Marburger in aller Welt; diesmal in China
Die ZDF-Sendung „Gefangen in Peking“ hat Erinnerungen an einen Marburger, den Elektromeister Kopp, wachgerufen, der als junger Matrose der kaiserlichen Kriegsmarine im Jahr 1900 an der Niederschlagung des Boxeraufstandes in China teilgenommen hatte.
Wenn wir im 2. Weltkrieg nachts stundenlang im Keller auf die Fliegeralarm-Entwarnung warten mussten, konnte unser Nachbar Kopp viel von seinen Erlebnissen in China erzählen und uns so von der Angst vor etwaigen Bombenangriffen, die allerdings in der Regel die Großstädte zum Ziel hatten, ablenken. Für mich, als Schulkind, war er, der so weit in der Welt herumgekommen war, ein bewundernswürdiger Mensch und die Unterhaltung mit ihm war damals fast so ungewöhnlich, als würde man sich heutzutage mit einem Astronauten über seinen Weltraumflug unterhalten. – Zu dieser Zeit konnte der Normalbürger auch im Frieden im Urlaub nicht mal kurz nach Asien oder auf die Malediven bzw. in die Karibik fliegen. Einen Massentourismus gab es noch nicht. Eine Reise mit der Bahn in ein Nachbarland, war da schon ein ganz besonderes Erlebnis und keineswegs allgemein üblich.
Kenntnisse über den Boxeraufstand gehörten damals – wie auch heute – nicht unbedingt zum Allgemeinwissen. Die Umstände, die zu diesem Krieg geführt hatten, lassen sich in Kürze nur schwer darstellen:
Die Macht der Chìng- (Mandschu)-Kaiser wurde nach 1800 durch innerchinesiche Machtkämpfe unter den Militärmachthabern, dem chinesischen Adel, Unruhen und Aufstände immer mehr geschwächt. Im Extremfall musste das Kaiserhaus sogar die Hilfe ausländischer Mächte (z.B. der Engländer) in Anspruch nehmen, um Aufstände niederzuschlagen. China war zwar auch damals schon ein Riesenreich; aber die Macht der Regierung war nicht zu allen Zeiten und nicht in allen Gebieten voll durchzusetzen. Die europäischen Kolonialmächte nutzten diese Umstände aus und verstanden es auch unter politischem und gelegentlich auch militärischen Druck, ihren Einfluss in China auszuweiten und z. B. das Staatsmonopol der chinesischen Handelsgesellschaften zu brechen, Chinas Zollautonomie zu untergraben, Konzessionen für den Bergbau und den Bau von Eisenbahnen zu erwerben bzw. zu erpressen. Das ging soweit, dass ganze Städte von den europäischen Mächten nach kriegerischen Auseinandersetzungen besetzt und von China abgetrennt wurden. Z.B. trotzten die Engländer bereits 1843 nach dem Opiumkrieg den Chinesen einen Vertrag über die Abtretung Hongkongs ab. Die Deutschen besetzten nach der Ermordung zweier Missionare 1897 das Kiautschougebiet und bauten die Hafenstadt Tsingtau zur militärischen Festung und zum Handelshafen aus (Vertrag für 99 Jahre). Auch Russland und Frankreich bemächtigten sich ebenfalls solcher Küstenstädte als Stützpunkte in China.
Gegen diese Auflösungserscheinungen wanden sich u. a. auch eine religiöse Sekte - zu deren Ritualen der Faustkampf gehörte. Sie schürten die im Volk aufkommende Fremden-feindlichkeit und hatten großen Zulauf. Ihre Aktivitäten richteten sie zunächst gegen das Kaiserhaus, das sie aber später auch als bewaffnete Miliz stillschweigend duldete. Die Europäer nannten diese Bewegung überheblich Boxer und unter-schätzten deren Einfluss. Bei den Unruhen, die sich gegen die Ausländer und chinesische Christen richteten, waren sie die führende Kraft und es wurden europäische Handelshäuser niedergebrannt und kam zu Angriffen auf die ausländischen Botschaften. Der deutsche Gesandte, Freiherr von Ketteler, wurde in diesem Zusammenhang auf dem Weg zu Verhand-lungen mit dem Kaiserhaus ermordet. Das Diplomatenviertel , das teilweise von einer Mauer umgeben war, wurde von bewaf-fneten Boxern und chinesischen Truppen eingeschlossen und belagert. Nur 500 europäische Soldaten standen zunächst für die Verteidigung zur Verfügung.
Die europäischen Mächte (einschließlich Russland) entsandten ein Expeditionskorps und China erklärte am 21. 6. 1900 den Westmächten den Krieg. Die vereinigten Truppen erlitten zunächst auf dem Vormarsch nach Peking Rückschlä-ge und mußten sich zurückziehen. - Nachdem Verstärkung eingetroffen war, begann der Vormarsch erneut. Dabei wurden sie u. a. auch von einem deutschen Kanonenboot unterstützt, auf dem unser Nachbar Kopp als Matrose diente, so dass er uns unmittelbar von diesen Kämpfen erzählen konnte. Das Kanonenboot unterstützte die Truppen zunächst bei der Eroberung der 4 Festungen an der Mündung des Peiho-Flusses und dann – soweit möglich - flussaufwärts bei dem Vormarsch nach Peking mit seinen Bordgeschützen. – Der Boxeraufstand wurde niedergeschlagen, Peking und der Kaiserpalast besetzt und die Chinesen mussten die Friedensbedingungen der Westmächte akzeptieren..
Dass das typische Kolonialpolitik war, die sich anmaßte, ihre wirtschaftlichen und politischen Machtinteressen notfalls auch aus relativ nichtigem Grund mit Waffengewalt durchzusetzen, hat zu dieser Zeit niemand aufgeregt. Die eigenen nationalen Interessen waren „heilig“ und die Unterdrückung anderer Völker (nicht nur durch die Deutschen) wurde nicht als verwerflich angeprangert. Das war halt so und wer das vielleicht doch als verwerflich ansah, behielt aus den verschiedensten Gründen seine Meinung für sich. Das war der Geist der Zeit und keine Erfindung der Nationalsozialisten, die allerdings Ähnliches im eigenen Machtbereich noch viel radikaler betrieben haben. – Viele haben früher möglicherweise wirklich geglaubt, dass die „Wilden“ und die „Heiden“ uns dankbar seine müssten, weil wir ihnen die christliche Religion, die europäische Kultur und Zivilisation gebracht haben - Heute sehen wir das nicht so einseitig. - Aber wer die Geschichte nur durch die für ihn gegenwärtig passende Brille betrachtet, wird sie nie richtig erfassen, weil in den verschiedenen Phasen der Geschichte auch verschiedene Auffassungen vorherrschend waren und nicht alles nur nach unseren jetzigen Maßstäben gemessen werden kann.
Am Ende des zweiten Weltkriegs, war der Aufenthalt unseres Nachbarn Kopp in China bzw. sein Dienst bei der Kriegsmarine für unsere Familie von hohem Nutzen. Ich war noch in Gefangenschaft, als die Amerikaner die Südschule für die Unterbringung ihrer Soldaten beschlagnahmt hatten und die Räumung der von meiner Familie be-wohnten Dienstwohnung befahlen.. Ihnen war egal, wo wir anderweitig unterkommen könnten und man konnte nur mit der Einweisung in ein ganz beengtes Notquartier rechnen. Meine Mutter war in Tränen aufgelöst, mein Vater war verzweifelt. - Da kam in der höchsten Not unser Nachbar Kopp dazu, der bei der Marine leidlich Englisch gelernt hatte. Seine Sprachkenntnisse waren immerhin so gut, dass er dem amerikanischen Offizier klar machen konnte, dass es für die Amerikaner von Vorteil sei, wenn sie meinen Vater in der Schule wohnen lassen würden, weil er sich mit allen technischen Anlagen der Schule auskannte und ganz bestimmt kein Nazi gewesen wäre Als Beinamputierter gehöre er auch bestimmt nicht zu den (gar nicht vorhandenen) Wehrwölfen, die die Amerikaner nach den Erkenntnissen über die Partisanen in Russland anfangs fürchteten.
Herrn Kopp haben wir es zu verdanken, dass wir in der Dienstwohnung bleiben konnten. Zu dieser Zeit konnten nur ganz wenig Normalbürger Englisch und es war ein Glücksfall, dass wir einen Marburger als Nachbarn hatten, der in aller Welt herumgekommen war und englisch sprach.
Bürgerreporter:in:Walter Wormsbächer aus Marburg |
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