Belgische Aktenstücke, gefunden in Brüssel 1914.

Berlin, Mittler, 1919
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Während der Friedensverhandlungen in Versailles lastete der Vorwurf des Bruchs der Belgischen Neutralität 1914 schwer auf Deutschland. Die Reichsleitung unter Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) beauftragte deshalb den Militärhistoriker Oberst Bernhard Schwertfeger mit der Neuedition von 1914 im belgischen Kriegsministerium aufgefundenen Akten. Sein im Juni 1919 erschienenes Gutachten möchte ich hier vorstellen.

England hatte seine Kriegserklärung an Deutschland am 4.8. 1914 damit begründet, daß es als eine der Garantiemächte der belgischen Neutralität nach dem Londoner Abkommen von 1839 verpflichtet sei, diese zu schützen. Schwertfeger erinnert nun daran, daß England im Jahre 1807, als es sich selbst in einer militärischen Zwangslage befand, bedenkenlos die dänische Neutralität verletzt hatte. Nach der Schlacht von Jena-Auerstädt mußte es damit rechnen, daß Napoleon sich in den Besitz der bedeutenden dänischen Kriegsflotte bringen und ihm den Seeweg zum Baltikum versperren würde, lebensnotwendige Lieferungen von Schiffbau-Holz aus der Ostsee-Region hätten dann England nicht mehr erreichen können. So zogen die Engländer 1807 mit einer Kriegsflotte vor Kopenhagen und legten es durch Beschießung u.A, mit Brandraketen in Schutt und Asche, erzwangen so die Herausgabe der dänischen Kriegsflotte am 7.9. 1807.

Bei den von Schwertfeger edierten Papieren handelt es sich um Notizen über 1906 geführte Gespräche zwischen dem Chef des belgischen Generalstabs General Ducarne und dem britischen Militärattaché Oberstleutnant Barnardiston. Letzterer hatte Belgien für den Fall eines deutschen Einmarsches die Entsendung von 100 bis 150.000 britischen Soldaten in Aussicht gestellt. Ducarne hatte bei diesen Gesprächen dem Engländer Kriegsstärken und Fahrtafeln der belgischen Armee - also militärische Geheimnisse - mitgeteilt (Seite 33 von Schwertfegers Gutachten). Seine Vollmachten waren so groß, daß er unabhängig vom Kriegsministerium handeln konnte (S. 85). Die Belgier sollten im Falle einer englischen Landung Dolmetscher und Kriegskarten liefern (S. 138). Diese Kriegskarten wurden vom deutschen Heer tatsächlich in Belgien aufgefunden (S. 141)

Generalstabschef Ducarne gab selber zu, daß die Beschriftung der Mappe, in der sich die Gesprächsnotizen befanden, mit "Conventions Anglo-Belges" (englisch-belgische Abmachungen) von seiner eigenen Hand stammte (S. 37). Es muß sich dabei also um weit mehr als einen bloßen Gedankenaustausch gehandelt haben. Deutschland war, als Nachfolgerin des Staates Preußen, genau wie England, Garantiemacht der belgischen Neutralität. Daß nur mit England derartige Gespräche gepflogen wurden, deutet also darauf hin, daß diese Neutralität in eine gewisse Schieflage gekommen war. In der Tat bezeichnete Ducarne in einem Aufsatz 1912 (er war 1910 in Ruhestand gegangen) diese Abmachungen mit Barnardiston als "Conclusions fermes" und bedauerte, daß es nicht zu einer "Entente positive" mit England gekommen sei.

Es muß betont werden, daß der belgische Staat niemals ähnliche Verabredungen mit dem deutschen Reich für den Fall eines französischen Einmarsches in Belgien getroffen hatte, was die Neutralität an sich zwingend erfordert hätte, denn, wie sich später herausstellte, plante Frankreich durchaus, 1914 über die Maas durch Belgien in Deutschland einzumarschieren (S. 127). Auch dachte die belgische Regierung nicht daran, die deutsche Reichsleitung über die Gespräche mit dem britischen Militärattaché auch nur zu informieren. Sie informierte darüber allerdings ihren Botschafter in Berlin Baron Greindl. Dieser war über die Mitteilung entsetzt und urteilte darüber folgendermaßen: "England ist für ihn der Versucher der belgischen Neutralität, die Tätigkeit des englischen Militärattachés eine gefährliche Machenschaft, eine naive oder sogar perfide Intrige." (S.59) Im Jahre 1870 noch hatte England mit dem norddeutschen Bund und mit Frankreich gleichlautende Verträge zur Wahrung der belgischen Neutralität abgeschlossen (S. 165)

Am 23. April 1912 hatte es weitere derartige Gespräche analogen Inhalts gegeben: Ducarnes Nachfolger, General Jungbluth, sprach mit Barnardistons Nachfolger OTL Bridges. Dieser eröffnete dem Generalstabschef ohne Umschweife, daß, wenn es 1911 während der Marokko-Krise zum Krieg zwischen Deutschland und Frankreich gekommen wäre, England ohne belgische Zustimmung dort Truppen gelandet haben würde. Jungbluth protestierte halbherzig, eine Demarche der belgischen Regierung in London deswegen oder eine Mitteilung dieses Vorfalles an die deutsche Reichsleitung unterblieben.

Ganz bemerkenswert ist, was Schwertfeger über den bis heute geleugneten belgischen Guerillakrieg herausgefunden hat: S72: "Auch gelegentlich der Festaufführung eines patriotischen Dramas "Het Land in Gevaar", von L. du Castillon (Fußnote: ... Dieses Stück hat zweifellos viel zur Verwirrung der belgischen Anschauungen über die Berechtigung der Kampfbeteiligung von Zivilpersonen mit beigetragen. Es feiert einen Mann als Helden, der ein Gewehr nimmt und aus dem Fenster seines Hauses auf die Soldaten schießt, ohne irgendwie zur Armee oder zur Garde Civique zu gehören.), wurde Ducarne hoch geehrt. Die Erstaufführung dieses Werkes fand am 26. Februar 1913 im "Théâtre communal de la Ville" zu Brüssel statt; zahlreiche Generale und höhere Offiziere der Armee und der Garde civique nahmen daran teil. General Ducarne begrüßte den Verfasser und versicherte ihm, daß sein Stück, besser als alle Reden und Schriften, ein sehr wirksames Propagandamittel für die Verbreitung des Nationalgefühls in Belgien darstelle.

Der Guerillakrieg ist der für die Zivilbevölkerung mit Abstand schlimmste, da er zwangsläufig zu einer großen Zahl toter Zivilisten führt - so wie 1914 in Dinant geschehen! 

Über belgische Franctireurs siehe auch:
http://www.welt.de/geschichte/article131444859/Gab...

Inzwischen hat einer der führenden Vertreter der These, daß es keinen Guerillakrieg gegeben habe, Prof. Dr. Gerd Krumeich, eine Kehrtwendung vollzogen. Dem "Spiegel" erklärte er, er habe sich zu seiner vorigen Position genötigt gesehen, da er fürchten mußte, von der "International Scientific Community" geächtet zu werden, wenn er sich zu seiner wahren Meinung bekennte. In der FAZ vom 10.4. 2018 veröffentlichte er nun den großen Artikel "Gespenster schießen nicht mit Schrotgewehren", in dem es heißt, die belgische Regierung habe diesen Guerillakrieg von langer Hand vorbereitet, was ja auch aus der oben zitierten Fußnote klar hervorgeht.

Interessant ist auch, was Kaiser Wilhelm II. in "Ereignisse und Gestalten" auf S. 218 in diesem Zusammenhang berichtet: "Die englischen Infanteristen, die im Sommer 1914 von uns zu Gefangenen gemacht wurden, hatten meist keine Mäntel und gaben auf die Frage: warum? ganz naiv an: "We are to find our great coats in the stores at Maubeuge, Le Quesnoy etc. in the north of France and in Belgium." Ebenso stand es mit den Karten. .... Diese Karten stammten aus dem Jahre 1911 und waren in Southampton gestochen. die Depots waren seitens Englands mit der Erlaubnis der französischen und belgischen Regierungen schon vor dem Kriege mitten im Frieden angelegt worden."

Bürgerreporter:in:

Heinrich Rautenhaus aus Marburg

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