Stadt und Land
Bücherschrank in Schröck – Serie: Offene Bücherschränke, 13. Teil
Aus dem Geographieunterricht in der Schule kennt jeder die Stadt/Land-Unterscheidung. Mit dieser Unterscheidung werden zwei verschiedene Siedlungsstrukturen erfasst, die bis zum Aufkommen der Industrialisierung für einige Jahrtausende eine wichtige Rolle spielte. Urbanität und Ländlichkeit, Ballung und Zerstreuung zivilisatorischer Institutionen.
Spätestens mit der Industrialisierung hat diese Unterscheidung ihre Bedeutung verloren. Unterschiede von Ballung und Zerstreuung gibt es immer noch, diese haben aber ihre sozio-kulturelle Prägewirkung verloren.
In dem Dorf Schröck bei Marburg kann man nun ein interessantes Phänomen beobachten. Die Siedlungsstruktur der hessischen Haufendörfer entwickelte sich seit dem 17. Jahrhundert als eine an die kameralistische Wirtschaftsweise angepasste Übernahme der Stadt/Land-Unterscheidung, die in ihren Grundzügen bis ins 20. Jahrhundert hinein von Bedeutung war. Seit der Industrialisierung der Landwirtschaft und der Einrichtung einer sozio-ökonomischen Monokultur der Erwerbsarbeit wurden aus den hessischen Wirtschaftsdörfern Schlaf- und Freizeitsiedlungen, die mit der Durchsetzung des motorisierten Individualverkehrs eine urbane Gewohnheit übernahmen: die Beschilderung von Wegen und Ausweisung von ansteuerbaren Orten. Auch auf Dörfern hat man es seitdem mit einem Schilderwald zu tun, der den An- und Durchblick verhindert.
In Schröck findet man nun eine Innovation, die eigentlich - was hier unterbleiben wird - einer gründlicheren Analyse bedarf: die Installation eines für alle zugänglichen Bücherschranks, der in der Nähe des Bürgerhauses angebracht ist, jedoch so, dass ein Ortsfremder ihn kaum finden kann; es sei denn, man weiß schon wo er ist, bzw. wo er sein könnte. Woher weiß ein Ortsfremder davon? Es gibt keine Beschilderung, keinen öffentlich ausgewiesenen Weg und dennoch ist er zuverlässig auffindbar. Ortsfremde haben ein Smartphone, Navigationsapps und nutzen sog. Open-Source-Plattformen, die alle nur erdenklichen Informationen bereitstellen, darunter auch die Aufstellungsorte von offenen Bücherschränken, auch den in Schröck. Zwar ist dieser Bücherschrank mitten im Ort installiert, man hätte ihn aber auch genauso gut an einer Weggabelung für Wanderer und Radfahrer irgendwo im Amöneburger Becken aufstellen können; also irgendwo versteckt in einer Gegend, die kaum jemand kennt und wäre trotzdem auffindbar, wenn man ein Smartphone hat.
Eine bekannte Erfahrung der Modernisierung von Dörfern war ihre Angleichung an die urbane Wegbeschilderung. Vielleicht sind diese Dörfer der Ausgangspunkt für den künftigen Wegfall dieser Beschilderungen: Smartphones und GPS-Signal ermöglichen, dass der Ortsfremde schon immer weiß wo er ist - egal wo er ist!
Offener Bücherschrank in Marburg-Schröck. Adresse. Schröcker Str. 29, 35043 Marburg-Schröck. Geoposition: 50.78441, 8.830347
Den nächsten Bücherschrank in Ihrer Nähe finden Sie unter diesem Link
Bürgerreporter:in:Alfred Testa aus Marburg | |
Alfred Testa auf Facebook |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.