Zuckererdbeeren, der Prager Frühling und eine Eismuschel
An jeder Ecke eine Erinnerung (1)
Wie immer stimmt mich der Anblick ein wenig traurig. Nichts ist mehr los in der Turnvater-
Jahn-Straße. In meiner Kindheit gab es hier so etwas wie ein zweites Bretzenheimer Zentrum. Metzgerei Lochmann, Latscha, Bäckerei Schröder. Auf dem Spielplatz herrschte fast immer Trubel. Menschen waren unterwegs, häufig Omas in ihren Kittelschürzen, nur wenige Opas. Kinder grölten, wurden gemaßregelt, grinsten, gehorchten oder auch nicht.
Zeiten ändern sich, manchmal tut es weh. Nur für einen Moment schließe ich die Augen.
Freitag, 13. September 1968
„Och, Oma!“, meckerte Marina. „Ich will doch zur Petra. Wir gehen zum Ott, schöne Sachen angucken und dann zum Nolda für eine Eismuschel.“ Dass sie vorher noch einkaufen gehen sollte, machte sie echt sauer.
Omas graue Augen - meistens blickten sie freundlich - sprühten Funken über die Ränder der herunter gerutschten Brille. „Donn gibd's moje ebe koan Kuche!“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und rauschte ins Schlafzimmer, nicht allzu schnell, denn Oma war dick, so wie es sich für eine Oma gehörte.
Marina bildete sich ein, dass die obligatorische Kittelschürze – jetzt, Anfang September, die leichtere Version mit kleinen Blumen – sich bauschte und bebte. Das mit dem Beben war wohl keine Einbildung, denn in Omas Wohnung, bestehend aus einer Küche, einem Wohn-Schlafzimmer, kleiner Diele und Klo, herrschte immer Durchzug. Lüften war Gesetz.
„Schon gut“, rief sie schnell hinterher. „Ich geh ja einkaufen.“
Im Schlafzimmer wurde gebrummelt. Marina verstand nur: „Väwöhnd sinn die Kinnä …“ Das war’s.
„Ich geh doch!“, schob sie hinterher. Allmählich wurde sie nervös. Das mit dem Kuchen wäre eine ernste Sache, denn sie durfte am morgigen Samstag bei ihrer Oma übernachten – auf der Chaiselongue in der Küche mit gutem Blick auf den Fernseher. Mit einem Kuchen hatte sie fest gerechnet.
Oma stapfte herbei, ihr Gesichtsausdruck signalisierte Entspannung. Eifrig bemühte sich Marina, ihren guten Willen unter Beweis zu stellen. Geschwind holte sie Korb, Zettel und Stift, ließ sich die Einkäufe diktieren. Nach den Sommerferien war sie in die vierte Klasse gekommen, Schreiben konnte sie ziemlich gut.
Das Pundbrot, erste Sorte, weich gebacken, vom Bäcker Schröder musste sie nicht notieren. Das kaufte sie ständig. Zwei Milchweck und einen Paarweck – das schrieb sie lieber auf. „Und Lakritz-Schnecken?“, fragte sie hoffungsvoll. „Oder Brausetütchen?“
Schließlich handelte sie aus, dass sie für zwanzig Pfennige Süßigkeiten kaufen durfte. Wie immer war die Liste für die Metzgerei Lochmann ziemlich lange. Oma liebte Fleisch und Wurst und einen vollen Kühlschrank. Wenn sie im Garten hinter dem Mehrfamilienhaus mit anderen alten Frauen und nur einem alten Mann aus der Nachbarschaft zusammensaß, fehlten die Geschichten darüber, wie sehr im Krieg Kohldampp geschoben wurde, nie.
Die freundliche Frau Schröder griff dreimal in die Gläser mit dem Süßkram und kippte alles in Papiertütchen.
„So“, meinte sie. „Stell mal deinen Korb hier ab.“ Mit diesen Worten kam sie lächelnd hinter der Theke hervor, legte Brot, Brötchen und Tütchen in den Korb.
Wie immer war Marina fasziniert von den hoch gesteckten schwarzen Haaren der Bäckersfrau. Sie stellte sich vor, wie lange und schön glatt die Haare im offenen Zustand sein mussten - wie die von Schneewittchen. Frau Schröder half ihr, das Geld abzuzählen.
„Danke“, sagte sie artig.
„Schönen Gruß an die Oma!“, rief Frau Schröder ihr noch hinterher.
Bald darauf stand Marina vor der Treppe zur Metzgerei Lochmann und gönnte sich noch schnell eine Zuckererdbeere. Dann packte sie ihren Schatz in die Jackentasche und ging die Stufen hoch zur Metzgerei.
Die blonde Frau Lochmann, Metzgersfrau, genauso eine freundliche wie die schwarzhaarige Frau Schröder, Bäckersfrau, stand hinter der Theke.
Als sie das Geschäft betrat, sagte die alte Frau mit der Rosen-Kittelschürze: “… rode Studende brauch isch nidd in meunä Nachbarschafd. Die solle sisch nibbä mache zu de Kommunisde.“
„Resch disch nidd so uff“, konterte die in der Tupfen-Kittelschütze. „Schlimmä sinn die Aldnazis.“
„Guten Tag“, rief Marina schnell, bevor weitergeredet wurde.
„Guten Tag“, erwiderte Frau Lochmann fröhlich.
Die alten Frauen und der Junge mit seinem Fußball unter dem Arm schauten kurz zu ihr rüber. Die Frauen fühlten sich wohl gestört, der Junge grinste. Er war eine Klasse über Marina und spielte mit seinen Kumpeln überall Fußball, auch auf dem Spielplatz. Das war verboten. Sie fand das richtig, seitdem sie einen Ball an den Kopf gekriegt hatte.
„Abbä die Studende haan druff“, ereiferte sich die Rosen-Kittelschürze.
„Mä konn se doch nidd all übbä aan Komm schern“, wetterte die Tupfen-Kittelschürze. „Denk onn de Rudi Dudschke.“
Eine Tür wurde geöffnet und geschlossen. „Aber, aber!“, ertönte Herrn Lochmanns ruhige Stimme. Der Metzger mit den roten Wangen schaute über die Theke. „Wir wollen uns doch nicht streiten“, beschwichtigte er, während er Fleischwurstringel drapierte.
Es wurde noch ein wenig gegrummelt. Martina schnappte Prager Frühling auf und fragte sich, ob in der Tschechei andere Jahreszeiten herrschten. In Deutschland war immerhin Spätsommer. Die Wogen glätteten sich schnell. Bald war Marina dran und las Omas Bestellung vor: hundert Gramm Leberwurst, hundert Gramm Fleischmagen, hundert Gramm gekochten Schinken, zwei Kotelett, zwei grobe Bratwürste, ein halber Ringel Fleischwurst.
„Soll ich getrennt einpacken?“ Frau Lochmann warf ihr einen strahlenden Blick zu.
Sie stutzte. „Wieso denn?“, fragte sie vorsichtig.
„Das für die Oma und das für euch“, erwiderte Frau Lochmann.
„Ist alles für die Oma“, meinte Marina.
„Ach so!“, meinte Frau Lochmann.
Nachdem alles erledigt war, eilte sie die Stufen hinunter. Jetzt musste sie sich sputen, ihre beste Freundin Petra wartete bestimmt schon. Zu ihrer Freude stand das Goggomobil von Herrn Mundt vor dem Haus. An dem kleinen Auto konnte sie sich nicht sattsehen. Gut, dass Herr und Frau Mundt nicht dick waren.
Im Hausflur schucherte es sie wie jedes Mal, wenn sie die Treppe, die zu den Kellern und der Waschküche führte, hinuntersah. Omas Keller, aus dem sie oft die eingemachte Marmelade oder - schlimmer noch – Kartoffeln aus der Bütte holen musste, kam ihr vor wie ein Verlies. Die Waschküche und der Durchgang zum Garten hingegen faszinierten sie, wohl auch deshalb, weil es den Kindern verboten war, dort herumzulungern.
Rasch machte sie sich an den Aufstieg ins Dachgeschoss, schlich wie immer auf Zehenspitzen an der Wohnung vom Ehepaar Krug vorbei. Es war egal, was Marina und die anderen Kinder taten oder nicht taten, Frau Krug schimpfte immer und guckte böse.
Im Erdgeschoss ging eine Tür auf. Wärst du doch in Düsseldorf geblieben, schöner Playboy …, tönte zu Marina herauf.
„ … das wär besser für dich und für Düsseldorf am Rhein …“, summte sie mit. Die Tür wurde zugeknallt. Schade – die Stelle mit dem Cowboy mochte sie bei dem Schlager am liebsten.
Erhobenen Hauptes trat Petra durch das Gartentor. „Du bist ja spät dran.“
Damit hatte Marina gerechnet. „Musste für meine Oma noch zum Schröder und zum Lochmann“, erwiderte sie mit einem Seufzer. „Wo gehen wir zuerst hin?“, setzte sie schnell nach.
„Erst zum Ott“, erklärte Petra kategorisch. „Da kaufe ich etwas für meine Mama.“ Mit diesen Worten schwang sie einen schwarzen Einkaufsbeutel.
Marina horchte sie auf. „Hast du Geld?“
„Von meinem Papa.“ Petra zog die Augenbrauen hoch und guckte so, wie sie es nicht mochte. Mit besten Freundinnen war es nicht immer einfach.
„Morgen fahren wir in die Stadt zum Kinderladen“, eröffnete Petra ihr, während sie durch die Domherrngasse liefen.
„Kriegst du was gekauft?“, fragte sie und hörte selbst, dass es neidisch klang. Die gelegentlichen Samstagseinkäufe in der Stadt waren nun mal besondere Ereignisse und ein Besuch im Kinderladen bildete den absoluten Höhepunkt.
„Wir kaufen ein Geburtstagsgeschenk für meine Cousine“, erwiderte Petra grinsend und Marina entspannte sich.
„Danach gehen wir zum Dengler?“, schob Petra hinterher.
„Prima“, stieß sie hervor und kämpfte den sich erneut anbahnenden Neid mit Mühe nieder. Im Schuhgeschäft Dengler neben dem Kinderladen gab es zwischen Erdgeschoss und erstem Geschoss eine Rutsche!
Beschwingt spazierten sie über den Platz vor der Katholischen Kirche, eilten die große Treppe hinunter und am Rathaus vorbei. Wie immer betrachteten sie die feinen Seifen und Parfums im Schaufenster der Drogerie Brandmüller. Dann schlenderten sie die Straße hoch zum Ott. Auch hier nahmen sie sich etwas Zeit, um die Schaufenster anzusehen. Da bauschten sich kunstvoll drapierte Gardinen hinter feinem Porzellan und bestickten Sofakissen.
„Sind bestimmt Ardo-Gardinen“, hauchte Petra.
„Die mit der Goldkante“, fügte Marina hinzu. Beide Mädchen liebten die Werbung: Ardo-Gardine, die mit der Goldkante!
Als sie das große Geschäft betraten, nickte ihnen die Verkäuferin freundlich zu und fragte: „Was kann ich denn für euch tun?“
„Also, meiner Mama gefällt so ein Flaschenöffner, der aussieht wie ein Schwertfisch“, erwiderte Petra aufgeregt, „und so ein Flaschenstopfer, der aussieht wie eine Katze mit einer Maus im Mund.“ Das klang auswendig gelernt.
Marina warf ihrer Freundin einen entgeisterten Blick zu. Was waren das denn für Sachen? Und einen Flaschenstopfer kannte sie auch nicht.
Aber die Verkäuferin sagte: „Na, dann kommt mal mit.“
In einem Regal weiter hinten zwischen Holzschalen unterschiedlicher Größe waren Korkenzieher und Figuren dekoriert.
Die Verkäuferin nahm etwas aus dem Regal und zeigte es ihnen. „Hier ist der Schwertfisch“, erklärte sie, „und dies …“ Sie griff noch einmal in das Regal. „… ist der Flaschenverschluss.“ Lachend präsentierte sie eine hölzerne Katze, die den Schwanz einer sehr kleinen hölzernen Maus zwischen den Zähnen hielt.
Aha, dachte Marina. Das ist so ein Ding, das auf die angebrochene Flasche gesteckt wird.
„Ja, genau“, frohlockte Petra. Es klang erleichtert.
„Ich nehme an, Korkenzieher und Flaschenverschluss sind ein Geschenk“, sagte die Verkäuferin.
Andächtig schauten die Mädchen noch zu, wie Fisch und Katze schön verpackt wurden. Nicht ohne Stolz verließen sie den Laden. Vorsichtig schwenkte Petra ihren schwarzen Beutel.
Zur Krönung des Tages holten sie sich im Hof der Konditorei Nolda ein Eis, drei Bällchen für jede - Vanille, Erdbeere und Schokolade in der Eis-Muschel.
Bildnachweise
Goggomobil: Bild von 8832037 auf Pixabay / Süßigkeiten: Bild von Дарья Яковлева auf Pixabay / Titelbild: Carolin Olivares / Werbeschaltungen aus: 40 Jahre Mainz-Bretzenheim (1969), Hrsg.: Stadtverwaltung Mainz, Ortsvewaltung Mainz-Bretzenhem
Text: ©Carolin Olivares, Lektorat Carolin Olivares