Es war einmal: Das Roxy-Filmtheater in Mainz-Bretzenheim
Als gebürtige Bretzenheimerin stehe ich wieder einmal vor dem ehemaligen Roxy-Filmtheater. Wie habe ich es geliebt, in den späten 60ern sonntags Märchen und Winnetou zu gucken. Das Gebäude verfällt und es tut mir weh.
Kino – das war früher noch ein echtes Erlebnis. Die Kindervorstellungen waren Großereignisse. Winnetou, Old Shatterhand, Siegfried, Brunhild, Dornröschen …
Da stehe ich – mir ist zum Heulen –, erinnere mich und denke mir gleichzeitig etwas aus. Erinnerungen und Fantasie vermischen sich … Es war einmal …
„Und du bist ganz sicher, dass es ein Winnetou-Film mit einer Indianerin ist?“ Carolin liebt die Karl-May-Filme mit dem aristokratischen Apachen-Häuptling und seinem heldenhaften weißen Freund Old Shatterhand wie so ziemlich alle Kinder. Aber sie mag die Folgen, in denen nur Männer alles unter sich ausmachen, nicht so sehr. Ihre absolute Favoritin unter den Indianerinnen ist Ribanna, Winnetous große Liebe. Allerdings gefällt es ihr überhaupt nicht, dass die beiden am Ende nicht zusammenkommen, weil die wunderschöne Häuptlingstochter einen weißen Offizier heiraten muss, um den Frieden zwischen den Völkern zu retten. Sie ist sozusagen ein Pfand. Zum Kotzen findet Carolin das, nicht zum Aushalten. Ntscho-Tschi mag sie auch, Old Shatterhands heimliche Liebe. Dass die am Ende stirbt, ist allerdings eine Katastrophe.
„Ja klar.“ Heinz versteht die Aufregung seiner Freundin nicht. Hauptsache Cowboy und Indianer, was denn sonst!
Ein lauer Frühlingstag, ein Sonntagnachmittag: Bretzenheimer Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren strömen zum Roxy. In Gruppen stehen sie vor dem Gebäude zusammen. Einige springen aufgeregt umher. Wie auf ein geheimes Zeichen bewegen sich plötzlich alle in Richtung Eingang, wo es sich bald knäult. Keiner will zu den Letzten gehören, die den Vorführraum betreten. Die müssen nämlich in den vorderen Reihen sitzen und da kriegt man Genickstarre.
Carolin entdeckt die Randalierer aus der vierten Klasse ihrer Schule. Mist, die Deppen sind auch schon wieder da. Nicht nur, dass die frech sind, Ranzen auf den Rücken anderer Schüler aufmachen, Juckpulver hinten in die Pullover stecken, rumkreischen und spucken; Heinz wird auch immer so komisch, wenn die Bengel auftauchen. Dann lässt er Carolin links liegen und redet so blöd daher. Dabei sind sie seit ihrem vierten Lebensjahr befreundet.
„Oh Heune, gude!“ Bruno – wie immer hängt sein Hemd über dem Bund der Knielederhose. „Bissde widdä mid deum Medsche unnäwegs.“ Er und seine beiden Kumpel lachen sich kaputt. Harald, dem langen Lulatsch, fehlt immer noch ein Schneidezahn.
Heinz rückt daraufhin ein Stück weg von Carolin. „Mä wohne hald nah beienonnä. Deshalb komme mä ach zusomme.“
Verräter! Carolin bleibt allerdings keine Zeit, sich in ihre Enttäuschung hineinzusteigen. Gerade kommen zwei Schulfreundinnen auf sie zu, Andrea und Pia. Sehr gut, dann hat sie auch jemanden. Wer braucht schon den Heinz?
„Hallo.“ „Hallo.“ „Hallo.“
Pia ist wie immer leicht außer Atem, wirkt aufgeregt. „Bisher habe ich immer nur Märchenfilme hier gesehen.“ Ihre Augen leuchten.
„Ich bin oft im Roxy.“ Carolin richtet sich zu voller Größe auf. Soweit es dieses Kino angeht, kennt sie sich bestens aus. Mit ernstem Gesichtsausdruck zeigt sie auf die Reklame im Schaufenster des Kinos. Eines der Plakate sticht hervor. In leuchtenden Lettern verheißt es: Denn der Wind kann nicht lesen. „Da war unser Nachbar letzte Woche mit seiner Frau drin. Darüber hat er sich mit meiner Mutter unterhalten. Ein Film über den Krieg und … also auch ein Liebesfilm …“, erklärt sie.
Das beeindruckt ihre Freundinnen, besonders Pia. „Ist das vielleicht Vom Winde verweht?“, fragt die ganz vorsichtig.
Innerlich stöhnt Carolin. „Nein, ist es nicht. Du siehst doch, was auf dem Plakat steht: Denn der Wind kann nicht lesen!“
„Ja aber, vielleicht so ähnlich, also Liebesfilm und Krieg…“, versucht es Pia erneut, jetzt etwas verunsichert. Das Lächeln auf ihrem Gesicht flackert.
Carolin runzelt die Stirn und schüttelt energisch den Kopf.
„Meine Eltern haben hier mal Die Nibelungen gesehen“, erklärt Andrea schnell. Sie spürt, dass die Stimmung zu kippen droht.
„Mit Uwe Bayer, dem Hammerwerfer als Siegfried“, mischt sich ein älterer Junge ein, der neben ihnen steht.
„Also …“ Carolin gefällt die Wendung nicht, die sich in der Unterhaltung anbahnt. Ihr entgleitet das Ruder … Weiter kommt sie aber nicht.
Peter, Brunos dicker Kumpel, der mit den drei größeren und noch dickeren Brüdern, schießt mit seiner Spielzeugpistole in die Luft. Am Sonntag! Auf der Straße! Der hat Nerven! Er feuert seine Pistole noch zweimal ab. Dann grölt er: „Ich schieß die Weiber ab.“
Boah! Der spinnt, denkt Carolin.Die Mädchen schauen pikiert. Einige Jungs lachen, andere gucken irritiert aus der Wäsche.
Ob Peter nun sehr mutig oder aber sehr dumm ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Glimpflich wird das hier auf jeden Fall nicht abgehen. Einige Leute aus den umliegenden Häusern haben den Krach gehört, natürlich.
Die ersten Fenster fliegen auf. Noch kennt man sich in Bretzenheim. Viele kennen Peters Familie. Und wer nichts Genaues weiß, kann jemand fragen, der Bescheid weiß … Mindestens einer wird Peter bei seinen Eltern oder Großeltern verpfeifen und dann – gute Nacht. Dann kann er zu Hause was erleben.
Schon meldet sich der ältere Herr von schräg gegenüber, der von der Bretzenheimer Post, die sich nur ein paar Schritte entfernt in derselben Straße wie das Kino befindet. Der Postbeamte ist an sich freundlich, reagiert allerdings sehr ungehalten, wenn jemand in der Schlange, die sich so gut wie immer vor dem Schalter bildet, drängelt. „Freundchen!“ Er droht mit dem Finger. „Halt den Rand, sonst komm ich raus.“
Aus einem anderen Fenster brüllt ein Mann: „ Unn wehe, wenn oanä die Schleudä auspackt …“
„Geschieht ihm recht.“ Pias Wangen glühen. Energisch streicht sie ihren Faltenrock glatt, um ihre Äußerung zu untermauern.
„Find' ich auch.“ Andrea nickt heftig. Ihre geflochtenen Zöpfe wippen.
Peter guckt leicht dümmlich aus der Wäsche, steckt den Colt weg und entzieht sich der Sicht der Erwachsenen, indem er sich hinter seinen Kumpeln versteckt. Die stehen aber auch vor ihm wie eine Wand. Irgendwie beeindruckt diese Loyalität unter den frechen Bengeln die Mädchen dann doch.
Unerschrocken flüsterte Bruno seinen Kerlen etwas zu: „Schellekloppe – nach dem Kino.“
Andrea, Carolin und Pia hören es. Also was soll man davon halten?
Die Jungs nicken sich mit ernsten Gesichtern zu, vereint gegen den Rest der Welt – wie Winnetou und Old Shatterhand, Superman und Batman, Jochen Rindt und Uwe Seeler …
Aus beiden Richtungen der Zaybachstraße eilen immer mehr Kinder zum Kino. Die Schlange vor dem Eingang wächst, es gibt das übliche Gedrängel. Jeder verteidigt seinen Platz, so gut er es eben vermag.
„He, nicht vordrängeln!“ „Nicht schubsen!“ „Ich hol meinen großen Bruder …“
Eine erwartungsvolle Stimmung liegt über den jungen Kinobesuchern. In Bretzenheim ist etwas los. Sonntagnachmittags ins Kino zu gehen, das ist um Längen besser als Sonntagsspaziergänge im Gonsenheimer Wald und Familienbesuche, sogar noch etwas besser als in die Stadt zu fahren, um beim Dolomiti Eis zu essen. So einen Sonntag rumzukriegen, ist nämlich nicht ganz unproblematisch. Viele Kinder werden vormittags in die Kirche geschickt, besonders die Katholiken. Wer blaumacht, auf den Spielplatz geht oder ins Feld zum Spielen, lebt gefährlich, muss höllisch aufpassen, um von niemandem gesehen zu werden. Und die Nachmittage nach dem zumeist üppigen Sonntagsessen drohen immer, in Langeweile auszuarten. Auf der Straße spielen ist am heiligen Sonntag schwierig – allerhöchstens nur kurz, leise und sehr eingeschränkt.
Proportional zur zunehmenden Körperdichte am Kinoeingang schwillt die Lautstärke an. Es wird etwas unangenehm. Carolin denkt an ihren Vater. Vor dem Kino geht es bei einer Jugendvorstellung zu wie in einem Bienenkorb oder Ameisenhaufen!, hat er vor Kurzem gesagt.
„Setzt du dich neben Heinz?“, fragt Pia ganz unschuldig. Sie und Andrea fixieren Carolin mit großem Interesse.
„Nee!“, entgegnet die zickig. Was soll sie mit dem? Der grölt ja mit den Buben rum.
Ein kleines, etwas pummeliges Mädchen fällt gegen Carolin, die daraufhin Andrea anrempelt, die wiederum andere Kinder unfreiwillig anschubst. „He!“ „Uffbasse!“ „Was soll das?“ „Ich hol' meinen großen Bruder …“
„Oh“, japst das Mädchen. Sie heißt Irene und geht wie Heinz in die Schule neben der Katholischen Kirche. „Das wollte ich nicht.“
„Ich freu mich schon auf den Eismann.“ Pia erträgt das Geschubse und Rumgestoße stoisch, lächelt tapfer weiter mit geröteten Wangen, ist in Redelaune.
„Langnese-Eiskonfekt.“ Das sagt Irene, die jetzt irgendwie zu der Mädchengruppe gehört.
Von irgendwo fliegt etwas über die Köpfe der Kinder hinweg.
„Meine Kreide“, ruft ein Mädchen.
„Weiberkram“, antwortet ein Junge.
Gelächter, Geschiebe, Gedränge, Unruhe. Einer löst sich aus dem brodelnden Haufen. Es ist Geo aus Carolins Parallelklasse. Er flitzt auf die andere Straßenseite, packt das Kreidepäckchen und spurtet zurück, um es einem blonden Mädchen in einem roten Kleid zu geben, das einen Kopf größer ist als er. Wie heldenhaft! Die Mädchen sind begeistert. Die Buben schauen abfällig.
„Kreide hab' ich auch dabei“, sagt Andrea gedankenverloren.
„Ich hab' meinen Gummitwist immer im Säckel“, erklärt Irene.
In diesem Moment geht ein Ruck durch die Gruppe. Das Tor wird geöffnet. Wie die Lemminge purzeln die Kinder durch den Eingang und die breite, steile Treppe hinauf. Da ist es schon wieder zu Ende mit der Bewegung. Weiter oben werden die Kinokarten verkauft. Die Abfertigung am Schalter dauert natürlich eine Weile.
Stetig schiebt sich die Schlange nach oben zum Schalter. Münzen wechseln die Besitzer. Die Glücklichen, die so weit gekommen sind, eilen in den Vorführraum. Atemlos finden Andrea, Pia und Carolin Plätze in der Mitte – ein Hauptgewinn.
„Ich komm dann zu dir.“ Der treulose Heinz lässt sich neben Carolin auf den Sitz fallen.
„Hm.“ Na gut, Schwamm drüber. Huldvoll lächelt sie ihm zu.
Pia stößt Andrea den Ellenbogen in die Seite. Beide glotzen und kichern.
Lange müssen sie nicht warten, bis das Licht ausgeht. Die Werbung dauert nur kurz. Schnell ist der Eismann durch. Die Geräuschkulisse ebbt endgültig ab. Die große weite Welt ist in Bretzenheim zu Gast. Die Musik der Winnetou-Filme, getragen, sehnsüchtig und großartig, erfüllt den Raum. Der Titel des Films: Das Halbblut Apanatschi.
Carolin stutzt. Ein Halbblut! Ist das nun eine Indianerin oder nicht? – Es stellt sich schnell heraus, dass Apanatschi ein junges Mädchen ist, keine ganz richtige Indianerin, sondern nur zur Hälfte. Aber immerhin. Carolin atmet tief durch, lässt sich entführen in die Welt der Cowboy und Indianer, der edlen Helden und niederträchtigen Schurken, wo das Wort eines Mannes noch etwas gilt …
Die Sonntagswelt ist in Ordnung, im Roxy-Filmtheater, in Mainz Bretzenheim.