"Der Todesfahrer" oder wie ich Fahrrad fahren lernte
Der Wind pfiff mir um die Ohren. Die Bäume links und rechts der Straße huschten an meinen Augenwinkeln vorbei. Die Abfahrt war berauschend. Der Aufstieg war es weniger gewesen. Mario, mein bester Freund, und ich hatten, um den Berg mit unseren Rädern zu erklimmen, schon einiges an Zeit und Schweiß aufbringen müssen.
Umso genussvoller jetzt die Fahrt den Berg hinunter. Der Kilometerzähler meines Fahrradtachometers zeigte 50 km/h an. So schnell war ich noch nie gefahren! Der Fuchsschwanz, den ich an der linken Lenkerseite angebracht hatte, hing durch den Gegenwind waagerecht in der Luft. Jetzt hatten endlich auch meine Aufkleber mit den Totenköpfen Sinn, denn was konnte todesmutiger sein, als schnell wie der Schall die Lahnberge herunterzurasen?!
Ich war stolz auf mich. Ich hatte es geschafft. Ich war ein sicherer und gewandter Radfahrer geworden.
Das hatte vor einiger Zeit noch ganz anders ausgesehen. Mein erstes Kinderfahrrad hatte ich mit fünf Jahren bekommen. Wo es herkam, weiß ich nicht. Ein geschickter Mechaniker hatte aus einem normalen Kinderfahrrad ein Dreirad „gebastelt“. Das Rad besaß drei Ballonreifen, von denen die beiden hinteren auf einer langen Achse saßen. Was etwas merkwürdig aussah, war das freihängende hintere Schutzblech, denn das Rad, das sich dort hätte befinden müssen, gab es nicht.
Was natürlich toll an diesem Rad war, war das ich mir um meine Balance keine Sorgen machen musste. Ich bewegte mich sicher auf meinen drei Rädern auf Straßen und Feldwegen. Natürlich lernte ich so nicht „richtig“ Rad fahren.
War aber auch kein Problem, denn als ich meinem Dreirad entwachsen war, waren gerade Tretroller in Mode gekommen. Nachdem dann auch der Roller seine Schuldigkeit getan hatte und in der Versenkung verschwunden war, war Rad fahren nicht mehr gefragt.
Doch als ich zwölf Jahre alt war, hatte sich die Situation wieder verändert: Räder waren wieder groß im Kommen! Fast jeder meiner Schulkameraden und Freunde besaß ein Rad, mein Cousin hatte gerade von unseren Großeltern ein Fahrrad zu seinem Geburtstag bekommen und das hieß für mich, da auch mein Geburtstag anstand, dass ich auch ein solches Gefährt bekommen würde.
Mein Großvater, meine Großmutter und ich standen vor dem Fahrradladen. Ich hielt mein funkelniegelnagelneues Fahrrad stolz mit beiden Händen am Lenker fest. Doch dann kam es.
„Dann steig mal auf und fahr los. Deine Großmutter und ich fahren mit dem Bus.“ Mein Großvater gab mir einen leichten Klaps auf die Schulter.
„Äh … Opa. Das geht nicht. Ich kann doch überhaupt nicht Fahrrad fahren.“ Meine Stimme klang gequält.
„Was!“ mein Großvater sah mich mit großen Augen an. „Das gibt es doch wohl nicht. Walter kann es doch auch …“
Walter war mein älterer Cousin. Der, der schon ein Fahrrad zum Geburtstag bekommen hatte. Meine Großmutter schaltete sich ein. Ich war ihr Liebling. „Heinrich, lass doch den Jungen. Er hat das Rad fahren halt noch nicht gelernt. Bald kann er es.“
Mein Großvater schnaubte wie ein Stier durch die Nase. „Du bist doch früher schon Rad gefahren. Da ging es doch auch!“
„Ja, aber das war doch so ein komisches Dreirad … damit konnte ich doch kein Fahrrad fahren lernen!“ Ich fühlte mich in Erklärungsnot.
„Dreirad!? Aha! Tja, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir auch jetzt ein Dreirad gekauft.“ Die Stimme meines Großvaters klang verächtlich.
„Nun lass gut sein, Heinrich. Rainer wird es halt lernen und fertig. Nun lass uns zum Bus gehen.“ Großmutter nahm meinen Großvater am Arm und beide gingen zur Bushaltestelle, die eine Straßenecke weiter war.
Beschämt nahm ich mein Rad und schob es nach Hause.
Noch am gleichen Tag begann mein Martyrium. Ich begann, Fahrrad fahren zu lernen. Autodidaktisch. Wie sonst?
Gegenüber unserem Haus befanden sich Bahnschienen. Hier fuhr die sogenannte Kreisbahn. Hinter den Schienen befanden sich bis zum Horizont Wiesen und Äcker. Dazwischen mehr oder weniger befestigte Wege, die wie zum Rad fahren gemacht waren.
Hier sollte meine Selbstschulung stattfinden. Den Blick geradeaus gerichtet, stand ich dort mit meinem Rad. Den linken Fuß auf einer Pedale gab ich mir und dem Gefährt Schwung und schwang mich auf den Sattel. Das klappte recht gut. Nach anfänglichem Wackeln und Schlangenspuren fahren funktionierte das Fahren tadellos.
Es war kein Problem. Ich fuhr die Feldwege ab, war glücklich, denn Rad fahren war ja ganz einfach. Doch dann wollte ich umkehren. Der Feldweg war zu schmal, um in einer engen Kehrtwendung zu drehen. Ich würde in einem der Gräben landen, die den Feldweg säumten. Mir blieb nichts anderes übrig als anzuhalten. Ich zog die Vorderbremse an, kam zum Stillstand, versuchte gleichzeitig mein rechtes Bein über den Sattel zu schwingen, um so abzusteigen … und lag im nächsten Moment in einem der besagten Gräben.
Er war nicht viel Wasser in ihm, sodass ich mir beim Herausklettern nur an den Knien die Hose nass und schmutzig machte.
Später gab es trotzdem Ärger mit meiner Mutter, obwohl ich ihr alles haarklein erzählte. Auch sie zeigte kein Verständnis für mich als Noch-Nichtradfahrer. Bis auf meine Großmutter schienen alle zu meinen, Rad fahren zu lernen sei keine große Sache.
Jedenfalls hatte ich echte Probleme mit dem Absteigen. Verbissen übte ich weiter. Es gelang mir eine Technik zu entwickeln, die zwar nicht schön anzusehen, doch zu 50% von Erfolg gekrönt war. Wenn ich absteigen wollte, bremste ich das Rad ab und löste mich mit einem gewagten Sprung vom Sattel. In der Hälfte der Fälle landete ich in irgendeiner Pfütze, in einem Schlagloch oder in Stacheldraht. Einmal landete ich sogar in einem mit Strom betriebenen Weidezaun. War wirklich nicht lustig.
Aber plötzlich klappte einfach alles. Die Zeit war wohl einfach reif dafür gewesen. Das Auf- und Absteigen war kein Problem mehr (dies gelang mir sogar mit einer gewissen Eleganz), auf engsten Wegen wendete ich in voller Fahrt. Bei den diversen Radrennen mit meinen Spielkameraden war ich fast immer der Erste, da ich immer volles Risiko fuhr. Meine Freunde nannten mich den „Todesfahrer“.
Dies kam auch irgendwann zu Ohren meines Großvaters, und als ich eines Tages aus der Schule kam, sprach er mich an und gab mir ein kleines in Papier gewickeltes Päckchen.
„Das ist für dich“, sagte er. „Ich habe gehört, dass du ein guter und unerschrockener Radfahrer geworden bist. Das macht mich stolz und deshalb habe ich dieses kleine Geschenk für dich. Versprich mir aber nicht zu unvorsichtig im Straßenverkehr zu sein.“
Freudig versprach ich das, öffnete das Geschenk und konnte mich vor Freude kaum fassen. Mein Großvater hatte mir eine Kleberolle geschenkt, auf deren blauem Hintergrund schneeweiße Totenköpfe zu sehen waren. Genau das Richtige für mich als „Todesfahrer“. Sofort beklebte ich mein Fahrrad von vorne bis hinten mit den Totenköpfen.
Sie waren für mich wie Orden, die an meiner Brust prangten.
© R. Güllich
Bürgerreporter:in:Rainer Güllich aus Marburg |
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