Attention! Attention! Taureau! - Aigues-Mortes im Oktober
Kaum zu glauben, dass es vor etwa 800 Jahren ein Frankreich gab, das keinen Zugang zum Mittelmeer hatte. Etwa an der Rhone traf damals das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ direkt auf das spanische Königreich Aragon.
Im Jahr 1240 übernimmt der französische König Louis IX. (Ludwig der Heilige) das Oberkommando in dem von Papst Innocent IV. ausgerufenen Kreuzzug. Und weil es dabei um eine vermeintlich gute Sache geht, müssen die politischen Machtkämpfe in der Christenheit zurückstehen und König Louis bekommt seinen französischen Hafen am Mittelmeer. Die damalige Bezeichnung „Aquae Mortuae“ gibt einen deutlichen Hinweis auf das vorhandene Sumpfgebiet. Die Befestigungsanlage beginnt mit dem Turm „Tour de Constance“, die 1634 Meter lange Stadtmauer wird nach den Plänen des Königs aber erst lange Zeit nach dessen Tod zu Beginn des 16. Jahrhunderts fertiggestellt. Die gewaltige Mauer mit ihren Toren ruht auf einem Fundament aus Eichenpfählen.
Heute liegt die Stadt wegen der Verlandung etwa 6 Kilometer vom Meer entfernt, ist aber mit diesem durch einen breiten Kanal verbunden. Als Marseille französisch wurde, überflügelte diese Hafenstadt ganz schnell das kleine Aigues-Mortes in seiner Bedeutung. Was aber der ursprünglichen Schönheit keinen Abbruch tut. Die Vegetation in der Stadt ist sehr südländisch, überall trifft man auf Palmen, Pinien, Olivenbäume und zahlreiche andere Ziergehölze.
In jedem Oktober treffen sich hier die Stier- und Pferdezüchter der Camargue zu ihrem großen Fest. In diesem Jahr war die Festwoche vom Samstag, dem 05. Oktober bis zum Sonntag, dem 13. Oktober mit drei Tagen Nachlese am darauf folgenden Wochenende am 18./19./20. Oktober.
An jedem dieser Tage hallt der Warnruf aus zahlreichen Lautsprechern durch das gesamte Stadtgebiet. Mit einer Ansage in mehreren Sprachen wird dazu aufgefordert, sich hinter die Absperrgitter zu begeben, dann erfolgt ein Kanonendonner und unter Fanfarenklängen heißt es ständig „Attention! Attention! Taureau!“ Das geschieht zweimal am Tag, mittags zwischen 11 und 13 Uhr und abends zwischen 17 und 19 Uhr.
Dann ist eine Straße, die sich zuerst durch die Neustadt schlängelt und dann schnurstracks durch die Altstadt bis zur Arena außerhalb verläuft, durch stabile Gitter eingefasst. Am Mittag galoppieren dort die Camargue-Hirten mit kleinen Herden von außerhalb in die Stadt zur Arena, am Abend geht es den umgekehrten Weg. Dann treiben die Hirten etwa alle 10 Minuten einen Jungstier von der Arena durch die Stadt zum Gatter am Stadtrand. Unterwegs lauern Gruppen von etwa 5 jungen Burschen auf den Stier, versuchen diesen zu packen und niederzuringen. Was da als Sport betrieben wird, könnte man auch als Tierquälerei ansehen. Die Gruppen kommen von überall her aus dem Gebiet der Camargue, sogar noch aus den größeren Städten Montpellier, Nimes und Arles. Die Jugendlichen tragen bedruckte T-Shirts mit dem Phantasienamen ihrer Gruppe, ebenfalls mit diesen T-Shirts ist ihr Anhang ausgerüstet, Freundinnen und Freunde und Familienangehörige. Einige Gruppen haben ein fahrtüchtiges Schrottauto mit einer Plattform auf dem Dach versehen und dröhnen laut aber langsam durch die Straßen.
Die Gitter, die zweimal am Tag für zwei Stunden zahlreiche Straßen für die Autofahrer blockieren, können über das gesamte Fest hin sehr lästig werden. Zum Beispiel konnte man die Straße mit unserer Ferienwohnung nur wegen eines freizügigen Tricks der Stadtverwaltung erreichen – an der langen, kaum für ein Auto breiten Einbahnstraße an der Friedhofsmauer entlang wurden einfach alle Schilder abmontiert. Ein Albtraum, wenn man da durch musste. Hoffentlich kommt gerade niemand entgegen.
Die Pferdehirten der Camargue, die Guardians, haben wenig mit den Cowboys der Prärie gemeinsam. Bei ihnen sind die Sporen an Gummistiefeln befestigt und die Steigbügel sind wasserpraktische Drahtkörbchen. Ausgerüstet sind sie mit Hut, Regencape und einem langen Stock. Nach ihrem Einsatz im Gelände, besonders, wenn die Nässe auf den Pferden und den Reitern eintrocknet, bleibt ein hellgrauer Überzug aus Sand- und Schlammpartikeln zurück. Den geübten Hirten mit den geschickten Pferden gelingt es, aus einer Herde einen Stier auszusondern, ohne ihn vorher einzufangen oder mit dem Stock zu dirigieren. Ich denke, dass meine spätere Erklärung dieses Vorganges als Sprachunkundiger von den Franzosen verstanden wurde. Zumindest haben sie sich gekugelt vor lachen. Ich habe wie ein Fußballer ein paar täuschende Übersteiger gemacht und nur „Ribéry“ gesagt. Genau so täuscht das Pferd mit seinen Vorderläufen eine Bewegung an und dirigiert damit das Rind in die gewünschte Richtung.
Der französische Stierkampf ist unblutig. Der Torero muss von den Hörnern des Stieres oder zwischen den Hörnern befestigte Kokarden abpflücken. Im Dorf St.-Laurent-d'Aigouze war auf dem Dorfplatz eine kleine Arena aufgebaut, laut den Plakaten finden dort Ende Oktober – wie auch noch in anderen Dörfern - Wettkämpfe zwischen einzelnen Manaden, den Stierzuchtbetrieben in der Camargue, statt. Mit einer Fotogalerie wurde den mutigsten Toreros aus 150 Jahren gedacht, auf einer Bretterwand waren die Brandzeichen der Manades eingebrannt.
Der Festmontag war der Tag mit dem Höhepunkt der Veranstaltung. Schon frühmorgens strömten die Menschenmassen stadtauswärts zu einem Kanal in der Nähe der Stadt. Besuchergruppen hatten ihre alten Autos am Ufer entlang platziert, um von den Dächern herunter eine bessere Sicht zu haben. Dazwischen bruzzelten auf den Grills Meeresfrüchte und Bratwurst und der obligatorische Behälter mit den 5 Litern Rotwein war überall in Betrieb. Mein Standpunkt war leider für ein Foto ungeeignet, als die Guardians zuerst eine Pferdeherde und dann eine Rinderherde in vollem Galopp durch den Kanal getrieben haben, das steile Ufer hinab und drüben wieder hinauf. Einige besonders Verwegene hatten sich mit selbstgebauten Wasserfahrzeugen auf den Kanal gewagt, um dem Geschehen möglichst ganz nahe zu sein. Für manchen dieser Mutigen bedeutete das aber auch ein unfreiwilliges Bad, als sein Fahrzeug im durch die Herde aufgewühlten Wasser kenterte.
Die Camargue ist ein einzigartiges Naturschutzgebiet. Außer der Rinder- und Pferdezucht gibt es dort die Weingüter, die den Sandwein produzieren. Der Name kommt daher, dass die Weinstöcke auf dem Sandboden in Meeresnähe wachsen. Außerdem werden je nach Saison noch Spargel und Reis angebaut. Überall sieht man die Flamingogruppen, wie sie die Wasserbecken nach Nahrung durchsieben, riesige Salzberge zeugen von der Salzgewinnung, wobei man das Meerwasser in flachen Wasserbecken verdunsten lässt.
Auf Schritt und Tritt begegnet man dem dreiteiligen Zeichen der Camargue-Bewohner - oben ein Kreuz für die Frömmigkeit, darunter ein Herz für die Menschlichkeit und unten die Ankerhaken als Zeichen für die Bodenständigkeit.
Bürgerreporter:in:Hansheinrich Hamel aus Kirchhain |
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