Waschbärgeschichten / Teil V: Die letzten Jahre mit einem Waschbär.

Nachdem wir für den bissig gewordenen Waschbär einen Abnehmer gefunden hatten. begannen friedlichere, aber auch nicht so interessante Zeiten. Man konnte nicht erkennen, ob die Trennung von der Schwester Trauer hervorgerufen hatte, zumal diese ihre Wut an der zurückgebliebenen Schwester ausgelassen hatte, wenn sie nicht an mich herankam. In diesem Alter hätten sie sich in der freien Natur schon längst getrennt und jeder hätte sich sein Revier gesucht. – Höchstens im Winter wird einer den anderen vermisst haben, weil sie bis dahin gemeinsam im hohlen Baum geschlafen und sich gegenseitig gewärmt hatten.
Aber jetzt konnten wir mit dem verbliebenen Waschbär wieder Kontakt aufnehmen und ihn streicheln oder mit ihm spielen. Nur in der Ranzzeit haben wir uns etwas vorsichtiger verhalten und keine spielerischen Scheinkämpfe veranstaltet, was ihn in normalen Zeiten nie veranlasst hatte, mit den spitzen Reißzähnen wirklich kräftig zuzubeißen. Das wollten wir auch lieber nicht ausprobieren .Ein wenig hatte das frühere ganz große Vertrauen durch den anderen, bissig gewordenen, Waschbär doch gelitten.
Im Herbst habe ich ihn auf den Birnbaum klettern lassen, um zu beobachten, wie er sich dort verhält. Ich habe gestaunt, wie weit er sich auf dünne Äste wagte und dort das Gleichgewicht halten konnte. (s. Bild V/1, das zwar nur dokumentarischen Wert hat, weil es im Gegenlicht mehr ein „Scherenschnitt“ geworden ist). Beim Zuschauen bekam ich doch Bedenken, weil er im Käfig und auch bei den Spaziergängen keine Gelegenheit gehabt hatte, das Klettern auf so dünnen, schwankenden Ästen zu üben. Im Käfig konnte er das Klettern nur auf armdicken Zweigen und unterwegs an rauen Baumstämmen üben. - Ich hatte gedacht, dass er bald wieder herunter kommen würde. Aber da hatte ich mich geirrt. Ganz oben hingen die letzten Birnen, an die ich bei der Ernte nicht mehr herangekommen war. Die wollte er nun ernten. Es gelang ihm zwar, die reifen Birnen abzubrechen. Aber auf dem dünnen Ast musste er sich mit 3 Pfoten festhalten und hatte nur eine Pfote zum Pflücken frei. Wenn er die für ihn schwere Birne abgebrochen hatte, konnte er sie mit einer Pfote nicht halten und sie fiel zu Boden. Da musste ich zur Seite springen, um keine auf den Kopf zu bekommen. Aber als ich ihn herunterrufen wollte, war er auf beiden Ohren taub; denn da oben auf dem Birnbaum war alles neu und so aufregend, dass er mich einfach überhörte, zumal er auch sonst nicht auf Anhieb kam. Das Rascheln mit dem Hundefutterkarton, das sonst immer bewirkte, dass er mein Rufen erhörte, half auch nicht. Ein Waschbär ist eben kein Hund und gehorcht nur, wenn es ihm gefällt.
Ich habe aus der Not eine Tugend gemacht und mich im Liegestuhl (in gebührendem Abstand von der Fallrichtung der Birnen) unter dem Baum in die Sonne gelegt. Nach nicht ganz einer Stunde kam er freiwillig wieder runter und ich konnte ihn in Empfang nehmen. Ohne mein Warten, wäre er wahrschein-lich nicht in den Wald geflohen. Aber man konnte nicht sicher sein, was er bei den Nachbarn anrichten würde und wir haben es nie bewusst getestet, wie weit er wegläuft. Möglicherweise wäre er beim nächsten Stuhldrang wieder in den Käfig auf sein Waschbärklo gegangen (vergl. Tei II/3, vorletzter Absatz) oder er hätte bei Hungergefühl im Käfig nach Futter gesucht. So ganz sicher konnte man seine Reaktionen nicht abschätzen. Bären haben immer den gleichen Gesichtsausdruck, so dass man daran ihre Stimmung nicht erkennen konnte. Am Fauchen oder Brummen konnte man allerdings erkennen, ob er missgelaunt oder gar wütend war. Das kam aber bei dem friedlichen Waschbär nur selten vor. Nur in der Ranzzeit gaben sie fiebende Töne von sich, die aber so leise waren, dass sie die Nachbarn nicht störten. Normaler Weise waren sie völlig lautlos und wir hatten deshalb mit den Nachbarn keinerlei Probleme, wie man das bei einem Hund befürchten musste.
Es gab auch keine Geruchsprobleme, die die Nachbarn stören konnten. Wenn der Urin in einem Käfig immer im Erdboden versickert, entwickelt sich dort eine stinkende Ecke. Aber die als Waschbärklo eingerichtete flache Zinkwanne war in den Plattenboden bzw. Beton eingelassen und durch eine Leitung mit dem Kanalabfluss im Garten verbunden. Die Zinkwanne hatte Löcher im Boden, so dass da alles abfliesen konnte, insbesondere, wenn das Klo mit dem Wasserschlauch ausgespritzt wurde. Mit etwas Übertreibung könnte man also von einem WC sprechen. Diese Probleme sollten jedenfalls diejenigen bedenken, die auf Grund der Waschbärgeschichten auf die Idee kommen, auch Waschbären als Haustier zu halten.

Im Winter mussten wir eine ganz neue Entdeckung machen. Ich hatte bis dahin überzeugt behauptet, dass es in Marburg und seiner unmittelbaren Umgebung keine wildlebenden Waschbären gibt. Ich musste mich aber eines Besseren belehren lassen, als ich morgens im frisch gefallenen Schnee Waschbärspuren entdeckte, die zum Käfig und von da wieder zum Zaun führten. Ich hatte Spurenbilder aus der Literatur zur Verfügung und konnte sie zweifelsfrei identifizieren. Der Käfig war noch verschlossen und die Spur konnte nicht von unserem Waschbär stammen. Da war also ein wildlebender Waschbär zu Besuch gekommen und wollte „fensterln“, was - selbst, wenn er auf Gegenliebe gestoßen wäre - das Käfiggitter verhindert hatte. Er muss also enttäuscht wieder abgezogen sein, wie die Spur verriet. Aber wie weit der Geruchsinn reicht, ist doch erstaunlich, da wir mehrere hundert Meter (getrennt durch 5 Häuser und Schrebergärten) vom Waldrand entfernt wohnen. – Es war der letzte Schneefall und für die Ranzzeit aber noch etwas zu früh, Aber - bedingt durch die anderen Klimaverhältnisse gegenüber Amerika - halten sich die Waschbären vermutlich nicht immer genau an die von den Wissenschaftlern ermittelten Kalenderdaten.
Danach habe ich nie wieder behauptet, dass es in unserer unmittelbaren Nähe keine wildlebenden Waschbären gäbe. Da sie als Nachttiere in der Natur normaler Weise nur im Dunkeln unterwegs sind, bekommt man sie selten oder gar nicht zu sehen. - Dass sich auch das unter gewissen Umständen ändern kann, haben wir an unseren Waschbären festgestellt. Nachdem wir sie von Anfang an am Tag gefüttert und uns auch nur am Tag mit ihnen beschäftigt haben, stellten sie sich ohne besonderes Zutun auf den Tagesrhythmus um; was natürlich nicht ausschloss, dass sie auch mal am Tag geschlafen haben. Im Winter war das – je nach den Witterungsverhältnissen – ohnehin die Regel.
So haben wir 11 Jahre lang Freud und Leid mit den Waschbären geteilt und hatten zuletzt mit dem nicht bissig gewordenen Waschbären mehr Freude als Leid. Bis er einen Tages nicht mehr fressen wollte und nur still in einer Ecker saß. Der Tierarzt konnte an Hand einer Stuhlprobe nichts feststellen und hatte auch keine Erfahrungen mit Waschbären. Er wollte am nächsten Tag vorbeikommen; aber da war er schon in der Nacht gestorben. Das war dann ein echter Trauerfall in der Familie.

(Fortsetzung VI: "Waschbär-Comic" folgt demnächst)

Bürgerreporter:in:

Walter Wormsbächer aus Marburg

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