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Nostalgie auf dem Rebstockplatz oder – Erinnerungen an einen Einkaufswagen

Wie schade! Da waren früher das Rex – und das Bambi. Ich erinnere mich an eine Ferienvorstellung Anfang der siebziger Jahre. Einer meiner Schulkameraden aus der Anne-Frank-Schule kam an günstige Eintrittskarten, weil seine Mutter im Kino arbeitete, und lud mich ein.
Ein Ausflug „in die Stadt“ zum Kinobesuch – das war schon was, damals. Gezeigt wurde ein zweit- oder drittklassiger amerikanischer Film über Atlantis: Ein armer griechischer Fischer rettete eine wunderschöne Frau vor dem Ertrinken. Bald stellte sich heraus, dass sie eine atlantische Prinzessin war. Blind vor Liebe brachte er sie zurück in ihr Reich. Das sagenhafte Atlantis entpuppte sich als teuflisch in jeder Hinsicht: Sklaverei; Menschen, die in Tiere verwandelt wurden; gottlose Herrscher … Zum Schluss versank die Insel mit ihren ungläubigen, dekadenten Bewohnern in den Fluten des Meeres, so wie es sich gehört.

Ich drehe mich um und mein Herz geht auf – der Dom. Mein Blick fällt auf den West-Chor, den neueren Teil, nicht den Ost-Chor; das ist der ältere Teil, auf der anderen Seite, Richtung Fischtorplatz. Seit ich denken kann, hat man mir das eingebläut. Als Bretzenheimerin lebte ich ja nicht wirklich im Schatten des Doms, aber bei dem gleichnamigen Lied fühle ich mich angesprochen, besonders an Fassenacht.
Der Martinsdom! Der Dom zu Mainz! So prägend wie Fleischwurst und Paarweck, Krebbel, das Sandmännchen, „die Elektrische“, alte Frauen in Kittelschürzen, Astrid Lindgren, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Johannisfest, The Who, Augustinerkeller, Goldstein und La Bastille
In nostalgischer Stimmung setze ich meinen Weg fort Richtung Brand. Ich war ein Schulkind, als das Einkaufszentrum erbaut wurde – was war davor an seiner Stelle? Keine Ahnung. Als ich an der Allgemeinen Zeitung vorbeigehe, bleibt mein Blick an einem Muster im Boden auf dem Platz vor mir hängen. Zunächst sieht es aus wie ein Kreis, bei näherem Hinsehen entpuppt es sich aber als Oktagon. Ich stelle mich neben die Linie und sehe im Geist den Brunnen, der hier einmal gestanden hat, der Brunnen mit dem Perpetuum Mobile.
Auf einmal möchte ich heulen. Warum? Weil der Brunnen nicht mehr da ist, genauso wie die alte Lotharpassage mit Woolworth oder die Nordsee an der Ecke Große Bleiche/Große Langgasse. Matjeshappen gibt es noch in der Nordseefiliale in der Schusterstraße, Hot Haps aber nicht mehr. Solche Fischspezialitäten brachten meine Eltern vom samstäglichen Einkauf aus der Stadt mit nach Hause. Das war für mich so lange der Knüller, bis ich Anfang der Siebziger meine erste Pizza aß. Damit waren die Nordsee Spezialitäten out. Etwas später lernte ich Lasagne und Cannelloni kennen. Da wusste ich dann endgültig Bescheid …
Nur wenige Leute sind heute, an diesem Mittwochvormittag unterwegs. Gedankenverloren lasse ich meinen Blick schweifen, folge der Treppe zum Brand, bleibe an der Schräge für Rollstuhlfahrer, Radfahrer, Kinderwagen und Skateboard Fahrer hängen. Der Anblick dieser Schräge macht mich glücklich, erhöht meinen Herzschlag für einen Moment. Im Geiste sehe ich einen Einkaufswagen dort oben stehen, auf dem Scheitelpunkt sozusagen. Ich möchte lachen und nicht mehr aufhören.
Meine Umgebung einschließlich der wenigen Passanten, die sich über die Frau vor der Treppe mit diesem eigentümlichen Lächeln vielleicht wundern, rückt in weite Ferne, während ich abtauche in eine andere Zeit.

Mainz im Frühsommer 1976: Hinter mir und meiner Freundin Sophie – das mit Wasser gefüllte Becken des Brunnens. Das Perpetuum Mobile gibt seltsam scharrende Geräusche von sich, während es sich um seine eigene Achse dreht.
Wir sitzen auf dem Brunnenrand, starren fasziniert auf das, was sich am höchsten Punkt der Schräge in Richtung Brand gerade tut. Immer mehr Passanten bleiben in unserer Nähe stehen, einige setzen sich ebenfalls auf den Brunnenrand. Alle warten darauf, wie es weitergeht.
„Die Amis“, sagt ein älterer Herr freundlich, schüttelt dabei lachend den Kopf. „Was deene so alles eufelld!“
„Mama, guck doch!“ Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen deutet aufgeregt auf die drei GIs, die dort oben einen leeren Einkaufswagen festhalten und sich anscheinend angeregt unterhalten. Einer hebt grüßend die Hand, winkt uns Zuschauern elegant zu, in der Art der Queen.
Drei junge Männer, die neben uns stehen, langhaarig, mit Peace-Buttons an den Palästinenser-Tüchern, winken zurück, lachen sich kaputt. Schließlich tut sich oben etwas.
„Das machen die doch nicht wirklich?“ Sophie stößt mir sachte den Ellenbogen in die Seite. Wir sehen uns an, ungläubig, lachen dann schallend los. Doch, natürlich machen die das! Wir kennen sie, unsere GIs.
Einer der Amerikaner klettert geschickt in den Einkaufswagen, während seine Kumpel das Gefährt festhalten.
„Was mache se dann jetzd?“ Der ältere Herr grinst über das ganze Gesicht.
„Verrückt!“ Ein Peace Button Träger zündet sich eine Zigarette an, eine HB. Dann wedelt er damit herum und tänzelt ein wenig hin und her, ungefähr wie Bruno, das HB-Männchen.
Mittlerweile hat sich der GI in den Einkaufswagen gequetscht, streckt den Kopf nach vorne und schreit: „Right on.“
Seine Freunde geben dem Wagen einen Stoß und los geht es! Durch den Fahrtwind stellt sich seine blonde Stirntolle nach oben. Das Gefährt rollt die Schräge hinunter, nimmt ordentlich Fahrt auf.
Unter Lachen und Klatschen erreicht der Amerikaner in seinem ungewöhnlichen Fahrzeug das untere Ende der Schräge. Die Fahrt währte nur kurz. Jetzt hat er keine Möglichkeit zu bremsen, ist sozusagen ausgeliefert. Durch ruckartige Bewegungen mit dem Körper versucht er, nach links zu lenken.
Die drei Peace-Button-Träger eilen herbei, halten den Wagen fest. Auf diese Weise gestoppt, dreht das Fahrzeug langsam eine elegante Kurve und kommt vor dem Eingang vom Café Dinges zum Stehen.
„Des glaabd mä konä!“ Wer hat das gesagt? Der ältere Herr, der sich königlich amüsiert.
„Thank you!“, ruft der GI seinem fröhlichen Publikum zu, während seine neuen Freunde ihm heraushelfen. Schulterklopfen, Händeschütteln, Wortfetzen von dort drüben: „Nice to meet you!“ … „Hey, folks!“ … „Let´s go!“ … Einer der Deutschen schiebt den Wagen über die Schräge nach oben, die anderen trotten hinterher, unterhalten sich lachend miteinander und mit den Passanten.
„Was machd ihr donn fä Sache!“ „Menschenskinnä, dess omm frije Moije.“
Oben angelangt gibt es wieder Schultergeklopfe. Als Nächster steigt ein Peace-Button- Träger ein und rollt unter Gejohle nach unten. Allerdings verliert sich sein fröhlicher Gesichtsausdruck mit zunehmender Geschwindigkeit. Am Ende ist er sehr erleichtert, als Passanten ihm beim Parken helfen …

Die Szene verschwimmt. Ich bin zurück. Kein Brunnen, keine lachende Menschenmenge, kein Einkaufswagen, keine GIs – aber der Dom …

© Carolin Olivares,Lektorat Carolin Olivares, Paula Dreyser

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4 Kommentare

da kann ich nur zustimmen

wunderschön geschrieben

Ganz wunderschön geschrieben, Carolin.
Da möchte ich mehr von lesen. Sehr lebendig und fesselnd, und die Erinnerungen kann ich teilen, ohne dabei gewesen zu sein.
Ich stamme auch aus Rheinland-Pfalz, kenne die Landeshauptstadt jedoch leider nur von früheren Klassenfahrten.
Besonders eindrucksvoll in meiner Erinnerung sind im Mainzer Dom die Kirchenfenster von Marc Chagall.

Ja, ganz wunderbar und lebendig geschrieben, eine fesselnde Episode aus dem großen Topf der Erinnerungen.

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