Auf den Spuren Heinrich Heines durch das Ilsetal zum Sonnenuntergang auf den Brocken
Es gibt viele Wege, die auf den Brocken führen. Erst im oberen Bereich des Berges vereinigen sie sich, werden am Brockenbett, an dem die Ilse entspringt, an der Hermannsklippe über dem Eckerstausee und dort, wo der Goetheweg vom Torfhaus heraufkommend die Brockenbahn kreuzt, auf zwei reduziert. Ab den genannten Stellen gibt es nur noch den Schlussanstieg von Süden über die breite Brockenchausee oder den von Norden über den Hirtenstieg.
Wir haben uns an diesem besonderen Tag bei meiner 35. Brockenbesteigung für den Weg von Ilsenburg herauf durch das gleichnamige Tal, den Heinrich-Heine-Weg, entschieden, der von dessen Nordseite auf den Hexenberg führt, und der an den Felsen der Hermannsklippe auf den Hirtenstieg treffen wird. Starten wollen wir von Ilsenburg aus, einem Ort, der sich nach der Wende wunderbar herausgeputzt hat. Mit seinen Teichen und schön restaurierten Häusern lädt er zum Urlaub machen ein. Man muss nicht unbedingt immer in die Ferne schweifen. Auch vor der eigenen Haustür gibt es allerschönste Flecken.
Hin und zurück werden es von der letzten Parkmöglichkeit neben dem Erlebnispark zu Beginn des Taleinschnittes 23 Kilometer sein. Etwa 900 Höhenmeter müssen wir dabei erklimmen. Für norddeutsche Verhältnisse ist das ganz beachtlich.
Und wir haben uns spontan den perfekten Tag ausgesucht. Das Wetter ist sommerlich. Wir wollen zum Sonnenuntergang oben sein, und in der hellen Vollmondnacht, die kaum von Wolken gestört wird, wird das Thermometer nicht unter 15 Grad sinken. Was wollen wir mehr.
Also am späten Nachmittag um sechs Uhr am Parkplatz die Wanderstiefel geschnürt, den Rucksack geschultert, und schon kann es losgehen. Zunächst noch ein paar hundert Meter Straße an Ferienhäusern und einem Hotel vorbei, dann geht’s sogleich in allerschönste Natur hinein. Und schnell merkt man, dass Heinrich Heine im Jahr 1824 auf seiner Harzreise nicht übertrieben hat, wenn er das Ilsetal zu seinem Lieblingstal im Harz erklärt hat. Zwar ist das Okertal mit seinen Granitfelsen rauer, das Bodetal wilder und gewaltiger. Aber lieblicher ist eben das Ilsetal, und so hat er diesem nach seinem Geschmack die Krone aufgesetzt. Vielleicht hat auf seiner Brockenbesteigung aber auch dazu beigetragen, dass er dort oben eine nette Damenbekanntschaft gemacht hat. Und so etwas kann die Beurteilung schon irgendwie beeinflussen.
Über eine andere Dame hat er in dieser schönen Landschaft sogar ein Gedicht gemacht, nämlich das von der Prinzessin Ilse, die in der Sonne glitzernd und plätschernd das Tal heruntersprudelt. Auch ein Schloss hat er ihr zuerkannt, in das sie den müden Wanderer einlädt. Das ist der sagenumwobene Ilsenstein, ein 50 Meter hoher Felsen, der gleich links am Taleingang emporragt. Es lohnt sich schon, diesen zu besteigen. Nicht nur deswegen, weil man dort oben in einer kleinen Berghütte einkehren kann, sondern vor allem deswegen, weil man von dessen Höhe das ganze Tal vor Augen hat und auch den Weiterweg zum Brocken ausmachen kann. Neben dem gusseisernen Gipfelkreuz hat einst auch Heine gestanden. Allerdings kam er damals vom Brocken herab.
Wir folgen der Ilse zunächst auf deren linken Seite leicht bergauf, bald darauf aber auf der rechten. Und das bis zu der Stelle, wo sie sich in einem scharfen Knick wieder nach Süden wendet und wo der Tiefenbach hinzukommt. Nun folgen wir dem Bremer Weg und damit dem Teilstück des Flüsschens, das am schönsten ist. Es geht nämlich an den Oberen Ilsefällen entlang. Immer wieder plätschert das kristallklare Wasser über Felsstufen, sucht sich sprudelnd um viel Granit herum seinen Weg oder schäumt von größeren Kaskaden herunter. Es findet immer irgendwie seinen Weg. Auch umgestürzte Baumstämme können es nicht aufhalten, und es ist eine Freude, dem Wasser zuzusehen, das an diesem heißen Sommertag so erfrischend wirkt, dass man am liebsten davon trinken möchte. Doch die Wasserflaschen in unserem Rucksack müssen ausreichen. Und immer begleiten uns auf diesem natürlichen, wilden Waldpfad, wo es über Wurzeln und Felsen geht, über Stock und Stein, die schönen Geräusche des Plätscherns und Rauschens, je nachdem wie sich das Flussbett gerade zeigt. Das ist Natur pur, und das macht einfach Freude.
An der Bremer Hütte haben wir das erste Drittel des gesamten Weges hinter uns, und damit verlassen wir diese eindrucksvolle Landschaft, die, wie ich meine, der schönste Abschnitt irgendeiner Brockenbesteigung überhaupt ist.
Am Meineckenberg blicken wir auf einen toten Wald. Der Borkenkäfer hat hier ganze Arbeit geleistet. Grau und kahl ragen die Fichtenstämme in den blauen Himmel. Auch wenn wir uns über eine intakte Tierwelt freuen, so könnte man auf einige Tiere doch gern verzichten. Borkenkäfer und auch Zecken gehören dazu. Doch der Wald hat an diesen Hängen eine Chance. Der vom Menschen dichtgepflanzte Fichtenwald, der in dieser Höhe unnatürlich ist, denn die Fichte wächst im Harz auf natürliche Weise erst ab einer Höhe von etwa 800 Metern, kann sich aus eigener Kraft regenerieren. Ein in Zukunft der Landschaft angepasster Wuchs wird widerstandsfähiger sein.
Ein schmaler, unwegsamer Pfad führt uns zunächst durch einen jungen und dichten Nadelwald weiter. Auf die Füße müssen wir achtgeben, um nicht ins Straucheln zu kommen und die Köpfe müssen wir so manches Mal einziehen, um nicht die nadligen Zweige im Gesicht zu haben. Dann wird der Weg, ein Stück entlang der kleinen Kellebeek, größer. Doch breite und oft auch geradlinige Forst- und Schotterwege machen uns nicht sonderlich viel Spaß. Wir mögen die natürlichen Waldwege wie zuvor im Ilsetal bedeutend lieber.
Weiter oben, an der Hermannsklippe, erreichen wir einen noch unnatürlicheren Weg, auf den in früheren Zeiten Hirtenjungen ihre Schafe und Ziegen zum Brocken hinauf getrieben haben und der deswegen Hirtenstieg heißt. Nur war er zu der Zeit ein ganz gewöhnlicher Bergpfad. Doch nach dem 2. Weltkrieg gab es ein unrühmliches Kapitel deutscher Geschichte, in dem unser Land zweigeteilt war, in Ost und West, in die Bundesrepublik und in die DDR. Zur Zeit des Kalten Krieges standen sich hier zwei Machtblöcke unerbittlich gegenüber, und der Hirtenstieg wurde zum Grenzweg, nur wenig von den Grenzbefestigungsanlagen entfernt, ausgebaut, auf dem Militärfahrzeuge der Volksarmee patrouillierten, die jeden Punkt der Demarkationslinie erreichen konnten. Doch das war Gott sei Dank einmal, und das ist nun länger als ein viertel Jahrhundert her.
Der breite Betonplattenweg, der auch Kolonnenweg genannt wird, mit den vielen Löchern darin, durch die inzwischen Gras wächst, wodurch er etwas schöner wirkt, ist trotz seiner Unnatürlichkeit ein reizvoller Weg. Von Scharfenstein aus überwindet er auf einer Strecke von ca. vier Kilometern einen großen Höhenunterschied. Immerhin über 500 Meter. Zunächst führt er durch den üblichen Fichten-Forstwald. Doch weiter oben, über der Bismarckklippe, geht er in einen natürlichen Zustand über, eines Nationalparks würdig. Licht stehende Fichten und Tannen lassen am Boden genug Platz für Blaubeerkraut und andere Pflanzen. Dazwischen Granitblöcke. Eine wunderbare Natur.
Doch zuvor haben wir noch die Bismarckklippe erstiegen, die in 900 Metern Höhe zwar rechts am Wegesrand, aber leicht im Wald versteckt liegt. Für denjenigen, der einigermaßen gut klettern kann, lohnt sich die Besteigung. Von dort oben hat man einen großartigen Blick über den nördlichen Harz und das Harzvorland. 500 Meter tiefer die blaue Fläche der Eckertalsperre. Dahinter erkennt man den Burgberg mit Bad Harzburg. Weiter nach Osten Ilsenburg, unseren Ausgangspunkt. Dazwischen viel Berglandschaft, und in der Ferne das platt wirkende Land nach Salzgitter, Braunschweig und Magdeburg hin.
Bald darauf, auch über steilere Passagen, an denen so mancher Wanderer an seine Fitnessgrenzen stößt, erreichen wir einen Vorgipfel, den Kleinen Brocken. Er erhebt sich gerade so über die 1000-Meter-Marke. Damit ein flacheres Stück, und nach Überschreitung der Gleise der Brockenbahn, die zu dieser späten Stunde längst nicht mehr fährt, noch ein kleiner Aufschwung. Dann haben wir das kahle Haupt des höchsten Berges weit und breit erreicht, haben wir doch die Baumgrenze überschritten, die wegen des rauen nördlicheren Klimas hier um rund 1000 Meter tiefer liegt als in den Alpen.
Nach drei Stunden Aufstieg – mindestens vier Stunden sollte man als durchschnittlicher Wanderer inclusive Pausen schon einplanen – stehen wir gegen neun Uhr am höchsten Punkt in 1141 Metern Höhe. Auf alten Karten ist noch die Höhe von 1142 Meter verzeichnet. Doch heutige, genauere Messungen haben einen Meter weniger ergeben. Wer dann trotzdem die damals angegebene Höhe erreichen möchte, muss nur noch den kleinen Gipfelfelsen erklimmen, der von der tief stehenden Abendsonne inzwischen rötlich beleuchtet wird.
Wir treffen nur zwei junge Männer und eine Familie an, die vermutlich im Brockenhotel übernachten und einen Abendspaziergang machen. Ansonsten kein Trubel wie an Schönwettertagen. Die Umgebung strahlt eine tiefe Ruhe aus, und das ist sehr angenehm. Einmal war ich an einem Nebeltag sogar der einzige auf dem Gipfel.
Nachdem ich mir hier oben schon mehrere wunderbare Sonnenaufgänge angeschaut habe, möchten wir uns nun jedoch dem Sonnenuntergang widmen. Nach einem Blick über den östlichen Harz und auf Wernigerode mit dem Schloss der Stolberger hinunter, schlendern wir an den Felsgruppen von Teufelskanzel und Hexenaltar vorbei, auf denen zu Goethes Zeiten in der Walpurgisnacht aus dem Faust rezitiert wurde. Und wohl kein anderer hat den Hexenberg, auch wenn er als solcher vorher schon bekannt war, so populär gemacht wie der größte deutsche Dichter. Im Faust hat er ihn mit der Walpurgisszene ein Denkmal gesetzt. Und ein Denkmal von Goethe steht auch neben dem kleinen Wolkenhäuschen, dem ältesten Gebäude auf dem Brocken. Im Jahr 1736 hat es der Graf zu Stolberg-Wernigerode für 17 Taler als Schutzhaus errichten lassen. Nicht nur Goethe hat darin vom anstrengenden Aufstieg Rast gemacht. Auch Heinrich Heine, der Märchenerzähler Hans Christian Andersen, Bismarck und viele, viele andere. Doch die hatten nicht immer, wie wir an diesem Abend, eine 80-Kilometer-Sicht. Das ist für einen warmen Sommertag nicht schlecht.
Nördlich vom Gipfel, etwas unterhalb davon, befindet sich ein Blockmeer aus Granit, das sich den Hang hinunterzieht. Wir setzen uns auf einen der Felsen, packen unsere Picknicksachen aus und schauen auf den Sonnenuntergang. Richtung Goslar etwa sinkt der Sonnenball, immer röter werdend, wie in Zeitlupe dem Horizont entgegen. Und wir sitzen dabei mit leichtem Pullover, und es will überhaupt nicht kalt werden so wie vor fast 200 Jahren, als Heine vom Turm des alten Brockenhotels mit einer elustren Gesellschaft, bestehend aus feinen Herrschaften, Göttinger Studenten und einer reizvollen, jungen Dame auf den Sonnenuntergang blickte. Stumm standen sie allesamt da. Staunend und ehrfurchtsvoll blickten sie auf das eindrucksvolle Naturschauspiel, die Gesichter vom Abendrot angestrahlt. „Es ist ein erhabener Anblick“, so Heine in seiner Harzreise, „der die Seele zum Gebet stimmt.“
Nicht ganz so andächtig, da wir es schon häufig bewundert haben, schauen wir auf den glühenden, roten Ball, wie er mit dem Horizont verschmilzt, bald nur noch halb zu sehen ist, bis schließlich ein winziger roter Punkt übrig bleibt, bevor auch dieser erlischt. Doch natürlich staunen auch wir immer wieder über dieses Naturschauspiel. Nur die beistehenden Fotos können es nicht so wiedergeben, wie es wirklich war. Die Belichtung ist überfordert und zeigt den roten Ball in weißem Licht.
Nun drehen wir uns um 180 Grad und blicken zu den nahen Brockengebäuden hinauf, zwischen denen über spitzen Felsen ein riesiger, blasser und kugelrunder Peterchens-Mondfahrt-Mond aufgeht. Dieser romantische Anblick ist nicht weniger schön, und wieder ist Staunen angesagt.
Doch dann wird es Zeit zum Aufbruch. Zunächst noch in der Dämmerung über den Kleinen Brocken hinüber. Drei große Rothirsche am Wegrand, die uns erstaunt angucken, verschwinden schnell im Unterholz. An der Bismarckklippe geht der Blick auf den Eckerstausee. Wie ein heller Spiegel, von dunklen Wäldern eingerahmt, der das letzte Tageslicht zu uns heraufschickt, liegt er dort unten. Doch hinter der Hermannsklippe wird es dann endgültig dunkel. Und da der Mond aus dieser Perspektive noch hinter den schwarzen Fichten und Tannen steht, müssen wir bald die Kopflampen anmachen. Erst als wir uns in tieferen Regionen dem Ilsetal nähern und dieser höher steigt, haben wir mehr Licht.
Wieder an der Ilse, lassen wir uns auf den Picknickbänken der Bremer Hütte nieder. Die Lichtkegel aus und einfach nur stumm dasitzen und gucken. Was für Eindrücke in dieser Vollmondnacht. Nach Westen hin der Große Wagen, dessen letzte beide Sterne auf den Polarstern zeigen, der uns die Nordrichtung weist. Auch Cassiopeia, das Himmels-W und das Sommerdreieck mit Deneb im Schwan, Wega in der Leier und Atair im Adler sind gut auszumachen. Und über den Brockengebäuden mit ihren roten Lampen steht der Saturn. Doch allzu viel mehr ist am Firmament nicht zu erkennen, überstrahlt der helle Mond doch alles.
Das letzte Wegdrittel geht es wieder über Stock und Stein an der rauschenden Ilse entlang. Wenn wir nicht wüssten, dass es keine Geister gibt, könnte man sie sich in diesem wilden Gelände in einer solchen Nacht gut vorstellen. Schwarze Wurzeln kriechen wie verschlungene Arme über den Boden, als wollten sie unsere Füße packen. Knorrige Fichtenzweige biegen sich zu uns herunter und scheinen nach uns greifen zu wollen. Und immer mal wieder steigen wir ein Stück zum Fluss hinunter und schauen auf das wirbelnde Wasser, auf dem das Mondlicht reflektiert und glitzert. Sputen müssen wir uns nicht, genießen wir doch diese märchenhaft nächtliche Atmosphäre, und wir haben alle Zeit der Welt dazu.
Es ist schon längst nach Mitternacht, als wir die ersten Lichter von Ilsenburg durch die schwarzen Stämme schimmern sehen. Heinrich Heine ist bei hellichtem Tageslicht vom Brocken herabgestiegen. Doch auch in finsterer Nacht hat dieser Weg seine ganz besonderen Reize. Es war eine eindrucksvolle Tour, die uns in Erinnerung bleiben wird. Und beim nächsten Mal werden wir vielleicht wieder zum Sonnenaufgang auf dem Gipfel stehen. Dann werden wir von Hannover dazu schon bald nach Mitternacht aufbrechen. Eine Brockenwanderung lohnt sich zu jeder Tages- und auch Jahreszeit.
Siehe auch:
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Bürgerreporter:in:Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode |
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