Zeitenwende 2012 / Kurzgeschichte

Heute war es nun so weit. Heute war der 21.12.2012. Der Wechsel vom Fischezeitalter in das Wassermannzeitalter stand bevor. Den Übergangszeitraum hatte die Menschheit nun hinter sich. Astrologen sprachen davon, dass der Übergang in den sechziger Jahren begonnen habe und noch einige Jahrzehnte in das neue Jahrtausend reichen werde. Andere Stimmen wieder behaupteten, dass der Übergangszeitraum 1989 begonnen habe und mit der Winter-Tagundnachtgleiche am morgigen Tag enden würde. Tonio erwartete den Wechsel für den morgigen Tag.
Als er das erste Mal davon hörte, dass die Mayas den Weltuntergang für das Jahr 2012 vorhergesagt hatten, hatte er sich darüber lustig gemacht. Was für ein Blödsinn! Die Mayas! Ein Volk, das schon lange nicht mehr existierte. Ein Volk das Menschenopfer dargebracht hatte! Diesem sollte man bei einer solchen Weissagung glauben?
Auch Nostradamus, der berühmte Astrologe, hatte für dieses Jahrtausend und für das Jahrhundert davor in vielen Prophezeiungen große Naturkatastrophen vorausgesagt. Musste er ein Horoskop erstellen, so waren ihm aber meist schwerwiegende Fehler unterlaufen. Überliefert ist, dass sein berühmtes Horoskop für Kronprinz Rudolf von Habsburg von 1565 völlig falsch war. Trotzdem waren seine Prophezeiungen der Naturkatastrophen Wahrheit geworden. Über Nostradamus hatte Tonio in einem Boulevardblatt gelesen, er war nicht der Typ, der sich sonst mit so etwas beschäftigt hätte. Tonio war 22 Jahre alt, lebte allein und arbeitete als Bürobote.
Die Katastrophen, die in den letzten Jahrzehnten den Erdball erschüttert hatten, waren nicht mehr zu zählen. Diese Gedankengänge gaben nun Tonio im wahrsten Sinne des Wortes zu denken. Als dann einige Kollegen den Zeitenwechsel für 2012 in den Mittagspausen auch noch zur Sprache brachten, in den Kinos Filme dieses Thema behandelten und sich die Seiten in den Zeitungen und im Internet häuften, um dieses Thema abzuhandeln, stand es für Tonio fest: das Ende der Welt stand bevor!
Dass dieser Zeitenwechsel eventuell nicht gerade der Weltuntergang sondern etwas Positives für die Welt und die Menschheit sein könnte, auf diesen Gedanken kam er überhaupt nicht. Er beschäftigte sich mit diesem Thema auch nicht weiter. Er verdrängte es einfach. So ging er immer mit Problemen um. Er hatte es nicht anders gelernt. Doch heute hatte ihn seine Kollegin Sara auf das eventuell bevorstehende Ereignis angesprochen. Er ahnte zwar, dass sie sich lustig über ihn machte, da sie, wie er von ihr wusste, von diesen ganzen Voraussagen nichts hielt, doch hatte sie es geschafft, dass er anfing, sich Sorgen zu machen. Wenn heute tatsächlich der Weltuntergang bevorstand, war es eigentlich ein bisschen spät sich noch Gedanken darüber zu machen, doch kam Tonio von diesem Gedanken nicht mehr los.
Gab es denn eigentlich irgendwelche Maßnahmen vonseiten der Regierung, wie man einer Weltkatastrophe begegnen konnte? Tonio war nichts davon bekannt. Dies war doch im Grunde genommen ein gutes Zeichen. Obwohl … vielleicht waren ja ohne Wissen der Bevölkerung Maßnahmen getroffen worden? Vielleicht gab es Pläne um hochrangige Regierungsmitglieder zu retten. Doch was sollten dies für Maßnahmen sein? Wohin wollte man flüchten, wenn die Welt unterging? Auf andere Planeten? War denn die Raumfahrttechnologie so weit? Tonio hatte wie immer auch davon keine Ahnung. Verdammt! Hätte er sich doch vorher schon mal informiert. Aber nein! Er lebte nur in den Tag hinein, sah nie über seinen Tellerrand hinaus. Die Menschheit, Politik, ja seine engsten Freunde und Verwandten scherten ihn keinen Dreck. Hauptsache ihm ging es gut! So hatte er immer gelebt. Das hatte er nun davon. Hätte er sich mal informiert, sich mit anderen ausgetauscht wüsste er jetzt, was er zu tun hätte. So aber hatte er keinen Plan!
Wenn heute das Ende kam, wollte er es auf keinen Fall alleine erleben müssen. Doch welcher Kollege oder welcher Freund würde ihn kurzfristig bei sich aufnehmen? Welcher Freund übrigens – er hatte keine Freunde.
Was blieb war die Familie! Er könnte seine Mutter anrufen und sich für den Abend einladen. Wann hatte er sie das letzte Mal besucht? Mein Gott, das war nun auch schon drei Monate her! Wie schnell die Zeit verging.
Zeit? Er schaute auf seine Uhr. Es war kurz vor fünf Uhr. Er hatte seine Arbeitsstelle vor knapp 45 Minuten verlassen und saß nun hier tatenlos in dem Café herum. Dies hatte er sich zur Gewohnheit gemacht. Nach der Arbeit erst mal einen oder zwei Espresso und danach nach Hause. Dort eine Kleinigkeit essen und dann reichte es gerade noch für ein paar Stunden vor der Flimmerkiste, weil er sich von seiner Arbeit immer so erschlagen fühlte.
Na ja, der Weltuntergang hatte ja nun nicht mehr allzu viel Zeit. Noch knapp sechs Stunden und der 21. war herum. War wohl doch nichts mit Weltuntergang. Da hatte er sich ja durch seine eigenen Gedanken ganz schön ins Bockshorn jagen lassen. Vielleicht hatten dann doch die Stimmen recht, die behaupteten die Übergangszeit vom Fische- ins Wassermannzeitalter würde noch einige Jahrzehnte ins Jahrtausend hineinreichen? Es konnte aber ohne Weiteres auch noch heute die Weltkatastrophe ausbrechen, der Tag war immerhin noch nicht herum.
Tonio rief seine Mutter mit dem Handy an. Er fragte, ob er sie und seinen Vater denn besuchen kommen könnte. Seine Mutter war erfreut, dass er sich mal wieder meldete, er solle nur kommen und was für ein Zufall … sie hätte heute auch sein Lieblingsgericht gekocht.
Tonio zahlte seinen Espresso und machte sich auf den Weg zu seinen Eltern. Er war glücklich und froh, dass er sich so entschieden hatte. Sollte die Welt doch untergehen. Er würde bei den Leuten sein, von denen er wusste, dass sie ihn liebten. Was wollte er mehr.
Er blieb bei seinen Eltern bis weit nach Mitternacht. Der Weltuntergang hatte noch einmal ein Einsehen und fand nicht statt. Doch für Tonio hatte heute tatsächlich eine Zeitenwende stattgefunden. Er hatte mit seinen Eltern verabredet, gemeinsam das Weihnachtsfest zu verbringen. Er würde dann auch seine anderen Verwandten wieder sehen, die er schon lange aus den Augen verloren hatte. Er plante, seinen Job als Bürobote aufzugeben und eine Ausbildung anzufangen. Er würde sich auch für Politik und das Tagesgeschehen interessieren. Dem nächsten Weltuntergang würde er gewappneter gegenüberstehen. Das war gewiss.

© R. Güllich

Bürgerreporter:in:

Rainer Güllich aus Marburg

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