Heiligabend in Österreich (1996) - Teil 1
Kapitel 51. 16.: Der 24. Dezember 1994
Kapitel 51. 16. 1.: Fahrt nach Langau
Kapitel 51. 16. 1. 1.: Auf dem Retzer Bahnhof
Der Bahnhof der Stadt war, seit ich ankam, nahezu völlig leer. Nur wenige abgestellte Wagons befanden sich auf einem der hinteren Gleise neben dem Richtung Wien. Überall zwischen den Gleisen hatte der Schnee alles unter sich zugedeckt. Das Sonnenlicht des wolkenlosen Frühen-Nachmittags-Himmels spiegelte sich in der Kristallstruktur des Schnees.
Personen waren auf dem Gelände seit meiner Ankunft ebenfalls so gut wie keine unterwegs gewesen. Einzig aus dem Zug aus Wien waren ein paar Fahrgäste ausgestiegen. Ohne zu zögern, verließen diese den Bahnhof unmittelbar wieder. Gleich darauf war es wieder ruhig. Einmal hatte dann noch ein ÖBB-Bediensteter nach dem Weihnachtsbaum gesehen, der auf dem Bahnsteig gleich hinter dem Bahnhofsgebäude stand.
Rechts neben mir auf dem Gleis nach Drosendorf stand seit meiner Ankunft bereits der Sonderzug nach Langau. Es handelte sich dabei um eine Garnitur Triebwagen aus den Fünfziger Jahren, die legendären "Blauen Blitze". Drei Waggons führte der Zug, alle dem Namen entsprechend oben weiß und unten blau lackiert. Am Schluss des Zuges befand sich ein Salonwagen. "Blitzbar" stand mit kühnem Schriftzug in der Mitte seiner Außenhaut geschrieben.
Ein ÖBB-Angestellter in Dienstuniform tauchte hinter dem Ende des Zuges auf. In der rechten Hand hielt er eine lange Stange. Am Zug angekommen, begann er damit die Eiszapfen an der Dachkante abzuschlagen.
Ungefähr 20 Minuten nach meinem Eintreffen tauchten weitere Fahrgäste auf. Als kurz darauf wieder eine größere Gruppe erschien, beschloss ich, ebenfalls mit einzusteigen.
Ein paar Personen vor mir in der Gruppe stand Herr Schneider aus der Lehengasse. Ich bekam per Zufall mit, wie er dem Mann neben sich aus seiner Jugendzeit erzählte: "Ois i in jungen Joahn bei da Bahn oa'fangt hoab, bin i de Streckn hia nau mit ana Dampflokomotivn aufe- und oweg'foahn. Mia haum seinazeit nau jedn Schraufn in dem Weakl kennt."
Ich stieg die Außentreppe hoch und öffnete die Tür links zu den Abteilen. Beim Durchgehen sah ich, dass links und rechts bereits nahezu alles besetzt war. Erst einen Waggon weiter hinten fand ich rechts ein freies Abteil. Ich setzte mich in Fahrtrichtung ans Fenster. Draußen vor der Fensterscheibe fiel der Blick auf das leere, halbverschneite Gleis nach Znaim rechts vom Bahnsteig.
Kapitel 51. 16. 1. 2.: Begrüßung durch den Gewerkschaftsvorsitzenden
Nach ein paar Minuten Fahrt schaltete sich die Zugsprechanlage ein. Vor dem Fenster tauchte gerade das Marterl neben dem Eisenbahnübergang auf der Retzbacher Landstraße auf. Zwei Meter danach zog der Übergang selbst vorbei. Nachdem der Zug die Straße überquert hatte, meldete sich der Gewerkschaftsvorsitzende Prey zu Wort: "Grüß Gott, meine sehr geehrten Damen und Herren, mein Name ist Engelbert Prey, und als Obmann der Ortsgruppe Retz der Gewerkschaft der Eisenbahner, welche diesen Ausflug veranstaltet, darf ich Sie recht, recht herzlich begrüßen.
Seit vielen Jahren ist es in unserer Ortsgruppe Brauch, am frühen Nachmittag eines jeden 24. Dezembers einen Christkindlzug in die nähere Umgebung zu veranstalten. In diesem Jahr haben wir als Ziel die Marktgemeinde Langau ausgewählt. Es wird dort zunächst einen Empfang des Bürgermeisters und einiger Gemeindevertreter für uns geben; der dortige Adventsmarkt sperrt extra für uns noch einmal seine Standln auf; und eine Abordnung der 'Waldviertler Grenzlandkapelle Hardegg' wird für uns traditionelle adventliche Weisen spielen.
Und damit auch die Hinfahrt für Sie schon zu einem kleinen Erlebnis wird, haben wir uns ebenfalls etwas einfallen lassen. Der Zug, in dem Sie sitzen, ist ein Stück österreichischer Eisenbahnnostalgie-Geschichte. Und zwar handelt es sich dabei um eine Garnitur vom so genannten "Blauen Blitz", einem Dieseltriebzug der Reihe 5145. Als "Blaue Blitze" wurden die Schnellzug-Dieseltriebwagen der Reihen 5045 und 5145 der ÖBB bezeichnet. Diese beiden Reihen entstanden zwischen den Jahren 1952 und 1957. Von 1952 bis 1956 wurden von der Firma Simmering-Graz-Pauker in Wien insgesamt zwölf Exemplare der Type 5045 gebaut. Die Reihe 5145 kam zustande, als ein Exportauftrag über vier weitere Einheiten dieser Reihe für das damalige Jugoslawien platzte. Diese Züge wurden dann später von den ÖBB übernommen und als Baureihe 5145 klassifiziert. Inzwischen sind diese Zuggarnituren, wie bereits erwähnt, längst schon wieder Eisenbahnlegende.
Auf eine weitere Besonderheit dieses Zuges möchte ich Sie an dieser Stelle auch gleich noch mit aufmerksam machen. Und zwar haben wir am Ende des Zuges einen Barwagen angehängt, in dem Sie sich mit Speisen und Getränken versorgen können. Wie Sie sehen, haben wir uns auch an diesem Heiligabend wieder mit unserem Christkindlzug Mühe gegeben, Ihnen ein weihnachtliches Erlebnis zu bereiten. Und das richtige Wetter haben wir, glaube ich, auch für Sie bestellt, wie Sie sich bei einem Blick aus dem Fenster überzeugen können."
Automatisch sah ich nach draußen. Der Zug fuhr gerade mitten durch die verschneiten Weingärten. Direkt in Augenhöhe zogen am Fenster die kahlen Weinstöcke vorbei. Im Hintergrund rückte unterdessen der Wald immer näher heran.
"Begrüßen möchte ich an dieser Stelle auch all jene nicht in der Region ansässigen Gäste, welche die Weihnachtsfeiertage bei uns verleben und sich ebenfalls entschlossen haben, diese Fahrt mitzumachen. Gestatten Sie mir, dass ich Sie ganz kurz mit ein paar wesentlichen Fakten bezüglich der Bahnlinie, auf der wir uns gerade befinden, vertraut mache.
Die Regionalbahn Retz-Drosendorf ist eine Nebenstrecke der von Wien nach Retz führenden Nord-Westbahn. Sie verbindet die niederösterreichischen Landesviertel Weinviertel und Waldviertel, was wir gerade in diesen Augenblicken optisch sehr deutlich erleben.
Beim Wechsel zwischen diesen beiden Landschaftsformen nimmt die Bahn übrigens bis zu 27 Promille Steigung. Sie werden diese recht beachtlichen Höhenunterschiede ebenfalls in den nächsten Momenten sehr deutlich miterleben. Und zwar in Form von ein paar sehr guten Aussichten auf die Stadt Retz.
Eine Vielzahl sehenswerter kleiner Ortschaften wird der Zug auf seiner Fahrt von Retz nach Langau passieren. Es sind dies im Einzelnen Hofern, Niederfladnitz, Pleissing-Waschbach, Weitersfeld, Oberhöflein. Danach kommt ein Freizeitanglerareal mit eigenem Bahnhaltepunkt, welches sich 'Anglerparadies Hessendorf' nennt. Es folgt noch die Ortschaft Hessendorf selbst, bevor wir dann Langau erreichen.
Zum Schluss noch ein paar organisatorische Anmerkungen zur Fahrt, die alle betreffen. Unser Zug wird Punkt 15:00 Uhr vom Bahnhof Langau wieder retour nach Retz fahren. Ich ersuche Sie, unbedingt pünktlich zu erscheinen, denn der Zug wartet nicht!
Auf der Rückfahrt wird dann jemand mit einem Körberl durch alle Abteile gehen und anstelle eines Fahrtpreises, den wir für diesen Zug nicht eingehoben haben, um eine kleine Spende für die Aktion 'Licht ins Dunkel' 106 zu bitten.
Damit darf ich mich vorerst von Ihnen verabschieden und Ihnen einen angenehmen weiteren Verlauf der Hinfahrt wünschen!"
Die Sprechanlage schnarrte wieder, als sie sich abschaltete. Gegenüber fiel durch das Fenster gerade der Blick in Richtung Mitterretzbach. Etliche fast senkrecht verlaufende, braune und nahezu blätterlose Rebreihen zogen vorbei. Sie endeten optisch täuschend stets relativ kurz auf der Spitze der langgezogenen Hügelwelle, die sie nebeneinander hinauf wuchsen. Vom Zugsitzplatz aus gesehen stellte die obere Hügelkante gleichzeitig den Horizont dar. Ziemlich scharfkantig endete an ihm das Weiß der tief verschneiten Weingärten. Und das Blau des wolkenlosen Winterhimmels begann. Geradeaus in Richtung Lok war inzwischen der bewaldete Spittelmaißberg wieder ein Stück näher gerückt.
Kapitel 51. 16. 1. 3.: Fahrt um den Retzer Altenberg herum
Gleich darauf kam der Waldbeginn vollends in Sichtweite. Quer über den gesamten westlichen Horizont verlief er an dieser Stelle.
Kurz davor, wesentlich kleiner, erschien das Winzerhaus auf dem Altenberg. Ich erinnerte mich, wie ich mich erst vor vier Wochen bei einem Pressetermin da oben aufgehalten hatte. Es war die Vernissage von dem Vorarlberger Künstler, der die Spende fürs Retzer Hilfswerk überreicht hatte. Veranstaltet worden war das Ganze von dem in der Tourismusfachschule ansässigen Landesweingut, dem das Objekt gehört.
Als Nächstes dachte ich an meine kurze Abhandlung über die Weinriede Altenberg. Ich hatte sie zum Abdruck in einem Infokasten neben dem eigentlichen Artikel über die Veranstaltung verfasst. Ein paar Sätze, die ich geschrieben hatte, fielen mir wortwörtlich wieder ein: "Zu den bekanntesten Rieden der Stadt zählen die ausgedehnten Weingärten im Altenberg. Schon bei der Stadtgründung werden sie die 'Alten Weinberge' genannt – 'in antiquo monte'. In den Urbaren scheinen sie 1363 auf. Weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt wurden sie durch die Retzer Weinhandelsfirma Lechner, die hier auch 1905 im Stile der Zeit ein Winzerhaus errichten ließ.
Ganz in der Nähe davon stößt man auf einen Renaissancebildstock, den 1676 Ferdinand Weickel und seine Frau aufstellen ließen. Das Bauwerk zählt zu den aufwendiger gestalteten sakralen Kleindenkmälern der Region. So findet sich auf dem Bildstock neben der obligaten Stifterinschrift auch ein kleines Relief: Christus am Kreuz, rechts und links Maria und Johannes. (...)" Danach hörte die Erinnerung an den Text auf.
Die Riede Muzion mit ihren leicht abschüssigen Weinhängen zog links vom Zug vorbei. Ziemlich nahtlos ging sie wenige Augenblicke später in die Weingärten der Riede Altenberg über.
Die Stelle folgte, an der man inmitten der Weinberge den sehr guten Ausblick auf den historischen Teil von Retz hatte. Ich erinnerte mich daran, wie der Gewerkschaftsvorsitzende kurz zuvor darauf aufmerksam gemacht hatte. Da die Stadt teilweise auf einem Abhang lag, konnte man im Vorbeifahren auch etliche markante Objekte in der Architektur erkennen. Spontan machte sich das auf einem der höchsten Punkte der Stadt ziemlich exponiert gelegene Dominikanerkloster bemerkbar. Eine Sekunde später war die auffallend gelbe Fassade des "Goldenen Hirschen" zu erkennen. Gleich darauf sah man das Znaimertor, das ein wenig wie ein Finger aus der historischen Innenstadt herausragte. Kurz danach erkannte man auch das Verderberhaus und das Schloss Gatterburg.
Kapitel 51. 16. 1. 4.: Bei der Hölzlmühle
Nach ein paar weiteren Augenblicken war sämtliche Landschaft hinter Wald verschwunden, der links und rechts bis an die Gleise heranwuchs. Gleich rechts tauchte die "Große Heide" auf. Geradeaus in Richtung Lok erschien gleichzeitig das aus rohen Brettern gezimmerte Wartehäuschen der ehemaligen Station Hölzlmühle. Ich erinnerte mich daran, wie ich im Sommer einen Artikel über die Bahnlinie geschrieben hatte. Ich war dabei auch kurz auf die verlassene Station eingegangen. Als Erstes hatte ich dazu erwähnt, dass die Bezeichnung der Station auf eine Mühle in der Nähe zurückgeht, die ebenfalls nicht mehr existiert. Sie war eines Tages bis auf die Grundmauern abgebrannt und danach nicht wieder aufgebaut worden. Als zweiten Punkt erwähnte ich, dass die Station bereits 1927 aufgelassen wurde, erst 17 Jahre nach der Gründung der Bahn als solche.
Das Gleis kreuzte einen Wanderweg. Es war der, der vom Ende der Langen Zeile in Retz über den Spittelmaißberg nach Niederfladnitz führte. Gleich danach begann der Teil der Strecke, auf dem die Gleise aufgrund der gestiegenen Höhenlage immer engere Kurven beschrieben. Gleichzeitig durchfuhr der Zug die ersten für die Gleise gegrabenen Senken im Granitboden des Waldes. Ich erinnerte mich, dass es vor allem bis Hofern besonders viele davon gab.
Kapitel 51. 16. 1. 5.: Hofern
Etwa zehn Minuten später erschien die Forstriede Rehleiten, welche das nahe Hofern ankündigte. Unmittelbar rechts und links des Zuges ragten ab dem Punkt immer mehr Granitvorsprünge aus dem verschneiten Winterwaldboden hervor.
Schlagartig war der Wald zu Ende, als der Zug sich kurz darauf der Haltestelle Hofern näherte. Gleich darauf kreuzte er die Landstraße von Retz nach Niederfladnitz. Ein Stück entfernt tauchte linkerhand die kurze Einfahrtstraße nach Hofern auf. Rechts zog unterdessen der Steinbruch vorbei. Zeitgleich mit ihm tauchte das Ende des fünf Kilometer langen Weges nach Retz auf. Ich erinnerte mich, wie ich am Leopolditag die Strecke zu Fuß gegangen war, um über den Leopoldimarkt des Hoferner Dorferneuerungsvereins zu berichten. Einen Sekundenbruchteil später erschien auch die kleine Kartoffelkellergasse, die von dem Weg abzweigte und blind in der Landschaft endete.
Der Zug durchfuhr die scharfe Kurve kurz vor der Haltestelle. Als er sie hinter sich gelassen hatte, erschien am rechten Fenster der Heurige Schauaus. Gleich dahinter zog sich die Niederfladnitzer Landstraße entlang. Wiederum dahinter, gleich am Straßenrand, die andere Reihe von Kartoffelkellern.
Bei ihrem Anblick erinnerte ich mich an meine Bildreportage vom Sommer über eine mögliche Wanderroute durchs Thayatal. Als Ausgangspunkt dazu hatte ich den Weg vom Ende der Retzer Windmühlgasse aus genommen. Der Weg, den ich auch am Leopolditag gegangen war. Als ersten Aufenthaltspunkt hatte ich die Retzer Windmühle mit Heurigen und dem benachbarten Soldatenfriedhof vorgeschlagen. Natürlich alles reichhaltig bebildert.
Ebenfalls sehr ausführlich hatte ich das Gelände um die Eisenbahnkreuzung herum beschrieben. Dabei hatte ich als eine Möglichkeit empfohlen, eine zweite Pause beim Heurigen Schauaus einzulegen. Die andere Variante bestand darin, am Ende des Weges von Retz die Straße zu überqueren. Von dort aus führte der weitere Weg zunächst ein Stück hinter den Kellern entlang. Kurze Zeit später trat er dann in völliges Walddickicht ein.
Neben mir am linken Fenster zog Hofern vorbei, die kleinste der fünf Retzer Katastralgemeinden. Mit ihrer leicht zählbaren Häuseranzahl und ihrer Muldenlage wirkte sie besonders stark eingeschneit.
Der Zug hatte ohne anzuhalten den unscheinbaren Eisenbahnhaltepunkt am Ortsrand passiert. Kurz darauf befand er sich auch schon wieder auf freiem Feld. Der Wald war inzwischen an den Horizont gerückt. An seine Stelle waren stattdessen die schneebedeckten Windmühläcker getreten.
Kurze Zeit später kam der Wald wieder etwas näher heran, fast bis an den Gleiskörper. Nach einem weiteren kurzen Streckenabschnitt entfernte er sich wieder ziemlich weit nach hinten.
Mir kam die Idee, mir etwas zu Essen und zu Trinken zu holen, bevor die Fahrt auch schon wieder vorbei war. Ich stand von meinem Platz auf und bewegte mich in Richtung Barwagen.
Kapitel 51. 16. 1. 6.: Im Barwagen
Im Barwagen hielten sich an die 30 Personen auf, als ich ihn betrat. Die meisten von ihnen standen an den runden Stehtischchen. Überall im Raum waren diese im Boden verankert. Gegen Ende des Wagens befand sich ein kleines Buffet. Es bestand aus drei Kunststoffwänden. Sie waren an die rechte Waggonwand drangebaut worden, bildeten so einen eigenständigen Raum im Waggon. Dieser war nur etwas weniger breit als der Waggon selbst. An der linken Waggonwand führte daher nur ein schmaler Gang in den hinteren Teil des Partyraumes. In dem Gang befand sich auch das Ausgabefenster des Buffets. Mehrere Gäste mit Flaschen und Semmeln in der Hand standen ringsherum.
Die Frau im Buffetraum stellte gerade leere Flaschen in die Kästen zurück, als ich am Fenster ankam. Es klirrte dabei ziemlich laut. Neben den Kisten mit den leeren Flaschen befanden sich mehrere Stapel mit vollen Getränkeflaschen. Drei Sorten wurden angeboten. Ganz hinten standen Kisten mit Mineralwasser aus dem Waldviertel. Daneben Vitus-Bier und -Orangenlimonade aus Laa an der Thaya ungefähr 30 Kilometer von Retz entfernt im östlichen Weinviertel. Rechts neben der kleinen Spüle standen zwei Kisten mit belegten Semmeln. In einer befanden sich Wurstsemmeln und in der anderen Käsesemmeln.
Auch auf dem Thekenbrett im Ausgabefenster stand ein Teller mit Wurstsemmeln und einer mit Käsesemmeln. Daneben befanden sich die Selbstbedienungssachen für die Kaffeetrinker. Links eine Porzellandose mit Würfelzucker, rechts eine angebrochene Flasche Maresi-Kaffeemilch.
Die Frau bemerkte mich. "Woas deaf 's sein?" fragte sie mich.
"Ein Bier, bitte."
Sie nahm ein Vitus-Bier aus dem Kasten und stellte es auf das Brett. Fast gleichzeitig nahm sie einen Flaschenöffner aus der Ablage darunter hervor und setzte ihn an den Flaschenhals an. Es zischte beim Öffnen. Klappernd sprang der Metalldeckel davon.
Ich nahm mein Portemonnaie aus der Innentasche meiner Jacke. Nachdem ich es geöffnet hatte, gab ich einen Schein hin. Die Verkäuferin nahm ihn entgegen und holte ihr eigenes Portemonnaie aus der Tasche. Es war eines jener breiten, schwarzen Kellnerportemonnaies, in dem sich viel Kleingeld zum Wechseln befand. Sie gab mir das Wechselgeld, ich ließ es in meinem eigenen Portemonnaie verschwinden und nahm die Flasche.
Gemeinderat Zeilinger aus Unternalb tauchte in seiner Schaffneruniform neben mir auf. "Servas. Und tuast wieda berichten?" fragte er.
"Hallo, Manfred. Nein, nein, berichterstattungsmäßig ist für dieses Jahr schon alles erledigt. Unsere nächste Ausgabe erscheint erst Anfang der zweiten Jännerwoche."
Herr Seitenstetter, der Besitzer des Inneneinrichtungsstudios in der Lehengasse, kam mit seiner Frau an mir vorbei. "Frohes Fest und alles Gute zum Neuen Jahr", wünschte er mir im Gehen.
"Ja, danke, Ihnen beiden auch!" Das Paar blieb dann neben mir stehen und begann mit Gemeinderat Zeilinger zu sprechen.
Kurz darauf kamen Stadtrat Pflügl und der Gewerkschaftsvorsitzende Prey am anderen Ende des Wagens zur Tür herein. Sie steuerten direkt auf die Runde zu, die sich gerade neben dem Buffet gebildet hatte. Da angekommen, schickten sie sich als Nächstes an, mich zu begrüßen, da sie Zeilinger und Seitenstetters offenkundig vorher schon gesehen hatten.
Ich ging ihnen einen Schritt entgegen. "Herr Stadtrat, Herr Obmann ..."
"Begrüße Sie, Herr Redakteur", antwortete Prey. Hatte ich also auch einen Titel, resümierte ich.
Kurz darauf hielt jeder in der Runde irgend eine Flasche zu Trinken in der Hand. Der Gewerkschaftsvorsitzende hielt seine Mineralwasserflasche in die Luft. "Also, zum Wohl!" brachte er einen Trinkspruch aus.
"Zum Wohl!" antworteten im Chor alle anderen.
Kapitel 51. 16. 1. 7.: Von Niederfladnitz nach Pleissing-Waschbach
Draußen vor den Fenstern zog gerade der Anfang des Bahnhofsgeländes von Niederfladnitz vorbei. Rechts erschienen die Lager mit den zersägten Holzstämmen. Auf ihrer Oberfläche lagen an die 30 Zentimeter Schnee. Ein kleiner, umzäunter Garten schloss sich an. Unmittelbar neben ihm begann das eigentliche Bahnhofsgebäude.
Ich erinnerte mich, wie ich für meine Thayatalreportage auch Fotos von der Ruine Kaja gemacht hatte. Bei dem Punkt hatte ich auch darauf hingewiesen, dass die Ruine vom Ort aus ungefähr eine halbe Stunde Fußmarsch in den Wald hinein entfernt lag.
Kurz darauf hatte der Zug den Ort schon wieder verlassen und fuhr über verschneite Äcker. Eine Reihe altmodischer Telegraphenmasten zog sich quer über das Feld. Sie übersprang das Gleis und setzte sich auf der rechten Seite des Zuges fort. An mehreren Stellen hatten ein paar Vögel auf ihren Drähten Platz genommen.
Der Zug fuhr über eine Gleiskurve. Hinter ihr tauchte am Schienenrand eine Reihe aus Brettern genagelter Schneezäune auf. Ich erinnerte mich, wie ich Schneezäune dieser Machart das letzte Mal als Kind gesehen hatte.
Der Zug näherte sich wieder einem kleinen Waldstück. Als er an seinem Rand angekommen war, tauchte unweit der Gleise ein mannshohes Kreuz auf. Seine Jesusfigur war dem Aussehen nach erst kürzlich frisch vergoldet worden.
Kapitel 51. 16. 1. 8.: Von Pleissing-Waschbach nach Weitersfeld
Eine kurze Zeit später erschien ebenfalls links des Zuges das kleine Waldstück mit dem kuriosen Namen Brennholz. Das bedeutete, dass Waschbach in unmittelbarer Nähe lag. Direkt hinter ihm kamen dann links Pleissing und rechts Waschbach.
Nachdem der Zug den Doppelbahnhof Pleissing-Waschbach durchfahren hatte, ging es hinter ihm über das Fronsburger Feld.
Kapitel 51. 16. 1. 9.: Von Weitersfeld nach Oberhöflein
Weitersfeld. Der Zug durchquerte den Bahnhof ohne anzuhalten. Mir fiel dabei auf, dass er wie fast alle Bahnhöfe entlang der Strecke ziemlich originalgetreu im Stil der Zeit seiner Errichtung erhalten war.
Links tauchte der Ort auf, auf einen Hügel hinaufgeschoben und halb hinter einem Wald versteckt liegend. Vom Zug aus wirkte am dominierendsten der barocke Kirchenbau. Ich erinnerte mich dabei an meinen Artikel über die Geschichte der Bahnlinie hier. Ich hatte dabei auch immer ein bisschen was über die Geschichte des jeweiligen Ortes geschrieben. Als Sehenswürdigkeiten zu Weitersfeld hatte ich die barocke Pfarrkirche und das Schloss Fronsburg erwähnt.
Der Zug hatte den Ort und die unmittelbare Ortsnähe bald wieder verlassen. Der ziemlich finstere Fichtenwald war der nächste Abschnitt der Fahrt. Mehrere aus Brettern und Rundhölzern zusammengenagelte Hochstände waren in ihm vom Zug aus zu sehen.
Als nach einer gewissen Zeit parallel zum Schienenstrang der Fugnitzbach auftauchte, erinnerte ich mich, dass das der Sulzwald war.
Hinter dem Ende des Waldes zweigte vom Fugnitzbach der Nesselbach ab. Wie ich von der Landkarte wusste, würde er bis zum "Anglerparadies Hessendorf" neben dem Zug herlaufen.
Kapitel 51. 16. 1. 10.: Von Oberhöflein nach "Anglerparadies Hessendorf"
Oberhöflein. Außer der kleinen Wartehalle auf der linken Seite war vom Ort wie immer weit und breit nichts zu sehen. Auf der rechten Seite tauchte indes bereits eine Zunge der Seen des "Anglerparadieses Hessendorf" auf.
Während der Zug den Ort wieder verließ, dachte ich wieder an meinem Bahnstrecken-Artikel. Als architektonische Sehenswürdigkeit zu Oberhöflein hatte ich das aus dem Jahr 1221 stammende Schloss angeführt.
Kapitel 51. 16. 1. 11.: "Anglerparadies Hessendorf"
Nach etwa weiteren fünf Minuten erreichte der Zug die Station "Anglerparadies Hessendorf". Automatisch dachte ich auch hier wieder an meine Bahnlinien-Reportage. Ich hatte erwähnt, dass das Gelände über vier Teiche verfügt. In ihnen gab es Forellen, Saiblinge, Karpfen, Schleie, Welse, Zander und Hechte. Betrieben wurde die Anlage von einer Familie aus Oberhöflein. Ich war auch kurz auf die Geschichte der Fischzucht im Waldviertel allgemein eingegangen. Ich hatte geschrieben, dass es sie in dieser Gegend seit dem 13. Jahrhundert gab. Sie war im Hoch- und Spätmittelalter von den Äbten der zahlreichen Klöster zu einem der damals bedeutendsten Wirtschaftszweige gemacht worden.
Der Zug fuhr direkt am Ufer entlang. Das zugefrorene Wasser war nur ein paar Schritte entfernt. Ich erinnerte mich, wie ich im Sommer im Vorbeifahren mal das Geschehen am See beobachtet hatte. Etliche Angler grillten und verzehrten mit ihren Angehörigen selbst gefangene Fische gleich am Ufer.
Am Uferrand zogen einige von den rustikalen Tischen mit den beidseitig eingebauten Bänken vorbei. Aufgrund des Schnees sah man im Moment die längsseitig gespaltenen Baumstämme nicht, aus denen sie errichtet worden waren. Kurz darauf folgte hinter einem Gebüsch am Gleisrand die kleine Holzhütte für die gastronomische Versorgung. Wie alles rundherum war sie ebenfalls ziemlich tief eingeschneit. Nur an den äußersten Kanten des kleinen Satteldachs schimmerte ein wenig das Rot der Dachziegel hindurch.
Kapitel 51. 16. 1. 12.: Hessendorf
Kurz darauf schloss sich Hessendorf selbst an. Da es sich um Äns' Wohnort handelte, musste ich spontan an ihn denken. Ich erinnerte mich an die bizarre Geschichte, die er mir am Tag zuvor aufgetischt hatte. Wie jeden Tag hatten wir uns in der großen Pause getroffen, diesmal das letzte Mal vor den Ferien. Von hakenkreuzförmigen Funkwellen hatte er mir erzählt, ausgesandt von einer Diamantenmiene in Südafrika. Aufgefangen würden sie von einem grotesken Dämonenwesen in Linz. Dieses wache dort am Eingang der VOEST-Werke darüber, dass keine feindlich gesonnenen Aliens die Stahlfabrik betreten.
Noch extremer war die Geschichte, die er mir am Tag davor aufgetischt hatte, nämlich dass er schon einmal in das Ansaugrohr eines angeschalteten Staubsaugers reinonaniert habe, um mal diese erotische Technik auszuprobieren.
Ich dachte auch daran, wie ich mich am Anfang gegen seine "Offenbarungen" noch gewehrt hatte. Diese bewegten sich geistig einfach in so extremen Dimensionen, dass ich jedes Mal das Gefühl hatte, es würde mir den Schädel in Tausend Stücke zersprengen. Aber irgendwann kam dann der Knackpunkt, der alles ins Gegenteil verkehrte. Seither war ich süchtig nach seinen "Weisheiten".
Draußen vor dem Fenster tauchten alte Scheunen am Dorfrand auf. Teilweise waren sie ganz in Holz gebaut, teilweise in der Kombination Holz und Gestein.
Der Ort war rasch wieder vorüber. Hinter ihm ging es vorbei an verschneiten und leeren Schafweiden und vereinzelten Bauernhäusern.
Schließlich kam der Ortsrand von Langau in Sicht. Im Waggon entstand allgemeiner Aufbruch. Ich gab meine inzwischen leere Bierflasche der Frau hinter der Theke zurück und bewegte mich in Richtung Ausgang.
Kapitel 51. 16. 1. 13.: Ankunft in Langau
Vor der Tür standen bereits mehrere Leute. Kurz nachdem ich angekommen war, verlangsamte auch der Zug seine Fahrt. Wenige Sekunden später kam er ganz zum Stehen. Irgendjemand vor mir in der Reihe öffnete die Tür und verließ den Wagen.
An der gesamten Länge des Zuges stiegen gleichzeitig Fahrgäste aus. Die ersten überquerten bereits das mit Erde aufgefüllte und für Fahrgäste betretbare Abstellgleis zwischen Zug und Bahnhofsgebäude. Als ich ebenfalls zum Bahnhofsgebäude hinüberging, erinnerte mich der Bahnhof wieder einmal aus irgendwelchen Gründen an die Bahnhöfe aus Westernfilmen.
Ich blieb am rechten Rand des Bahnsteigs hinter dem Bahnhofsgebäude stehen, gleich neben dem Weihnachtsbaum. Ein ÖBB-Beamter in Dienstuniform verließ das Gebäude. Er ging in Richtung des Bahnübergangs direkt neben dem Bahnhofsgelände. Dort angekommen, begann er mit Hilfe einer altmodischen Kurbelvorrichtung die Schranken händisch zu öffnen.
Das zu einer solchen Anlage gehörende mechanische Klingeln ertönte, als die Schranken nach oben gingen.
Geradeaus rief gleich darauf der Gewerkschaftsvorsitzende den Gästen zu: "Meine Damen und Herren, ich darf Sie jetzt bitten, mir ins Stadtzentrum zu folgen!"
Die Gästemassen setzten sich in Bewegung in Richtung Bahnhofsausgang hinter der linken Gebäudeecke. Im Vorbeigehen fiel mir an der Hauswand ein im historischen Stil renoviertes Schild auf. In alten deutschen Lettern stand darauf geschrieben: Wartesaal. In unmittelbarer Nähe davon befand sich ein moderneres Schild im blauen ÖBB-Standard-Design. Es machte auf den Bahn-Fahrradverleih aufmerksam, den es auch an diesem Bahnhof gab.
Ein Stück hinter dem Bahnhofsgebäude tauchte ein Gasthaus mit Namen "Herzog" auf. Es handelte sich dabei um eines jener typischen alten Gasthäuser mit dem Eingang genau in der Ecke.
Gleich neben dem Gasthauseingang befand sich die Haltestelle für die Überlandbusse. Sie war einzig und allein erkennbar an einem transportablen Ständer für das Bushaltestellenschild.
Hinter dem Gasthaus und der Haltestelle zog sich die Landstraße entlang. Der Gästestrom war auf ihr bereits nach links abgebogen.
Kapitel 51. 16. 1. 14.: Auf dem Christkindlmarkt
Nach ungefähr einer Viertelstunde erreichte der Zug der Fahrtteilnehmer den Marktplatz von Langau. Entlang der Ränder des Platzes befanden sich lauter Weihnachtsmarktstände. Wie der Gewerkschaftsvorsitzende bereits angekündigt hatte, waren sie anlässlich der Fahrt noch einmal außerplanmäßig geöffnet worden.
In der Mitte der linken Platzhälfte standen neben dem Gewerkschaftsvorsitzenden und Stadtrat Pflügl ein paar Männer. Dem Anschein nach handelte es sich um die Langauer Gemeindevertreter.
Nachdem schließlich alle der Fahrgäste einen Ring um die Zugveranstalter gebildet hatten, begann der Gewerkschaftsvorsitzende eine Rede zu halten: "Werte Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Sonderzuges der Gewerkschaft der Eisenbahner! Es freut mich, dass ich Sie heuer hier zum Christkindlmarkt in Langau begrüßen darf. Wir haben für Sie das Offenhalten aller Stände erwirkt. Sehen Sie sich in aller Ruhe um. Es gibt verschiedene weihnachtliche Bäckereien; und als Mittel gegen die winterlichen Temperaturen halten die veranstaltenden Langauer Geschäfte und Vereine für die Kinder Punsch und für die Erwachsenen Glühwein bereit. Die Waldviertler Grenzlandkapelle Hardegg wird für Sie dann auch noch ein paar Weihnachtslieder zur Einstimmung auf den heutigen Abend spielen. Ich sehe schon, die Musiker sammeln sich gerade da unten und nehmen schon Aufstellung.
Es freut mich auch, dass sich auch der Bürgermeister der Stadt Zeit genommen hat, Sie heute hier persönlich zu begrüßen." Und an die einheimischen Gemeindevertreter gewandt: "Geschätzter Herr Bürgermeister, geschätzte Stadt- und Gemeinderäte! Ich darf mich im Namen der Teilnehmer des Christkindlzuges recht, recht herzlich für die Einladung hier nach Langau bedanken!" Wieder in Richtung Fahrgäste sehend, begann er seine Rede abzuschließen: "Ihnen, meine Damen und Herren, darf ich nun noch einen schönen Weihnachtsabend, eine schöne Heilige Nacht und schöne Feiertage wünschen und übergebe nun an den Herrn Bürgermeister."
Beifall war zu hören. Als er zu verebben begann, trat der Bürgermeister nach vorn, um seine Rede zu halten.
"Meine geschätzten Damen und Herren, liebe Kinder! Es ist für mich eine große Freude, Sie heute hier in Langau begrüßen zu können. Sie kommen von Retz rauf, Ihnen Langau vorzustellen, wäre wohl überflüssig. Gestatten Sie mir aber dennoch zumindest ein paar Worte zu dem Platz, an dem wir uns hier befinden. Es ist dies eine der historisch bedeutsamsten Stellen unseres gesamten Gemeindegebietes. Wenn Sie zum Beispiel einmal in diese Richtung hinab sehen, so erblicken Sie dort unseren Postgasthof, in dem Karl VI. 1713 auf seiner Krönungsfahrt nach Prag abstieg. Ebenfalls verweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auf die Statue des Heiligen Nepomuk, welche 1728 der damalige Postmeister dort errichten ließ.
Hinweisen könnte man jetzt sicherlich noch auf so Manches, doch genug der Vorrede. So möchte auch ich wie vor mir der Herr Obmann am Ende seiner Rede Ihnen allen, meine Damen und Herren, die Sie jetzt hergekommen sind, ein gesegnetes Weihnachtsfest wünschen und für das kommende Jahr viel Glück, Gesundheit und Freude, und verbringen Sie einige schöne Viertelstunden hier in Langau. Alles Gute!"
Wieder machte sich Beifall breit. Danach begann sich die Ansammlung aufzulösen. Die meisten der Gäste gingen sofort zu den Ständen am Rande des Platzes.
Kapitel 51. 16. 1. 15.: In der Kirche
Ich hatte mich zunächst an den Ständen umgesehen und an einem auch eine Papiertüte mit Plätzchen gekauft. Danach war mir die Idee gekommen, die Kirche anzusehen. Ich verließ daraufhin den Marktbereich. Währenddessen hatte im Hintergrund ein Weihnachtsmann gerade damit begonnen, Kleinigkeiten an die Kinder zu verteilen.
An der Kirche angekommen, blieb ich zunächst an der Nepomuk-Statue davor stehen. Auf ihrem Sockel entdeckte ich eine alte lateinische Inschrift. Ich versuchte, sie zu deuten, was mir jedoch aufgrund meiner fehlenden Kenntnisse nicht möglich war. Danach stieg ich die Treppe zu der kleinen Anhöhe hinauf, auf der das Kirchengebäude lag. Währenddessen fiel mir auf, dass die Kirche ursprünglich in gotischem Stil errichtet und später barockisiert worden war.
Oben angekommen, begann ich damit, auf dem Weg direkt an der Außenmauer des Gebäudes nach dem Eingang zu suchen. Die Kirchturmglocke schlug dabei gerade mit einem ziemlich dumpfen, statischen Klang Halb Zwei. Das Gebäude war über ein unscheinbares Portal an der dem Markt abgewandten Seite zu betreten, wie ich nach ein paar Augenblicken bemerkte. Ich gelangte zunächst in den üblichen Vorraum, nachdem ich die Tür geöffnet hatte.
Das Kirchenschiff dahinter war völlig leer, als ich es betrat. Ich machte das Weihwasserkreuz und den Kniefall in Richtung Altar. Danach ging ich zum Altar, um mir die weihnachtliche Dekoration anzusehen, wie sie seit Adventsbeginn mit jeweiligen Variationen in jeder Kirche zu finden war.
Der gesamte Hauptaltar war mit allen möglichen Gestecken in symmetrischer Anordnung geschmückt worden. Auch an den Seitenaltären im Halbdunkel der Apsis befanden sich überall Tannengrün und Tannengestecke. Inmitten all dessen stand das kleine, rot leuchtende Ewige Licht. Es erzeugte auf eine nicht näher beschreibbare Weise etwas ziemlich Mystisches. Es waren vor allem der Komplementärkontrast Rot-Grün und das ungewisse Halbdunkel, die zu diesem Eindruck beitrugen.
Rechts neben dem Altar standen die Weihnachtskrippe und der Weihnachtsbaum. Die Krippe bestand aus etwas größeren Figuren, so wie sie in Kirchen allgemein üblich waren. Die Figurenumgebung als einzig wandelbares Element von Krippen war eine Höhle. Die Heilige Familie, die drei Könige, die Hirten und die Engel waren vor ihr aufgereiht worden. Der Gesamthintergrund der Anlage war ebenfalls wieder mit Tannengrün ausgekleidet. Vor der Szenerie standen links und rechts zwei Kerzen auf langen Ständern.
Als ich die Kirche wieder verlassen hatte, kam mir die Idee, den Rest des Aufenthaltes dazu zu nutzen, einen Gang nach Hessendorf zu machen und wieder zurück.
Kapitel 51. 16. 1. 16.: In Hessendorf
Die niedrigen, einstöckigen Bauernhäuser der Hessendorfer Hauptstraße mit den fast unverhältnismäßig hohen Dächern lagen wie ausgestorben da. Für die Straßen galt dasselbe. Nicht ein einziger Mensch war mir begegnet, seitdem ich die letzten Häuser an der Ausfallstraße von Langau passiert hatte. Beim Gehen knarrte gelegentlich leise der Schnee unter den Stiefeln. Es war das einzige klar erkennbare Geräusch in weitem Umkreis. Ansonsten herrschte Totenstille.
Als ich am Ende des Dorfes angekommen war, beschloss ich, noch bis zum Waldrand weiterzugehen. Ein Weg zweigte von der Hauptstraße ab, der offenkundig in Richtung Wald führte. Mehrere Reihen von Fußspuren zogen sich auf ihm entlang. Nachdem ich ihn ein paar Meter weit gegangen war, versank ich gleich erst einmal ein Stück weit im Schnee.
Kurz darauf lagen auch die letzten Häuser der Ortschaft vollkommen außer Sichtweite. Zu beiden Seiten des Weges erstreckte sich ein ziemlich weites, völlig schneebedecktes Feld. Erst am Horizont wurde es auf beiden Seiten von den Ausläufern des Waldes begrenzt. Der geradeaus bereits in relative Nähe gerückt war.
Der Schnee hatte nahezu jede Bodenvegetation zugedeckt. Nur vereinzelt ragte am Wegesrand ein Büschel hohen Grases heraus.
Völlige Stille herrschte nach wie vor. Nur ab und zu wurde sie durchbrochen von einem Schwarm Krähen, der laut krächzend am Himmel vorbei flog.
Ich erreichte den Beginn des Waldes. Bäume tauchten auf, von denen vereinzelt Eiszapfen herunterhingen. Die Fußspuren, die den ganzen Weg über geradeaus geführt hatten, zweigten nach rechts zum "Anglerparadies" hinunter ab. Der Schnee auf dem Weg nach links den Hügel hinauf war noch unberührt. Ich entschied mich für diese Richtung.
Links, an der Seite zum Feldweg, zogen ein paar verschneite Stapel klein gesägter Holzstämme vorbei. Unmittelbar hinter ihnen folgten junge Tannen, auf deren Zweigen die Schneemassen besonders dicht lagen.
Ohne dass es mir vorerst aufgefallen war, hatte ich auf dem Berg für die kurze Zeit bereits eine ziemlich weite Strecke zurückgelegt. Länger schon war ringsum nichts weiter zu sehen gewesen als Wald. Winterliche Nachmittagssonne schien durch die Äste. Aufgrund der Abgeschiedenheit des Geländes reichte mir der Schnee inzwischen bis zu den Knien. Tierspuren tauchten auf, die sich in beiden Richtungen quer über den Weg zogen.
Irgendwann blieb ich stehen und sah auf die Uhr. Ich beschloss, umzudrehen, damit ich rechtzeitig am Langauer Bahnhof ankam.
Eugen, Gabriele, Nicole, ich danke Euch, auch wieder für die vielen Bild-Likes!
Herzliche Grüße aus Wien
Christoph