedenken, beerdigt worden. Vermutlich unter der Schloßmauer zum Renthof hin und/oder am Götzenhainweg. Ihre Namen wird man wohl nie mehr erfahren. Zumindest ein orthodoxes Kreuz sollte ihre letzte Ruhestätte kenntlich machen!

Bürgerreporter:in:

Heinrich Rautenhaus aus Marburg

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