Schultüte / Einschulung 1960

Erste Reihe, zweiter von links bin ich.

Ich wurde im Frühjahr 1960 eingeschult. Ich war ein bisschen früh dran, war ich doch erst fünfeinhalb Jahre alt. Doch der Schuldirektor, der mit meinem Großvater befreundet war, „begutachtete“ mich während einem seiner Besuche und befand mich für schulfähig. Ein Gutachten, dem ich später leider nicht gerecht werden sollte.
Unter Schule konnte ich mir nicht direkt etwas vorstellen. Einen Kindergarten hatte ich nicht besucht. Es war damals nicht unbedingt üblich Kinder in eine solche Einrichtung zu geben. Jedenfalls hatte ich so etwas Ähnliches wie eine Schule noch nicht erlebt.
Ich weiß nicht mehr wie ich die Mitteilung, nun die Schule besuchen zu müssen, aufgenommen habe, ich kann mich nur erinnern, dass man mir sagte, ich würde an diesem Tag eine Schultüte mit Überraschungen darin erhalten. Das war nun eine Sache die Freude in mir erweckte und die Zeit vor der Einschulung mit Spannung erfüllte.
Zur Einschulung hatte ich zur Feier des Tages ein weißes Hemd mit gestärktem Kragen anbekommen und die gehassten elastischen Hosenträger fehlten auch nicht. Ich weiß bis heute nicht, wieso ich diese Dinger immer tragen musste, wenn ich ein weißes Hemd anhatte.
Die Hosenträger in Verbindung mit dem kratzenden Hemdkragen sorgten nicht gerade für gute Laune bei mir. Beide waren jedoch schnell vergessen, als mir meine Mutter die Schultüte in die Hände drückte. Es war eine Spitztüte aus Pappe, mit knallrotem Glanzpapier überzogen. Zusätzlich hatte sie eine „Halskrause“ aus weißem Krepppapier, an der sie zugeschnürt war. Sie war mit bunten Bildern beklebt, auf denen Kinder mit ebensolchen Tüten abgebildet waren. Mir erschien sie riesengroß. Ich war ein kleines, dünnes Kerlchen und konnte sie kaum in meinen Armen halten. Das hatte ich auch überhaupt nicht vor. Ich wollte die Schultüte gleich öffnen, um zu schauen was denn nun für tolle Sachen darin enthalten waren.
Das kam natürlich bei meiner Mutter schlecht an. Sie nahm mir die Tüte gleich wieder ab, nahm mich bei der Hand und ging mit mir den kurzen Weg zur Schule unseres Ortes. Das ging nicht ganz ohne Gequengel von meiner Seite ab, doch konsequent wie meine Mutter war hatten wir die Aula der Schule schnell erreicht. Hier reihten wir uns in die Schar der anderen Schulanfänger mit ihren Müttern ein und ich bekam meine Schultüte wieder in die Hände gedrückt.
Vor und neben mir sah ich einige meiner Spielkameraden aus unserer Straße. Auch sie hielten stolz ihre obligatorischen Tüten in den Armen. Meine war mit Abstand die beste und schönste Tüte. Heute glaube ich, hat dies aber jeder von meinen Freunden über seine Schultüte gedacht.
Die älteren Schuljahrgänge, die vor uns aufgereiht waren, sangen unserer Einschulung zu Ehren ein Lied, dann hielt der Schuldirektor eine Rede, von der ich nichts verstand und die mich sowieso nicht interessierte. Dann war die ganze Angelegenheit erledigt.
Meine Mutter ging mit mir wieder nach Hause, mein Großvater machte mit seinem Fotoapparat ein Bild von mir. Mit Schultüte und mit extra herbeigeschafften Schulranzen, den ich mir auf den Rücken schnallen musste.
Dann war es endlich so weit. Ich durfte meine Schultüte öffnen.
Was kamen da nicht alles für Schätze zutage: obenauf eine Packung Buntstifte, Radiergummi und Bleistiftspitzer. Dubble-Bubble-Kaugummi, Brausepulver und Brausebonbons folgten. Doch das war noch nicht alles. Als Nächstes tauchten Dauerlutscher und eine Tüte mit Zitronenbonbons auf. Der Clou kam zuletzt: Eine Plastiktüte die einige meiner geliebten Indianerfiguren enthielt. Toll! So eine Einschulung hatte es in sich!
Der Tag endete mit dem Verzehr einiger Bonbons und des Brausepulvers, das ich mit der Zunge aufschleckte und natürlich einem spannenden Spiel mit meinen Indianerfiguren. Selig legte ich mich abends ins Bett. Ein ereignisreicher, befriedigender Tag war zu Ende.
Das Erwachen am nächsten Morgen war um so schlimmer. Ich war erstaunt, als meine Mutter mich in aller Frühe weckte und mich mit Schulranzen und ohne Schultüte in die Schule brachte. Ich kann mich absolut nicht erinnern, dass mir jemand gesagt hätte, dass ich ab jetzt jeden Tag in die Schule gehen musste!

Bürgerreporter:in:

Rainer Güllich aus Marburg

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